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Innenpolitik

„Die Glaubwürdigkeit der SPD tief erschüttert“

Von B. B. | 01.11.2009

Der Brief des designierten Parteivorsitzenden Siegmar Gabriel vom 21. Oktober an ca. 200 SPD-Funktionäre ist nur ein schwaches Echo der Kritik, die ihm von diesen entgegenschlug.

Der Brief des designierten Parteivorsitzenden Siegmar Gabriel vom 21. Oktober an ca. 200 SPD-Funktionäre ist nur ein schwaches Echo der Kritik, die ihm von diesen entgegenschlug.

Der Auslöser für die Krise dieser zutiefst parlamentarischen Partei ist in der katastrophalen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl zu suchen. Der Rückgang von 16 Millionen auf 10 Millionen Stimmen löste eine Welle von Kritik aus, von der die 200 Mails an Gabriel nur die Spitze des Eisbergs sind.
Glaubwürdigkeitsproblem
In seiner Antwort an Mitglieder und Funktionäre schreibt Siegmar Gabriel „die Agenda-Auseinandersetzung in unserer SPD hat wie ein Treibsatz gewirkt […] Themen wie die Rente mit 67 oder auch die Mehrwertsteuererhöhung in der großen Koalition hat die Glaubwürdigkeit der SPD tief erschüttert“.

Auch wenn SPD-Mitglieder häufig nicht von Hartz IV betroffen sind, eine Folge der „Beziehungen“ und des Klientelsystems der Partei, so kennen doch viele in ihrer Verwandtschaft und im Freundeskreis von ALG II Betroffene. Noch stärker ist die Kritik an der Rente mit 67, schließlich sind rund die Hälfte aller SPD-Mitglieder selbst über 65 Jahre alt. 

Groß ist auch die politische Betroffenheit. Früher verteidigten die SPD-Aktivist­­Innen an den Infoständen die neoliberalen Konterreformen noch mit den Argumenten der „leeren Kassen“ und der „Notwendigkeit von Einsparungen im Sozialbereich, um soziale Mindeststandards zu retten“. Das waren brave Parteisoldaten und keine zynischen, abgekochten Politiker­­Innen, die den Botschaften ihrer Parteiführung  Glauben schenkten.

Hier erfolgte der Bruch. Das 100 Milliarden-Euro-Rettungspaket der Großen Koalition CDU/CSU-SPD für Bänker­­Innen und Kapitaleigner­­Innen hat gezeigt, dass diese Argumente erstunken und erlogen waren – oder nur in der neoliberalen Scheinwelt glaubhaft, in der sich die SPD-Parlamentarier­­Innen bewegen.

Es ist nicht etwa ein „Fehler“, wenn die neue, alte SPD-Führung hier keinen Schwenk um 90 oder 180 Grad macht. Es ist auch kein „Fehler“, wenn Siegmar Gabriel in seinem Brief Hartz IV und die Rente mit 67 mit Scheinargumenten verteidigt wie, es gäbe ja auch „Erfolge“ bei der Agenda 2010 (Ganztagsschulprogramm); es sei nur eine vorschnelle Erklärung, die Schuld für den Zustand der SPD bei der Agenda 2010 zu suchen, denn schließlich habe die SPD ihre ersten Landtagswahlen schon vor der Agenda 2010 verloren … Siegmar Gabriel und die SPD-Führung stehen zur Rente mit 67 und zu Hartz IV, weil ihnen die Glaubwürdigkeit der bürgerlichen SPD bei der Bourgeoisie wichtiger ist als die Vermittlungsprobleme einfacher SPD-Aktivist­­Innen auf der Straße. Es geht nicht um „Fehler“, sondern um die bürgerlichen Klasseninteressen, die die SPD vertritt.
Quadratur des Kreises
Um die verlorene Glaubwürdigkeit der SPD-Basis zur Parteiführung wiederherzustellen, plant diese eine „Strukturreform“ der Partei. Denn schließlich, so befindet Gabriel in seinem Brief, sei die Parteiorganisation der letzten 20 Jahre und ihre Ortsvereine und Unterbezirke in einem katastrophalen Zustand, ohne wirkliche Meinungsbildung von unten nach oben, ohne jeden wirklich Einfluss der Mitglieder – die Parteiführung ist allerdings so abgehoben, dass ihr das 20 Jahre lang nicht aufgefallen ist.

Die offizielle Zahl der Ortsvereine – die sich in Großstädten auf den Stadtteil, in Kleinstädten auf den Ort beziehen – als Basisorganisationen der SPD ist in den letzten Jahren von 12 500 auf 10 000 gesunken. Tausende stehen nur auf dem Papier. Inhaltliche Diskussionen sind dort selten. Die Mitgliedschaft fühlt sich von Entscheidungen wie der „Wahl“ Gabriels zum Parteivorsitzenden, die längst öffentlich im handverlesenen Kreis ausgekungelt wurde, übergangen.

Um hier der Kritik entgegenzukommen, bringt Siegmar Gabriel die „Urabstimmung“ bei wichtigen Entscheidungen ins Gespräch. Sicherlich wäre es kaum vorstellbar, das bei einer Abstimmung über die Rente mit 67 oder über Hartz IV z. B. in der SPD-Hochburg Dortmund auch nur in einem der 80 Ortsvereine diese Konterreformen von der Mitgliedschaft gebilligt worden wären. Aber Gabriel erwähnt die Möglichkeit der Urabstimmung nur, um in seinem Brief das undemokratische Entscheidungsmonopol der Parteiführung, dass er als „politische Meinungsführerschaft“ bezeichnet, zu verteidigen.

Zum Schluss greift Herr Gabriel in seinem Brief zu dem Trick, denn noch immer alle Bürokrat­­Innen angewandt haben, wenn die Kritik von unten zu stark wurde: Er appelliert an die Einheit der Partei! Die SPD habe sich in den letzten Jahren in Flügel gespalten und zu wenig einheitlich gehandelt. Dabei tischt er das rührselige Märchen auf: „Deshalb haben wir unter den Jüngeren EIN EINZIGES MAL zusammen gesessen, um uns in die Augen zu schauen und zu sagen: So geht das nicht weiter. Wir müssen und wollen zusammen arbeiten. Danach haben wir Franz Müntefering gebeten, den Prozess zu steuern, was er auch getan hat“.

Nicht nur hatte Müntefering mit seiner Clique für den Sturz des Parteivorsitzenden Beck gesorgt. Die SPD war in den letzten Jahren auch nie in Flügel gespalten, die für unterschiedliche programmatische Inhalte gestanden hätten. Solche Differenzen gab es nicht. Was Gabriel als „Flügel“ bezeichnet sind in Wirklichkeit Cliquen, die versuchen, die eigene Karriere über ihre Netzwerke zu planen bzw. abzusichern. Eine Strukturreform der SPD kann zwar in die Parteiorganisation ein paar neue Stützen einziehen, aber das Gerippe bleibt das alte.

Der beste Beweis für die Reformunfähigkeit der SPD, die strukturell in dem beherrschenden Gewicht der Parteibürokratie bedingt ist, ist das, was Gabriel „Abspaltungen“ nennt. Er meint damit die Grünen und die WASG, die sich aber gerade deshalb außerhalb der SPD gegründet haben, weil eine Reform der sozialdemokratischen Partei von innen unmöglich ist.

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