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Die Geschäfte der Brüder

Von Harry Tuttle | 11.12.2012

In Ägypten wächst die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik der Muslimbruderschaft, die nun offenbar verstärkt religiöse Konflikte schüren will.
„Die Organisatoren kämpfen für ihre eigenen Bedürfnisse, nachdem sie von Satan verführt wurden”, predigte Sheikh Ahmed al-Mahalawy, der Vorsteher der Ibrahim-Moschee in Alexandria. Auch zahlreiche andere Geistliche wetterten in Moscheen im ganzen Land gegen die Protestierenden, die am 19. Oktober 2012 den Tahrir-Platz in Kairo füllten.

In Ägypten wächst die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik der Muslimbruderschaft, die nun offenbar verstärkt religiöse Konflikte schüren will.
„Die Organisatoren kämpfen für ihre eigenen Bedürfnisse, nachdem sie von Satan verführt wurden”, predigte Sheikh Ahmed al-Mahalawy, der Vorsteher der Ibrahim-Moschee in Alexandria. Auch zahlreiche andere Geistliche wetterten in Moscheen im ganzen Land gegen die Protestierenden, die am 19. Oktober 2012 den Tahrir-Platz in Kairo füllten.

„Die Verfassung ist für alle Ägypter” war die Hauptparole der Kundgebung, zu der Dutzende Parteien und Gruppen aufgerufen hatten. Das ist für die Islamisten Teufelswerk, denn die von ihnen dominierte verfassunggebende Versammlung ist bestrebt, die Mehrheit der ÄgypterInnen – Frauen sowie die Minderheit der koptischen ChristInnen – zu BürgerInnen zweiter Klasse zu erklären. Immer häufiger und offener verkünden islamistische Prediger und Politiker, dass entgegen den ursprünglichen Versprechungen die Verfassung doch an der Sharia – dem angeblichen islamischen Gesetz, faktisch einer reaktionären Rechtslehre der Theologen – orientiert sein soll.

Angriff der Islamisten

Am 19. Oktober 2012 wurde jedoch auch gegen einen Angriff von Anhängern der Muslimbruderschaft auf säkulare DemonstrantInnen in der Woche zuvor protestiert. Etwa 200 Menschen wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt. Bislang galt ein informeller Waffenstillstand zwischen allen Gruppen, der Tahrir-Platz stand immer allen offen. Noch ist unklar, ob der Angriff von der Muslimbruderschaft geplant war oder eine spontane Aktion übereifriger Anhänger war. Die ideologische Offensive der Befürworter einer „islamischen Staates” spricht dafür, dass die islamistische Führung der ägyptischen Gesellschaft einen Kulturkampf aufzwingen will. Der Grund dafür ist nicht plötzlich stärker gewordener Glaubenseifer, sondern die rasant sinkende Popularität der Muslimbruderschaft.

Deren „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit” führt die Regierung, und seit etwa 100 Tagen stellt sie mit Mohammed Morsi den Präsidenten. Die Muslimbruderschaft war unter konservativen ÄgypterInnen, auch unter Lohnabhängigen, populär, weil sie einerseits Wandel versprach, andererseits aber als Garant der Stabilität galt. Nun aber sind die Islamisten vornehmlich damit beschäftigt, ihr Personal in den Institutionen zu platzieren. Die meisten Ägypter­Innen aber beschäftigen sich mit anderen Fragen: Wird das Brot teurer? Warum gibt es immer mehr Stromausfälle? Wann wird der Mindestlohn erhöht?

Ein Arzt im Staatsdienst bekommt ein Einstiegsgehalt von umgerechnet 140 Euro, das Lohnniveau der meisten ArbeiterInnen ist deutlich niedriger. Das Egyptian Center for Economic and Social Rights zählte in der ersten Septemberhälfte mehr als 200 Arbeitskämpfe, die derzeit bedeutendste Aktion ist der Streik in den staatlichen Krankenhäusern. Die ÄrztInnen fordern einen Mindestlohn von umgerechnet 380 Euro, aber auch die Erhöhung des Anteils der Gesundheitsausgaben am Staatshaushalt von fünf auf 15 Prozent. Sie behandeln die Patienten umsonst, die Einnahmeverluste sollen die Regierung zu Zugeständnissen zwingen.

Mit Koran und IWF

Die Muslimbruderschaft hat andere Prioritäten. Ursprünglich war sie einem korporativen Gesellschaftsbild verpflichtet, das der Regierung die Aufgabe zuwies, einen Ausgleich zwischen den Klassen zu schaffen. Das autoritäre Weltbild, das die Gesellschaft als einen straff zu führenden „Volkskörper” betrachtet, ist geblieben, doch wird nun ein um religiöse Vorschriften ergänzter Wirtschaftsliberalismus gepredigt. So verhandelt Morsi derzeit mit dem Internationalen Währungsfonds über Kredite, und zu dessen Bedingungen gehört traditionell die Kürzung der Subventionen, etwa für Brot. Darüber mag Morsi nicht sprechen, stattdessen versicherte er, dass IWF-Kredite nicht gegen das koranische Zinsverbot verstoßen.

Die internen Machtverhältnisse der Muslimbruderschaft sind ein gut gehütetes Geheimnis, doch sicher ist, dass die islamistische Bourgeoisie an Einfluss gewonnen hat. Khairat al-Shater, der ursprünglich als Präsidentschaftskandidat vorgesehen war, aber nicht zugelassen wurde, ist Multimillionär. Er bemüht sich derzeit als Vorsitzender des Business Development Council um eine Neuordnung des noch von Höflingen Mubaraks dominierten Geschäftslebens. Von Gewerkschaftsrechten halten er und die anderen Muslimbrüder ebensowenig wie die Anhänger des alten Regimes. Im September wurden in Alexandria fünf Hafenarbeiter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie einen Streik mitorganisiert hatten.

Liberale, Linke und GewerkschafterInnen müssen nunmehr an zwei Fronten kämpfen. Noch immer regiert in letzter Instanz das Militär, das sich derzeit zurückhält, weil die Generäle hoffen, die Diskreditierung der Muslimbruderschaft werde ihre Rolle als Garanten der Stabilität wieder stärken. Doch ist nun hinreichend deutlich geworden, dass auch die Islamisten Konterrevolutionäre sind, die eine gesellschaftliche Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit verhindern wollen. Zwar dürfte das Ziel der Muslimbrüder eher eine „gelenkte Demokratie” à la Putin sein als ein „Gottesstaat” nach iranischem Muster, doch können nur demokratische Massenproteste und Streiks verhindern, dass ein autoritäres System durch ein anderes ersetzt wird.

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