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Innenpolitik

Die „demografische Zeitbombe“ – eine neoliberale Legende

Von Walter Weiß | 01.02.2008

Eines der wesentlichen Argumente für die Agenda 2010 war das Anwachsen der älteren Generation und der damit steigenden Belastungen für die Rentenversicherung, Mehrbelastungen im Gesundheitssystem und der vermehrte Bedarf an sozialen Leistungen. Schröder und Müntefering rechtfertigten damit unter anderem im Frühjahr 2003 ihre tiefen Eingriffe in die Sozialversicherungssysteme.

Eines der wesentlichen Argumente für die Agenda 2010 war das Anwachsen der älteren Generation und der damit steigenden Belastungen für die Rentenversicherung, Mehrbelastungen im Gesundheitssystem und der vermehrte Bedarf an sozialen Leistungen.

Schröder und Müntefering rechtfertigten damit unter anderem im Frühjahr 2003 ihre tiefen Eingriffe in die Sozialversicherungssysteme. Blickt mensch hinter die Kulissen, dann fällt diese „Argumentation“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Vom Altern der Gesellschaft
Die sogenannte Alterspyramide verändert sich seit über hundert Jahren. Die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse haben die Lage des Proletariats zumindest in den kapitalistischen Metropolen z. T. erheblich verbessert. In der BRD der Nachkriegsära erfolgte im Rahmen der „langen Welle mit expansivem Grundton“ (Ernest Mandel) eine wahre Gründerepoche. Für große Teile der Bevölkerung verbesserten sich die Wohnverhältnisse in signifikanter Weise, gesundheitliche Versorgung und Prävention machten gemessen an den Verhältnissen in der Weimarer Republik einen großen Schritt nach vorn, Urlaub wurde mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit und die Zunahme des Individualverkehrs und ein Szenario der Vollbeschäftigung suggerierte ewige soziale Sicherheit. Neoliberales Denken führte ein Schattendasein. Erst die verallgemeinerte Weltwirtschaftsrezession 1974/75 kündigte das Ende des „Goldenen Zeitalters“ an.

Immer weniger Erwerbstätige hätten die Lasten der Rentenversicherung zu tragen, deren Ende sich ankündige, wie die Hohepriester der Sozialdemontage sorgenvoll verkündeten. Die Zahlen an sich schienen ihnen Recht zu geben. Kommen heute 4 Erwerbstätige für einen Rentner auf, so sind es in wenigen Jahrzehnten nur noch 2. Diese Entwicklung ist allerdings alles andere als neu. Vor hundert Jahren waren es immerhin noch 12 Erwerbstätige und zur Reichsgründung 1871 lag die Quote bei 13,2.

Flankiert wurde dieses vermeintliche Horrorszenario in einer bis zum Exzess dem Jugendwahn verfallenen Gesellschaft mit einem geradezu sozialrassistischen Diskurs. Dessen Tenor war: Die Alten liegen den Jungen auf der Tasche. Sozialwissenschaftlich betrachtet ist das der reine Unsinn. Erstens findet ein bedeutender Geldtransfer von den Alten zu den Jungen z. B. bei der Unterstützung in der Ausbildung oder dem Erwerb von Wohneigentum statt. Dann besteht ein großes Leistungspotenzial bei der Betreuung und Pflege von Jüngeren z. B. bei Berufstätigen oder alleinerziehenden Müttern und Vätern. Zudem findet ein erheblicher Werttransfer im Rahmen von Erbschaften statt. Ihren populistischen Höhepunkt erfuhr die Kampagne in der Forderung eines 23jährigen Funktionärs der Jungen Union, älteren Menschen ab einem bestimmten Jahrgang das operative Einfügen einer künstlichen Hüfte zu versagen!

Die vermeintliche Schmarotzergeneration der Älteren speist auch heute nicht von goldenen Tellern. Die Renten der Männer pendeln zwischen 800 und 1000 Euro, bei den Frauen sind es gerade mal 400 bis 700 Euro. Mittlerweile lebt jeder Vierte der über 65jährigen unterhalb der Armutsgrenze und in absehbarer Zukunft wird über ein Drittel der RentnerInnen unterhalb des Sozialhilfesatzes vegetieren. Zur Erinnerung: Die Pfändungsgrenze liegt bei 989 Euro. Da stellt sich nun die Frage, warum das Rentensystem nicht schon lange kollabiert ist.
Die Arbeitsproduktivität – das unbekannte Wesen
Schon die Manufaktur ließ im Verhältnis zum klassischen Handwerk die Arbeitsproduktivität stark ansteigen. Die erste und zweite technologische Revolution vermehrte sie rasant und im Gefolge der dritten wissenschaftlich-technologischen Revolution expandierte die Arbeitsproduktivität in einem bisher historisch nicht gekannten Ausmaß. So produzierte die Belegschaft der Nobelmarke Rolls-Royce nach ihrer Halbierung mehr als zuvor. Ohne diese Entwicklung wäre das Rentensystem gewiss nicht mehr existent. In der Landwirtschaft steigerte sich das Leistungsniveau von 1950 bis 2000 sogar um 500 Prozent.

Diese Entwicklung übersehen die Zauberlehrlinge der Demografie gerne. Dies hat den natürlichen Zweck, die private Vorsorge und Eigenleistung zu favorisieren, sofern das den Betroffenen überhaupt möglich ist. Diese „Verschlankung des Staats“ – ein Lieblingstheorem des neoliberalen Zeitgeistes – minimiert den Unternehmeranteil an den Sozialkassen, verbessert die Verwertungsbedingungen des Kapitals und eröffnet die Möglichkeit, die boomenden Profite in den Himmel wachsen zu lassen. Gleichzeitig spült sie gewaltige Summen in die Kassen von ALLIANZ, Hamburg-Mannheimer & Co. und unterstützt so die Privatisierung des Geldes. Die gegenwärtige Diskussion um die Riester-Rente zeigt aber, dass die privaten EinzahlerInnen, wenn sie lange arbeitslos oder Geringverdiener waren, ihre private Absicherung z. B. bei einer Grundsicherung verrechnet bekommen und der Profiteur wieder der kapitalistische Staat ist, der schon vorher über die 19prozentige Versicherungssteuer kräftig abgesahnt hat.

Die Arbeitsproduktivität hat sich bei Reduzierung der Arbeitsstunden auf 80 % so seit 1960 erhöht, dass sich das Bruttosozialprodukt verdreifacht hat. Legt mensch die gegenwärtigen Wachstumsprognosen zugrunde, wächst die Arbeitsproduktivität bis 2050 um 135%, d. h. eine Steigerung um das 2,35fache für den Einzelnen. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte erweist sich die „demografische Zeitbombe“ als geistiger Rohrkrepierer aus dem Fundus Wirtschaftsliberalismus.
Andere Aspekte
Gerne verschweigen die PropagandistInnen der „demografischen Zeitbombe“ auch andere Gründe für Schwächen der Rentenkasse. Wesentlicher Grund ist die jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit als Ausdruck der kapitalistischen Krise. Ohne die permanente Umverteilung von unten nach oben lägen die Tarifeinkommen um 17 % höher, mit den entsprechenden Folgen für alle Sozialkassen. So ist der Gewerkschaft ver.di zuzustimmen, die das Demografieproblem in hohem Maß als Verteilungsproblem sieht. Die Lohnsteuer ist in den letzten 30 Jahren um 20% angestiegen, während die Steuern auf Gewinne und Vermögen mehr als halbiert wurden! Verschwiegen werden neben den offiziellen Arbeitslosenzahlen die verdeckte Arbeitslosigkeit von 1,7 Millionen und die stille Reserve in der gleichen Größenordnung.

Neben den bekannten gebetsmühlenartig vorgetragen Folgen der Globalisierung, den „Gesetzen des Marktes“, der Standortsicherung, den patriotischen Chorälen im Tenor „Du-bist-Deutschland“ dient die These von der
„demografischen Zeitbombe“ letztlich nur der Legitimation des Sozialabbaus und der Beseitigung demokratischer Rechte. Ihr biologistisch-sozialdarwinistischer Unterton ist unüberhörbar. Einer seriösen Überprüfung hält sie nicht statt. Ihre aufklärerische Bekämpfung ist eine tagespolitische Aufgabe zur Durchbrechung der neoliberalen Hegemonie.

 

TiPP!
Ernest Mandel, Die langen Wellen im Kapitalismus, isp-Verlag

 

 

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