TEILEN
Länder

„Die Bewegung wird sich organisieren“

Von Interview: Daniel Berger | 01.07.2009

Wenige Tage nach Ausbruch der Unruhen im Iran sprach Avanti mit Said, einem iranischen Marxisten, der in der BRD lebt und Kontakt zur linken Opposition im Iran hält.

Wenige Tage nach Ausbruch der Unruhen im Iran sprach Avanti mit Said, einem iranischen Marxisten, der in der BRD lebt und Kontakt zur linken Opposition im Iran hält.

Avanti: Die Medien sind vollkommen überrascht von der Heftigkeit der Proteste und dem Mut, mit dem sich die Menschen trotz Verbot auf die Straßen trauen. Was sind die Hintergründe für diese Proteste?

Said: Das Regime der islamischen Republik ist ungeheuer repressiv. Es hat zwar in ein paar weniger wichtigen Fragen hier und da einige Lockerungen gegeben, aber oft wurden sie genauso schnell wieder zurückgenommen. Die Allmacht der Repressionsorgane, vor allem der Revolutionswächter, ist so erdrückend, dass vor allem die junge Generation sich damit nicht abfinden kann. Die große Zahl der Protestierenden ist Ausdruck des sehr weit verbreiteten Wunsches, eine andere Lebensweise – auch öffentlich – durchzusetzen. Aber das ist längst nicht alles. Immer wieder versuchen Arbeiter, für höhere Löhne zu kämpfen und bilden dazu Vorformen von Gewerkschaften. Jedes Mal werden sie ganz brutal unterdrückt. Das hat sie vorsichtig werden lassen. Sie sind heute nicht in der ersten Reihe, aber sie unterstützen natürlich die Proteste.

Manche behaupten, die Bewegung sei (nur) ein Ergebnis des Machtkampfs an der Spitze des Staates, der jetzt offen ausgebrochen sei und in dem jetzt eine Fraktion auf die Unterstützung durch die Massen setzt.

Said: Das wäre viel zu kurz gegriffen. Es gibt zwar heftige Kämpfe in der Machtelite, aber die Bewegung verfolgt nicht die Ziele einer dieser Fraktionen. Es ist wichtig zu betonen, dass alle Fraktionen der Herrschenden, auch Mussavi, neoliberale Konzepte vertreten. Mussavi setzt noch mehr auf Privatisierungen als Ahmadinejad und deswegen wird er auch von Rafsanjani unterstützt. Der ist mehrfacher Milliardär und reichster Mann im Land.

Es gibt nicht nur Interessensunterschiede zwischen der islamischen Großbourgeoisie und den Revolutionsgarden, sondern auch in der Geistlichkeit gibt es wachsende Spannungen. Chamenei hat Teile der Geistlichkeit verärgert, weil er – im Zusammenhang mit seiner fortschreitenden Krankheit – seinen Sohn als seinen Nachfolger vorgeschlagen hat. Das widerspricht der Vorschrift, nach der der Expertenrat aus 86 Mullahs über die Nachfolge des auf Lebenszeit gewählten „Revolutionsführers“ bestimmt.

Mussavi und die anderen Kandidaten akzeptieren die islamische Verfassung. Die Hauptunterschiede sind in der Außenpolitik. Mussavi will ein besseres Verhältnis zu den USA, um die Isolation zu überwinden und mehr Geschäfte machen zu können. Mussavi galt immer als „der gute Sohn Chomeinis“. Inwieweit er durch die Bewegung der letzten Tage selbst radikalisiert wurde, ist schwer zu beurteilen. In gewisser Weise hat er Mut bewiesen, weil er sich offen gegen Chamenei gestellt hat. Allein bis heute sind mehr als 100 bekannte Politiker verhaftet worden.

Aber: Mussavi ist von Anfang an ein Produkt des Mullah-Regimes und war nicht umsonst acht Jahre lang Ministerpräsident. Dann hat er sich 20 Jahre lang aus der Politik rausgehalten (und gemalt). Trotzdem ist Ahmadinejad kein antiimperialistischer Politiker, als den Jürgen Elsässer ihn bezeichnet, der ihm zum „Wahlsieg“ gratuliert hat.

Die Bewegung, die heute auf der Straße demonstriert, nutzt die Situation, die mit dem offenkundigen Wahlbetrug und dem dadurch verursachten Ausbruch einer offenen Krise des Regimes entstanden ist. Für sie ist der Protest gegen den Wahlbetrug in Wirklichkeit ein Türöffner und das wissen die Herrschenden sehr genau. Deshalb haben sie sofort auf Repression gesetzt. Sie wollen der oppositionellen Bewegung keine Chance geben, Erfolge zu feiern, sich zu festigen, sich besser zu organisieren und ihre Ziele weiter zu entwickeln.

Welche Organisationen stehen hinter den Protesten?

Said: Hinter den Massenprotesten steht überhaupt keine Organisation. Mussavi hat zwar über seine Internetseite einen gewissen Einfluss gehabt, weil er mit seiner Erklärung zum Wahlausgang und zu den anschließenden ersten Kundgebungen Signale gegeben hat. Aber alles, was sich danach entwickelt hat, war spontan. Die Studentenorganisationen, die in den späten 90er Jahren demonstriert haben, sind alle brutal zerschlagen worden. Von ihnen haben nur einzelne Menschen die Repression überlebt und sind nicht ins Gefängnis gekommen oder umgebracht worden. Heute gibt es keine nennenswerten Organisationen. Bei den Arbeitern überwiegt noch die Angst und es gibt aufgrund der Repression keine landesweiten Organisationen.

Die Proteste sind in ihrer Anfangsphase vor allem von den Menschen getragen worden, die noch nie politisch aktiv waren, die aber die Schnauze voll haben von den Vorschriften der Regierung. Die Proteste werden gerade blutig niedergeknüppelt, aber man kann nicht Hunderttausende ins Gefängnis stecken. Sie werden sich organisieren. Die erste Form des anhaltenden Widerstands ist das Demonstrieren auf den Dächern. Dort rufen sie „Allah hu Akbar“ (Gott ist groß). Das ist kein Bekenntnis zur islamischen Republik, sondern ein Hilferuf und Protest, ein Ruf, der auch von Nicht-Religiösen gebraucht wird.

Wenn die Krise tiefer wird, wenn sich das Parlament oder die Armee spaltet, kann ein Aufruf zu Streiks riskiert werden und auch erfolgreich sein. Zurzeit [20.6.] ist die Repression zu stark. Aber es gibt heute viele Aufrufe zu zivilem Widerstand (Stromrechnungen nicht bezahlen usw.). Je weiter sich die Situation entwickelt, umso mehr wollen die Menschen nicht nur eine Wiederholung der Wahl. Wirtschaftliche und soziale Forderungen werden dann von mehr Menschen unterstützt als bisher.

Wie wird es weitergehen?

Said: Wer sich durchsetzt ist noch nicht klar. Es ist gut möglich, dass die Regierung sich mit ihrer Repression durchsetzt, aber die Krise wird nicht so schnell zu Ende sein. Es ist die tiefste Krise des Regimes seit 1979 und die Bewegung sammelt im Moment viele Erfahrungen und wird sich besser organisieren.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite