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Länder

Deutschland immer tiefer im Krieg

Von M. Anwar Karimi | 01.10.2009

Gerne wird von deutscher Seite die „Vorreiterrolle“ beim zivilen Wiederaufbau und die Führungsfunktion im Norden hervorgehoben. Aber mit der  Eindämmung des Widerstands im ruhigen Norden ist es jetzt vorbei.

Gerne wird von deutscher Seite die „Vorreiterrolle“ beim zivilen Wiederaufbau und die Führungsfunktion im Norden hervorgehoben. Aber mit der  Eindämmung des Widerstands im ruhigen Norden ist es jetzt vorbei.

Vor diesem Hintergrund üben die Verbündeten seit 2006 massiven Druck auf Deutschland aus, sich stärker an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Dies stellte die Bundesregierung vor ein Problem: Zwar trägt sie den gegenwärtigen NATO-Eskalationskurs voll mit, sieht sich aber einer Bevölkerung gegenüber, die die Beteiligung deutscher Truppen an Kampfhandlungen mit deutlicher Mehrheit kategorisch ablehnt. Will man jedoch seinen Einfluss in Afghanistan, aber auch in der NATO (und darüber hinaus) nicht einbüßen, so ist es aus deutscher Sicht zwingend erforderlich, sich stärker zu involvieren. Nur wer Krieg führt, darf international mitbestimmen, anders können die weiterhin gültigen Aussagen von Ex-Außenminister Joschka Fischer über die Motivation des deutschen Afghanistan-Engagements nicht interpretiert werden: „Die Entscheidung, ‚Deutschland nimmt nicht teil‘ würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen. Das Maß der Mitbestimmung richtet sich nach dem Maß des Mitwirkens.“

Aufgrund dieser Konstellation ist die Bundesregierung gezwungen, schrittweise vorzugehen, um die Bevölkerung sachte daran zu „gewöhnen“, dass sich Deutschland immer stärker am blutigen Krieg am Hindukusch beteiligt. Der erste „Meilenstein“ hierfür war die Anfang 2007 beschlossene Entsendung von Tornados. Sie werden auch im Süden und Osten eingesetzt und liefern Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgen, bei denen auch zahlreiche ZivilistInnen ums Leben kommen. Doch dieser Beitrag genügt den Verbündeten nicht, sie wollen von der Bundesregierung mehr.

Wie so häufig, kam die Bundesregierung der Forderung der Nato kurze Zeit später bereitwillig nach. Die wichtigste Maßnahme in diesem Zusammenhang war die im Juni 2008 erfolgte Übernahme der Führung der Quick Reaction Force (QRF) von Norwegen durch die Bundeswehr. Dabei handelt es sich um eine explizit für offensive Kampfmaßnahmen ausgerichtete Truppe, deren Einsatzgebiet Nord- und Westafghanistan umfasst. Hauptauftrag der QRF, die sich als „Feuerwehrtruppe“ versteht, ist der Einsatz überall dort, wo der Widerstand an Boden gewonnen hat.

Bis September 2009 sind 33 Bundeswehrsoldaten im Afghanistan-Einsatz gestorben, angeblich um dort Demokratie und Menschenrechte zu verbreiten. Tatsächlich spielen aber auch ganz profane materielle Interessen eine Rolle, weshalb Deutschland sich so stark am Hindukusch engagiert. Der von Steinmeier vorgelegte Zehn-Punkte-Plan soll den Abzug bis zum Jahr 2013 ermöglichen, ist aber nur ein allzu durchsichtiges Wahlkampfmanöver, um die kritische Bevölkerung in Deutschland nach dem Massaker in Kundus zu beruhigen.
Der Widerstand besteht nicht nur aus Taliban
Im Gegensatz zur gängigen Propaganda in den westlichen Medien, dass alle Widerstandskämpfer Taliban – und damit  islamistische Terroristen – sind, gibt es neben den Taliban im Süden noch vier bedeutende sowie zahlreiche regionale Gruppen, die lose Verbindung zu den Taliban haben.

Die Islamische Partei von Gulbudin Hekmatyar, die besonders im Einsatzgebiet der deutschen Besatzungstruppe im Norden und Nordosten aktiv ist; sodann die Gruppe unter der Führung von Djalaludin Haqani im Südosten und die Herati Gruppe unter die Führung von Akabari im Westen sowie die Tora-Bora Front im Osten unter die Führung von Anwarulhaq in der Gegend rund um die Stadt Jalalabad.  Es ist deutlicher geworden, dass der Widerstand nicht mehr allein von Pashtunen im Süden und Osten getragen wird, sondern es haben sich auch andere ethnische Gruppen wie Tadschiken, Usbeken und Turkmenen im Norden dem Kampf angeschlossen.

Somit  hat der Widerstand gegen die Besatzung eine bedeutende Präsenz in fast jeder Ecke von Afghanistan. Die neuen Daten von ICOS (International Council on Security and Development, in London ansässig), vom 10.09.09 belegen eine Vertiefung  der sicherheitspolitischen Krise mit erheblichen Widerstandsaktivitäten in mindestens 97 Prozent des Landes. Ein ähnlicher Bericht von ICOS-ForscherInnen in Afghanistan Ende letzten Jahres hatte eine permanente Präsenz des Widerstands in 72 Prozent des Landes festgestellt.

Der von Taliban begonnene Aufstand hat sich in diesem Jahr aus den traditionellen Hochburgen im Süden und Osten über die Hauptstadt Kabul nach Norden ausgedehnt.
Das Wahldrama
Die Präsidentschaftswahl von 20. August, zunächst von westlichen Staatsmännern als Erfolg gefeiert, erzeugt inzwischen großes Kopfzerbrechen in Washington und ist ein Test für die neue regionale Strategie Barack Obamas, nämlich die Kämpfer zu besiegen und Afghanistan für die geostrategischen Ziele der USA zu stabilisieren. Die Obama-Regierung hatte gehofft, in der Öffentlichkeit die Wahlen als ein Zeichen des Fortschritts darstellen zu können, was  sich inzwischen zu einem Fiasko entwickelt hat.

Hamid Karzai, dessen Marionettenregime synonym für grassierende Korruption steht, soll mit 54 % der Stimmen gewonnen haben. Aber bei der internationalen Wahlbeschwerdekommission (in Wirklichkeit von den Nato-Staaten eingerichtet) sind über 2 000 Beschwerden wegen Wahlbetrugs eingegangen. Karzai braucht eine „50 Prozent plus X“-Mehrheit, um eine für Oktober geplante Stichwahl gegen seinen Herausforderer Ex-Außenminister Abdullah (ehemaliger Sprecher der Nordallianz) zu vermeiden. Der massive Betrug und Wahlurnenfüllung bei den Präsidentschaftswahlen hat Afghanistan in eine tiefe politische und konstitutionelle Krise gestürzt, für die weder die afghanische Marionettenregierung noch die Amerikaner oder die Vereinten Nationen eine einfache Antwort haben.

Nach Angaben der EU-Wahlbeobachter sind mehr als ein Viertel der bislang ausgezählten Stimmen gefälscht oder zumindest verdächtig. Betroffen sind 1,5 Millionen der insgesamt 5,5 Millionen Stimmen. Dies sagte die stellvertretende Missionschefin Dimitra Ioannou am 16.09.09 in Kabul. Demnach entfielen davon 1,1 Millionen gefälschte Stimmen auf Amtsinhaber Hamid Karzai, 300 000 auf seinen wichtigsten Herausforderer, Ex-Außenminister Abdullah.

Die Lage war schon vor Monaten klar, als Karzai begann, mit regionalen Warlords, Drogenhändlern und hohen Beamten in den Provinzen, die dort ihren Einfluss und ihre lukrativen Geschäfte haben, zu koalieren.

Sein Herausforderer, Abdullah, scharte  eine andere Gruppe von Warlords und Drogenbaronen um
sich und baut dabei auf die Unzufriedenheit Obamas mit Karzai, der in letzter Zeit sogar wagt, Amerikaner öffentlich wegen zu hoher ziviler Opfer zu kritisieren. Doch was  nun besonders bedrohlich ist, ist die Gefahr des ethnischen und politischen Kriegs, d. h. Morde und Bombenanschläge zwischen rivalisierenden Kandidaten.

Die Wahl kann in keiner Weise als ein Schritt hin zu mehr Demokratie gewertet werden. Afghanistan ist ein Land im Krieg, das von US- und NATO-Truppen besetzt ist, die Zentralregierung wird durch das Pentagon gestützt.
ZivilistInnen als Opfer des Krieges
Der Fall Kundus zeigte, wie die westlichen Medien versuchen, die Wahrheit über die Ereignisse in Afghanistan  zu verschleiern, in der gleichen Weise wie die Kabuler Regierung und die NATO Pressestelle in Afghanistan versuchen, die zivilen Kriegsopfer als Aufständische bzw. Terroristen darzustellen.

In Afghanistan sind nach UN-Angaben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 1013 Zivilisten zwischen den Fronten von Aufständischen und Besatzungstruppen getötet worden. Damit sind in der ersten Jahreshälfte fast ein Viertel mehr Zivilisten ums Leben gekommen als im Vorjahreszeitraum. Insgesamt starben 2008 in Afghanistan laut UN 2118 Zivilisten 40 Prozent mehr als 2007, so der Bericht der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA).
Zivilaufbau und Entwicklungshilfe
Nach dem Krieg in Afghanistan 2001 haben sich viele Staaten dazu verpflichtet, den Wiederaufbau des Landes finanziell zu unterstützen. Aber in Wirklichkeit ist allerdings bislang wesentlich weniger Geld im Land angekommen als die Geberländer zugesagt hatten. Demnach hat die internationale Gemeinschaft nach Angaben des afghanischen Finanzminis­teriums insgesamt 25 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zugesagt, bislang aber nur 15 Milliarden bereitgestellt.

Auch die deutsche Regierung blieb deutlich hinter ihren Zusagen zurück. Von den versprochenen 900 Millionen Euro hat sie erst rund zwei Drittel nach Afghanistan überwiesen.

Außerdem bleibt das Missverhältnis zwischen den Ausgaben für Militär und Entwicklungshilfe bestehen: Die Kosten für den US-Militäreinsatz in Afghanistan belaufen sich  auf 100 Millionen Dollar pro Tag, die täglichen Hilfsgelder aller Spenderländer zusammen belaufen sich dagegen seit 2001 im Durchschnitt auf sieben Millionen Dollar! Nach Ansicht der Weltbank gibt es in Afghanistan eine „himmelhohe“ Verschwendung von Fördergeldern. Im Jahre 2009 werden Schätzungen zufolge 35 bis 40 Prozent der Entwicklungshilfe zurück in die Geberländer fließen.

Immer wieder werden Fälle bekannt, bei denen Fördergelder in deutlich überteuerte Bauprojekte fließen. So verschlang der Bau einer Straße aus dem Zentrum Kabuls zum Flughafen im Jahre 2005 pro Kilometer gut 2,4 Millionen Dollar – mindestens viermal so viel wie üblich.

Hohe Kosten verursachen zudem externe Berater: Afghanistan-Experten mit dringend notwendigem Spezialwissen, die beim Wiederaufbau des Landes helfen. Eine solche Stelle kostet inklusive Sicherheitsausgaben zwischen 250 000 und 500 000 Dollar im Jahr.  Zudem wird immer wieder in die falschen Projekte investiert. Die Geldgeber setzen falsche Prioritäten, sie wählen Projekte gemäß politischer und militärischer Interessen, statt sich substantiell um Armutsbekämpfung zu kümmern. Zentrale Maßnahmen wie Nahrungssicherung oder Know-how-Aufbau im Land kommen dabei oft zu kurz.

Zudem werden die Hilfen alles andere als flächendeckend verteilt. Das meiste Geld fließt  in die großen Städte – obwohl gut drei Viertel der Afghanen in ländlichen Regionen leben.

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