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Der NSU-Untersuchungsausschuss, die Schönredner und die Wiederholungstäter

Von Helmut Dahmer, Wien | 20.10.2013

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. September (2013) sind zwei aufschlussreiche Kommentare zu dem Ende August vorgelegten Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses erschienen, der klären sollte, warum Polizei und Justiz außerstande waren, die Mörder der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ zu finden.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. September (2013) sind zwei aufschlussreiche Kommentare zu dem Ende August vorgelegten Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses erschienen, der klären sollte, warum Polizei und Justiz außerstande waren, die Mörder der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ zu finden.

Jasper von Altenbockum bemüht sich – über Stock und Stein – um eine Apologie der mit den NSU-Morden befassten Polizisten, Geheimdienstler und Justizbeamten und resümiert, der Ausschuss habe „die wichtigsten Fragen“ nicht beantwortet; Peter Carstens wiederum glaubt, den Akteuren von Justiz und Polizei fehle es an „Fehlerkultur“1.

Für das totale Versagen von Polizei und Justiz bei der Aufklärung der xenophoben Serienmorde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gibt es eine einfache Erklärung: Sie ignorierten das Gewaltpotential der neofaschistischen Gruppierungen und waren mit Anderem beschäftigt. Von Altenbockum hingegen kommt zu dem Schluss, „die Annahme, die Behörden seien auf dem rechten Auge ‚blind‘ und hätten Spuren vernachlässigt, die [sie] zum Rechtsterrorismus geführt hätten“, lasse „sich nicht aufrechterhalten“. Frühere (alberne) Rechtfertigungen aus Polizei- und Justizkreisen repetierend, schreibt er, da sich die NSU-Mörder nicht durch ein „Bekennerschreiben“ zu erkennen gaben, habe sie allenfalls ein „Hellseher“ ausfindig machen können. Außerdem seien ja leider auch „Hinweise aus dem rechten Milieu“ (trotz der dort platzierten V-Leute) „fast gänzlich unterblieben“.

Der Autor weiß, dass „Terrorziele“ „sich meist auch ohne Selbstbezichtigung ‚erklären‘“. Wenn es sich um Attentate auf „Politiker, Polizisten oder Unternehmer“ handele, auf „Amtsträger, das World Trade Center, Asylbewerberheime [!] oder Regionalzüge“, sei ohne weiteres klar, wer als Täter in Frage komme. „Für die Morde de[s] NSU hingegen gilt das nicht. Die Ermittler konnten sich nicht erklären, warum es die Täter ausgerechnet auf diese Opfer abgesehen hatten – und sie können es in gewisser Weise bis heute nicht.“

Was sind nun „die wichtigsten Fragen“, und was mag es mit der fehlenden „Fehlerkultur“ der Ordnungskräfte auf sich haben? Ihr Fehler bestand ja darin, dass sie die drei Nazi-TerroristInnen und deren Helfershelfer nicht „fanden“, weil sie nach „solchen“ Tätern nicht suchten, sondern zu wissen glaubten, dass als Täter für die Serien-Morde im Immigranten-Milieu nur die üblichen Verdächtigen, also kriminelle Ausländer-Banden, in Frage kämen. Diese Leitvorstellung (oder fixe Idee) beherrschte sie in solchem Maße, dass sie weder aus der Tatsache, dass in allen Fällen mit derselben Waffe geschossen wurde, noch aus der anderen, dass mit dieser Ceská-Pistole immerfort Zugewanderte erschossen wurden, den Schluss ziehen konnten, dass es zwischen all’ diesen Mordtaten einen Zusammenhang geben müsse.

Die Täter bedienten sich ein und derselben Waffe, bildeten also eine Gruppe. Ihre Opfer hingegen, türkische und griechische Kleinhändler, lebten in verschiedenen Städten und hatten keinen Kontakt zu einander. Doch gab es etwas, das ihnen (von ihrer sozialen Position abgesehen) gemeinsam war und sie zu potentiellen Opfern des NSU machte: ihre nichtdeutsche Herkunft. Die „Zwickauer Zelle“ mordete nicht „wahllos“ – wie ein Amokläufer –, sondern gezielt. Doch galt ihr mörderischer Hass nicht bestimmten Personen, sondern beliebigen Angehörigen einer höchst heterogenen, millionenstarken Großgruppe von Menschen, die anders aussehen als „typische“ Deutsche, also als „Fremde“ kenntlich sind, obwohl sie seit Jahren oder Jahrzehnten als starke Minderheit in der deutschen Mehrheitsbevölkerung leben. In der Welt der Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kommt es auf die Einzelnen und ihre Besonderheit nicht an; sie werden vielmehr, gemäß der alten faschistischen Parole „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, ethnischen Kategorien subsumiert und dem entsprechend „behandelt“.

Diese „Weltanschauung“ und die ihr entsprechende barbarische Praxis sollte deutschen Polizisten und Juristen – wie jedermann in unserem Lande – eigentlich gut bekannt sein, weil sie vor Jahrzehnten einmal die herrschende war. Doch aller „Aufarbeitung der Vergangenheit“ zum Trotz stellt sich die Erinnerung an Zeiten, in denen als „Fremde“ stigmatisierte Menschengruppen als „Feinde“ verfolgt und zu Hunderttausenden umgebracht wurden, zur rechten Zeit nicht ein. So kommt es, dass, wenn die netten jungen Leute von Nebenan gut getarnt in die unzeitgemäße Rolle ihrer Groß- und Urgroßväter schlüpfen und zu kleinen SS- und SA-Leuten mutieren, die am hellichten Tag „Fremde“ massakrieren, die Ordnungskräfte – trotz aller Friedhofs-Schändungen und Ausländermorde der neunziger Jahre – vor einem unlösbaren Rätsel stehen. Kleine Gruppen von „Wiederholungstätern“ spielen der heutigen Generation immer noch einmal Furcht und Elend des „Dritten Reiches“ vor, un
d so wenig sie wissen, was sie tun, so wenig dämmert der Mehrheit, was da gespielt wird.

„Beate“, die beiden „Uwes“ und ihre Helfer sind Repräsentanten und Delegierte einer entsetzlichen Vergangenheit, von der keiner mehr etwas wissen will. Als „Kriminelle“ stellen sie heute uns vor, was früher einmal als des deutschen Volkes Wille galt. Die von der „Zwickauer Zelle“ inszenierte Kopie en miniature entspricht ziemlich genau dem seinerzeit reichs- und europaweit praktizierten Original. Die Wiederholungs-Täter von heute sind so kalt und entschlossen wie ihre Vorgänger und gehen (wie diese) am Ende selbst in den Tod (wie Böhnhardt und Mundlos) oder versinken (wie Zschäpe) im Schweigen, nachdem sie alles in Flammen aufgehen ließen.

Der Unwille und die Unfähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen, bedingte die viel beschriene „Unfähigkeit“ von Polizei und Justiz, nach den „richtigen“ Tätern zu suchen und sie am Weitermorden zu hindern. Das ahnten einige der elf Bundestagsabgeordneten im Untersuchungsausschuss, die von „institutionellem Rassismus“ oder von einer „fremdenfeindlichen Grundeinstellung der Polizei“ sprachen. Carstens schreibt dazu: „Insbesondere SPD und Linke vertreten diese Auffassung“ (dass es eine xenophobe Mentalität bei Polizisten gibt) „tatsächlich, Union und FDP wenden sich zumindest nicht offensiv dagegen“. Carstens ergänzt, dass „auch keine Staatsanwaltschaft, kein Ermittlungsrichter anders vorgehen wollte, als die Polizeien in Hamburg, Bayern, Baden-Württemberg oder Mecklenburg-Vorpommern es taten. Und in der Presse, die breit über die Mordserie berichtete, wurde[n] ebenfalls zu keinem Zeitpunkt Rechtsextreme als Täter der ‚Döner-Morde‘ in Betracht gezogen. Zehn Jahre lang.“

Ethnozentrismus und Antisemitismus – beziehungsweise deren Derivat: die Xenophobie – sind kollektive Reaktionen auf den beschleunigten, beängstigenden Wandel unserer Lebensverhältnisse. Nicht nur Polizisten sind „den multiethnischen Gegebenheiten in Deutschland“ (Carstens) noch nicht gewachsen. Doch solange ihre Einstellungen nicht empirisch erforscht werden, weiß man nicht, ob (und in wieweit) ihre „Vorurteile“ sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Carstens hat recht, wenn er schreibt, dass „viele der“ [vom Ausschuss erarbeiteten] „Vorschläge zu[r] Polizeiarbeit einen grundlegenden Einstellungswandel von den Beamten verlangen…“.

Wie „grundlegend“ der aber ausfallen müsste, ließe sich erst abschätzen, wenn man einmal ein paar Hundert zufällig ausgewählte Polizeibeamte bäte, sich (unvorbereitet) zu der Frage zu äußern, was es eigentlich mit „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rassismus“ auf sich hat. Doch welcher Sozialwissenschaftler hat Lust, dieser Frage nachzugehen, und welche Polizeibehörde ließe sich darauf ein? „Mehr Migranten in den Polizeidienst“ aufzunehmen, mag hilfreich sein. Wichtiger wäre aber eine Reform der Polizei-Ausbildung, die allen Polizisten die Möglichkeit gäbe, sich gründlich über die deutsche Geschichte der vergangenen hundert Jahre zu unterrichten und Grundkenntnisse der Sozialpsychologie zu erwerben.
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1 Altenbockum, Jasper von (2013): „Es fehlte der Anfasser. Der NSU-Ausschuss hat viele Fragen beantwortet – die wichtigsten aber nicht.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 9. 2013, S. 10. – Carstens, Peter (2013): „Es fehlt die Fehlerkultur. Die Empfehlungen des NSU-Ausschusses für Polizei, Justiz und Geheimdienste.“ Ebd.

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