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„Der Hauptprozess ist die Massenentpolitisierung“

Von Artur Blechschmidt & Tim Niessner | 01.07.2010

Das folgende Interview mit dem Genossen Ilya von Vpered wurde im Februar 2010 am Rande des Weltkongresses der IV. Internationale geführt. Vpered ist bei diesem Kongress als russische Sektion aufgenommen worden.

Das folgende Interview mit dem Genossen Ilya von Vpered wurde im Februar 2010 am Rande des Weltkongresses der IV. Internationale geführt. Vpered ist bei diesem Kongress als russische Sektion aufgenommen worden.

Avanti: Kannst du uns kurz die Organisation Vpered vorstellen, in der du aktiv bist? Wie groß seit ihr und in welchen Orten seid ihr vertreten?
Ilya: Vpered ist bisher keine sehr große Organisation, was für linke Organisationen in Russland allerdings sehr typisch ist. Wir haben ungefähr 70 Mitglieder, die sich auf einige Städte konzentrieren. Die größte und aktivste Ortsgruppe befindet sich in Moskau. Wir haben aber auch Gruppen in Jaroslawl, Nischni Nowgorod, Saratow, usw. Wir sind also hauptsächlich im europäischen Teil von Russland vertreten.

Was sind eure politischen Ziele und in welchen Bewegungen arbeitet ihr mit?
Ilya: Unser zentrales Ziel ist es, den Aufbau der militanten Gewerkschaften sowie der sozialen Bewegung zu unterstützen und für deren Unabhängigkeit zu kämpfen. Zurzeit sprechen wir noch nicht über den Aufbau einer breiten antikapitalistischen Partei, weil der Aufbau einer solchen Organisation in Russ­land momentan noch nicht möglich ist. Allerdings propagieren wir, dass die sozialen Bewegungen und die militanten Gewerkschaften ihre eigene Politik brauchen und eine politische Repräsentation. Diese militanten Gewerkschaften sind nicht verbürokratisiert, aber die Instrumentalisierung der Gewerkschaften und der sozialen Bewegung durch bürgerlich-liberale Kräfte ist ein großes Problem, wogegen wir uns einsetzen.

Arbeitet ihr in diesen Gewerkschaften?
Ilya: Wir spielen eine wichtige Rolle in der Organisierung von Solidaritätskampagnen mit Gewerkschaftsaktivist­Innen, die gefeuert wurden oder anderweitig unter politischem Druck stehen. Aber auch der Aufbau dieser Gewerkschaften ist für uns von großer Bedeutung. In einigen Regionen versuchen wir daher, gezielt Menschen für diese Gewerkschaften zu gewinnen. Einige Mitglieder von Vpered arbeiten als Hauptamtliche in den militanten Gewerkschaften.

Kannst du Unternehmen aus Deutschland nennen, die in Russland produzieren lassen? Gab es in der letzten Zeit dort gewerkschaftliche Auseinandersetzungen, Streiks o. ä.?
Ilya: Ja, da gibt es einige deutsche Unternehmen, so z. B. eine neue große Fabrik von Volkswagen, in der Nähe von Kaluga im europäischen Teil Russlands. In dieser Fabrik existiert eine ziemlich kämpferische Gewerkschaft, die dort allerdings in der Minderheit ist. Vor einiger Zeit kämpften sie für ihre Anerkennung als Gewerkschaft. Die Unternehmensleitung hat sie anschließend zwar als Gewerkschaft akzeptiert, es wird aber weiterhin Druck auf sie ausgeübt.

In welchen sozialen Bewegungen arbeitet ihr, abgesehen von der Gewerkschaftsbewegung?
Ilya: Neben der Arbeit in den Gewerkschaften ist die Arbeit in den sozialen Bewegungen, hauptsächlich in der Bewegung zur Wohnungsfrage, ein wichtiges Arbeitsfeld. Die Bewegung zur Wohnungsfrage ist die soziale Bewegung mit zurzeit dem größten Einfluss in Russland. Hier werden wirklich Tausende von Menschen angesprochen, welche sich selbst in den Stadtteilen organisieren. Die Leute, die in den betroffenen Stadtteilen wohnen, sind oft damit konfrontiert, dass große Einkaufszentren und dergleichen errichtet werden. Um Platz zu schaffen für diese Großprojekte, müssen oft öffentliche Anlagen, wie z. B. Parks, weichen. Ein weiteres Problem, vor allem in der Stadt Moskau, ist die zunehmende Gentrifizierung, wogegen sich in fast allen Distrikten der Stadt selbst organisierte Gruppen gebildet haben. Wir arbeiten in Moskau aktiv in der Städtekoordination der Protestgruppen mit, in der alle Gruppen, die gegen die Kommerzialisierung und weitere Privatisierung von Grund und Boden vorgehen, zusammengefasst sind. Wir haben zusammen mit anderen Kräften auch das städtische Referendum im letzten Jahr vorbereitet, das zu einigen Fragen des Wohnungsproblems abgehalten wurde.

Kam es im Zuge eures Kampfes gegen die Privatisierung und Kommerzialisierung zu Besetzungen?
Ilya: Nein, zu Besetzungen kam es nicht. Allerdings kommt es des Öfteren zu Konfrontationen mit den Bauunternehmen und der Polizei, die die Unternehmen unterstützt.

Gibt es noch andere soziale Bewegungen, in denen ihr arbeitet?
Ilya: Wir haben uns an den verschiedenen Kampagnen gegen die Privatisierung der Bildung und der Kürzung des Budgets für die Schulen und Universitäten beteiligt. Die neoliberale Reform der höheren Bildung, die hauptsächlich verbunden ist mit dem Bologna-Prozess, der in den russischen Bildungseinrichtungen immer stärker umgesetzt wird, ist ein Bereich, wo wir aktiv sind.
Darüber hinaus spielt für uns die Frage des Antifaschismus in der letzten Zeit eine zunehmend wichtiger werdende Rolle. Vor einem Monat, am 19. Januar, gab es die stärkste antifaschistische Demonstration, die jemals in Moskau stattfand. Dies war eine Gedenkdemonstration in Erinnerung an Stanislav Markeiov, der ein bekannter linker Anwalt war und sich aktiv für die Verteidigung von Antifaschist­Innen, sowie von friedlichen tschetschenischen Menschen einsetzte, die unter dem Druck der Lokalregierung geraten waren. Stanislav war ein Anwalt mit ziemlich klaren politischen Positionen, er war links und ein Antifaschist. Er wurde am 19. Januar 2009 im Zentrum von Moskau ermordet. Jetzt stehen zwei Angeklagte wegen seiner Ermordung vor Gericht, die beide Mitglieder von Nazi-Untergrundgruppen sind. Wir haben aktiv an dem Organisationskomitee für diese Demonstration mitgewirkt.

Kann man in der letzten Zeit von einem Anstieg der faschistischen Bewegung in Russland sprechen?
Ilya: Wir denken nicht, dass wir zurzeit eine faschistische Massenbewegung in Russland haben. Es existieren bislang keine starken faschistischen Parteien, nur einige Organisationen, die aber noch weit davon entfernt sind, wirkliche rechtsextreme oder faschistische Parteien mit Massenunterstützung darzustellen. Allerdings sind die Faschist­Innen sehr aktiv als eine Kraft auf den Straßen, d. h. sie treten hauptsächlich in Form von Gangs auf, die Migrant­Innen und Antifaschist­Innen angreifen.

Wie ist die Akzeptanz linker Politik heute in Russland. Gibt es starke antilinke bzw. antikommunistische Ressentiments?
Ilya: Der Hauptprozess, den es in Russland seit den letzten zehn Jahren gibt, und der eng verknüpft mit dem Aufbau von Putins politischem Regime ist, ist der Prozess der Massenentpolitisierung der Gesellschaft. Das heißt, dass nicht nur linke Politik, sondern die Idee der politischen Mobilisierung und der Selbstorganisierung überhaupt sehr marginal geworden ist. Dies ist verbunden mit antilinker bzw. antikommunistischer Propaganda. Man kann aber nicht behaupten, dass es zu viel Politik in der Massenpropaganda gibt, da das Hauptziel des heutigen politischen Regimes in Russland ist, die Menschen in erster Linie nicht gegen Linke zu mobilisieren, sondern sie zu entpolitisieren. Dies steht auf der politischen Agen
da des heutigen politischen Regimes. Es ist ein sehr eigenartiger Mix der verschiedenen politischen Identitäten. Auf der einen Seite gibt es die sehr aggressive neoliberale Politik der Regierung, zu der es keinerlei klare und sichtbare Alternative gibt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man sagen, dass es einen sehr strengen neoliberalen Konsens in der herrschenden Klasse Russlands gibt. Zeitgleich entwickelt sich aber auch eine patriotische Propaganda, welche einige traditionelle russische Referenzen zu der orthodoxen Kirche und den Weißen Garden während des russischen Bürgerkriegs pflegt. Das Gedenken an die weißen „Helden“ ist sehr verbreitet, während zur gleichen Zeit einige Referenzen zum Stalinismus beibehalten werden. Der Stalinismus wird dabei nicht als ein soziales System wahrgenommen, sondern als eine Aneinanderreihung von Symbolen, wie einige patriotische Interpretationen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Glorifizierung der Größe Russlands während der stalinistischen Zeit. Das bedeutet für uns, dass unter solchen Bedingungen es sehr schwierig ist, sozialistische, demokratische und revolutionäre Ideen zu verbreiten. So etwas verstehen die Menschen heute in Russland einfach nicht. Es existieren eine Reihe von Klischees, wie dass mensch liberal und für die Demokratie sein kann, oder patriotisch, für Stalin und die orthodoxe Kirche. Aber wenn man sagt, die Sachen sind ein wenig komplizierter, wir sind für Demokratie aber nicht für die USA, ist es schwierig, dies zu vermitteln. Auch verstehen viele Menschen es nicht, wenn mensch sagt, dass man einE SozialistIn bzw. KommunistIn ist und gleichzeitig Antistalinist. Das ist ein großes politisches Problem für uns.

Welche Rolle spielt die Kommunis­tische Partei heute in Russland?
Ilya: Was ihre Größe angeht, ist die Kommunistische Partei nach wie vor eine Massenpartei. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verlor sie recht schnell einen Großteil ihrer Mitglieder, was unserer Auffassung nach aber nicht bedeutet, dass die KP sich auflösen wird. Anders als in der Entwicklung der Mitgliedschaft konnte die Partei in den letzten Wahlen diverse Erfolge einfahren. Sie wird von den Menschen nicht aufgrund eines sozialistischen Programms gewählt, sie erscheint in dem aktuellen politischen System vielmehr als die einzige Oppositionspartei. Es ist die einzige politische Partei, die fähig ist, den sozialen Protest auszudrücken. Heutzutage setzt die Leitung der KP auf nationalistische und patriotische Rhetorik. In einigen wichtigen politischen Fragen unterstützt sie vollkommen die aktuelle Politik der Regierung, z. B. während des Krieges mit Georgien. In dieser Frage hat sich die kommunistische Partei vollkommen auf die Seite der Regierung gestellt. Links von der kommunistischen Partei gibt es eine Reihe von linken Gruppen, hauptsächlich stalinistischer bzw. pro-stalinis­tischer Natur. Im Laufe der letzten zwei Jahre gibt es aber auch einen Aufstieg der anarchistischen Bewegung in Russland, welche in vielen Orten ziemlich präsent ist.

Gibt es eine Rezeption von Trotzkis Ideen in Russland heute oder ist es eher ein weißer Fleck in der Bewegung?
Ilya: Wie du sicherlich verstehst, gab es eine jahrzehntelange antitrotzkistische Propaganda, daher ist es generell heute noch schwierig, über Trotzki zu diskutieren, aber während der letzten Jahre können wir ein wachsendes Interesse an ihm feststellen. Selbst einige große Verlage haben jetzt einige Schriften von Trotzki veröffentlicht wie z. B. „Mein Leben“, „Die Geschichte der russischen Revolution“, einige Bände mit ausgewählten Werken und so weiter. Vor zwei Jahren haben ein Genosse aus Moskau und ich einen großen Verlag angefragt, ob sie nicht eine Kollektion von Trotzki-Texten zur Gründung der linken Opposition veröffentlichen wollen, was sie dann auch taten. Die Bücher wurden sogar in den großen Buchläden Moskaus vorgestellt. Es gibt also ein Interesse an diesen Schriften. Abgesehen davon gibt es aber auch immer mehr „Bullshit“ zu Trotzki, wie z. B. ein großer Dokumentarfilm auf dem ersten Sender des russischen Fernsehens, der „Trotzki und die Konspiration der Weltrevolution“ genannt wurde. Die Haupt­idee war, dass Lenin deutsches Geld genutzt hat, um die Revolution zu machen, was als ein Fakt dargestellt wurde, den heute niemand mehr bestreiten würde. Jetzt seien allerdings, so der Film, einige neue Fakten bei der wissenschaftlichen Auswertung von Archiven und Dokumenten aufgetaucht, die erhärten, dass Lenin ein deutscher Spion und Trotzki ein englischer Spion war. Das ist die Hauptaussage des zweistündigen Films, in dem zahlreiche „Experten“ und „Historiker“ zu Wort kommen. Im letzten Jahr, zum Jahrestag der Ermordung Trotzkis, gab es einige weitere Dokumentationen auf demselben Niveau. Trotzki sei ein Teufel, der Mephistopheles der russischen Revolution. Aber diese Dokus zeigen, dass das reale Interesse an Trotzki wächst. Wenn das zentrale Fernsehen drei, vier große Dokus über ihn macht, scheint das Thema von gewisser gesellschaftlicher Relevanz zu sein.

Vielen Dank für das Interview.

Weitere Infos zu Vpered im Internet: www.vpered.org.ru

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