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Der griechische Generalstreik vom 19. und 20. Oktober

Von Pandelis Afthinos & Andreas Kloke* | 01.11.2011

Der 48-stündige politische Generalstreik vom 19. und 20. Oktober war ein weiterer Höhepunkt des Klassenkampfes und brachte in unmissverständlicher Weise die Absicht der Arbeitenden und der Mittelschichten zum Ausdruck, die Regierung zu stürzen.

Die Demonstrationen am Mittwoch, dem 19. Oktober, zählten allein in Athen 400-500 000 TeilnehmerInnen und in Griechenland insgesamt etwa eine Million. Sie waren damit die größten seit dem Sturz der Junta 1974 und zeigen in absoluter Deutlichkeit das gewaltige Ausmaß der sozialen Unzufriedenheit sowie die Entschlossenheit der arbeitenden Massen, gegen die barbarische kapitalistische Politik der Regierung, Bankiers und Koryphäen der Troika anzukämpfen und sie zu stürzen. Der Generalstreik war auch in bester Weise durch die Streiks in verschiedenen Branchen und durch Besetzungen von Ministerien, Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden vorbereitet.

Damit trat ein ernsthaftes Problem der Regierung zutage, das „normale“ wirtschaftliche Leben und der Staatsverwaltung aufrechtzuerhalten. Die Schärfe des bewussten Bruchs der Protestierenden mit der herrschenden Politik und ihres aufgestauten Zorns, der sich an diesen Tagen entlud, wurde offenbar. Von den Platzbesetzungen im Juni gingen die Streikenden zu Besetzungen öffentlicher Verwaltungsgebäude über, was auf eine qualitativ neue Situation hindeutet. Allerdings waren noch keine Besetzungen von Firmen und Arbeitsplätzen zu beobachten. Die Massenversammlung am nächsten Tag, dem 20.10., auf dem Syntagma-Platz war auch beträchtlich und brachte etwa 100 000 Streikende zusammen, war aber nicht ausreichend, um die Abstimmung der 41 Artikel des neuen Gesetzesentwurfs im Parlament zu verhindern. Es handelt sich hier um einen Maßnahmenkatalog, der sich in schwerster und unerträglicher Weise auf das Leben von Millionen von ArbeiterInnen, RentnerInnen und Arbeitslosen auswirken wird.

Ein weiteres Mal begegnete den Protesten brutale Polizeigewalt. Alle Aktiven der Bewegung können der Familie und den Genossinnen und Genossen von Dimitris Kotsaridis, der der Polizeirepression zum Opfer fiel und auf der Demonstration gegen die Regierung des sozialen Kannibalismus und des blinden Gehorsams im Dienst des nationalen und internationalen Kapitalismus getötet wurde, nur ihr wärmstes Beileid aussprechen: Der Sturz des bestehenden Systems und der Sieg der Arbeitenden werden die einzig wirksame Vergeltung für den Verlust des Kämpfers D. Kotsaridis in seinem Andenken darstellen.
Rolle des Reformismus
Zu der Tatsache, dass sich die Streik-Mobilisierungen als nicht ausreichend erwiesen, dem Vormarsch der kapitalistischen Aggression den Weg zu versperren, trugen die Führungen der beiden im Parlament vertretenen linken Parteien entscheidend bei. Der Vorsitzende der linksreformistischen Allianz SYRIZA, Alexis Tsipras, prangerte die Verschwörung des Schweigens seitens der Regierung an, mit der sie ihre Politik verhüllt, beschränkte seine oppositionelle Haltung jedoch auf die Forderung nach Wahlen. Er blieb damit nicht nur weit hinter den Bedürfnissen der Mehrheit der Arbeitenden, sondern auch hinter ihrer Bereitschaft, einen radikalen sozialen Umsturz in die Tat umzusetzen, zurück.

Dennoch steht außer Frage, dass die KP Griechenland (KKE) und ihre Gewerkschaftsfront PAME an diesen Tagen die übelste und negativste politische Haltung eingenommen haben. Die Führung von PAME nahm den Tag der Einkreisung des Parlaments zum Anlass, ihren Demonstrationsblock vor dem Parlament aufziehen zu lassen und es auf eine solche Weise „einzukreisen“, dass der Rücken des Demoblocks dem Parlament zugewandt war. Im Wesentlichen bezweckte diese Haltung, das Parlament vor möglichen radikalen und auf Konfrontation ausgerichteten Demonstrierenden, die den Platz überfluteten, abzusichern. Diese Absicht war eindeutig, obwohl PAME, die sich seit vielen Jahren in sektiererischer Manier immer wieder von allen anderen Demoblocks fernhält, diesmal mit den anderen Teilen der Bewegung, den Gewerkschaften, den Verbänden und den politischen und sozialen Organisationen in Kontakt stand, wenn auch in der beschriebenen Weise, sozusagen als Schutztruppe des „Hohen Hauses“. Der Block von KKE und PAME, dessen Mitglieder in voller Montur auftraten, hinderten alle anderen Blöcke daran, sich vor dem Parlament aufzustellen. Die Ordner des PAME-Blocks gingen mit physischer Gewalt vor und schlugen auf Mitglieder verschiedener anderer Blöcke ein, die sie als „gefährlich“ einschätzten. Damit noch nicht zufrieden gingen KKE und PAME zu einer Verdrehung der Tatsachen und zu Agenten-Bezichtigungen im bewährten stalinistischen Stil über.

Es ist ganz unbestreitbar, dass die KKE im entscheidenden Moment ihrer Logik folgte, der zufolge es keine Bewegung außer ihr selbst gibt. Daher sind alle, die nicht die Partei unterstützen, ihre Feinde. Gleichzeitig sicherte sich die Partei Ehrenabzeichen, was ihre Kompromissbereitschaft und Gesetzestreue gegenüber der Regierung und dem System insgesamt betrifft. Sie tat alles in ihrer Macht Stehende, damit die Einkreisung des Parlaments keine wirkliche Abriegelung wurde und sich auf einen zwar massiven, aber friedlichen sowie letztlich harmlosen und wirkungslosen Protest nach bekanntem Muster beschränkte.

Die KKE-Führung ist vollkommen auf die Spielregeln des Parlamentarismus fixiert und bereitet die Kräfte der Partei auf die zu erwartenden Entwicklungen vor. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in den nächsten Wochen Wahlen ausgerufen werden. KKE möchte sich für diesen Fall als verantwortliche Partei der Linken in Szene setzen und als zuverlässige Opposition erscheinen, die subversive und auf Konfrontation ausgerichtete Praktiken konsequent ablehnt. Diese Haltung ist unabhängig davon, welche Regierung zustande kommen wird, die Alleinregierung einer Partei oder eine Regierung der „nationalen Einheit.“

Wegen dieser Praktiken wurde PAME von Tausenden AktivistInnen, die an der Mobilisierung beteiligt waren, verurteilt. Trotzdem muss betont werden, dass diese berechtigte und prinzipiell politisch korrekte Kritik an der Haltung von PAME in keiner Weise den Angriff auf den PAME-Block rechtfertigt, der mit Steinen, Brettern, Rauchbomben und Molotowcocktails von Mitgliedern einiger Gruppen erfolgte, die sich dem antiautoritären und anarchistischen Spektrum zuordnen.
Verhaltensweisen, die die Anwendung von Gewalt innerhalb der ArbeiterInnenbewegung fördern, sind nicht akzeptabel, da sie sich nicht gegen die Kräfte der Repression richten und sich destruktiv auf die Entwicklung der Bewegung selbst auswirken. Diese Praktiken führten tatsächlich dazu, dass eine außerordentliche Manifestation der Wut der Arbeitenden ergebnislos abgebrochen wurde, und boten darüber hinaus den bürgerlichen Propagandisten die Gelegenheit, von einer Art Bürgerkrieg zu sprechen, der einen Teil der Arbeitenden abschreckt, die zum ersten Mal an derartigen Protesten und Demonstrationen teilnehmen.
Agenten?
Dass sich einige Gruppen aus dem autonom-anarchistischen Spektrum in ihren Erklärungen gegen den Stalinismus der KKE wandten und den gewalttätigen Angriff als Volkszorn gegen die Logik der PAME, die die Bewegung insgesamt für sich vereinnahmen will, darstellten, kann und darf niemanden überzeugen. In Wirklichkeit folgen diese Gruppen selbst der gleichen Logik, wenn sie bei jeder Demonstration auf völlig willkürliche und unkontrollierte Weis
e zu Gewaltakten übergehen und den organisierten Massenblöcken nicht die Möglichkeit geben, ihre eigenen Absichten in die Praxis umzusetzen.

Man darf diese Gruppen aber nicht vorschnell als getarnte Teile des halbstaatlichen Sicherheitsapparats denunzieren. Es ist klar, dass die Anonymität des autonom-anarchistischen Spektrums und das Tragen von „Kapuzen“ auf der Straße sie anfälliger für Polizeispitzel machen. Dennoch ist es inakzeptabel, alle diese Gruppen im Handumdrehen als halbstaatliche Mechanismen und Polizeiagenten abzuqualifizieren. Im Übrigen war der Block von Menschen, der den Angriff auf PAME startete, völlig unorganisiert, ohne Transparente, und seine Zusammensetzung ist deshalb unbekannt. Der Erklärungsansatz, getarnte Provokateure der Polizei hätten den Angriff von langer Hand geplant und schließlich durchgeführt, wie KKE und PAME behaupten, ist unzureichend und führt zu keinen zutreffenden politischen Schlussfolgerungen.

Der wirkliche Hintergrund für das Auftreten solcher Verhaltensweisen ist der Gewaltfetischismus als Mittel zur Lösung politischer Konflikte. Dieser Fetischismus findet in einem gewissen Milieu, vor allem unter den Jugendlichen, fruchtbaren Boden. Es handelt sich um eine Art Fixierung auf gewalttätiges Verhalten, das letztlich weit von politischen und organisierten Protestformen entfernt ist, die dem System tatsächlich gefährlich werden könnten. Der Brand der Marfin-Bank vom 5. Mai 2010, bei dem drei Bankangestellte ums Leben kamen, ist in dieser Hinsicht charakteristisch. Genauso typisch waren die Anschläge am Vortag auf einen Block der Lehrer/innen und am folgenden Tag auf KKE-Mitglieder sowie auf Stadtteil-Büros der Partei, die im Stil einer Mafia-Fehde verübt wurden.

Unabhängig von den Medienberichten darüber, wer an den tätlichen Auseinandersetzungen auf dem Syntagma-Platz die Hauptschuld trägt, steht außer Frage, dass die Logik von KKE verfehlt ist, nämlich „vernünftige“ und „friedliche“ Demonstrationen ohne jede Aussicht auf eine Zuspitzung durchzuführen, und sich damit gegen eine Stimmung zu wenden, die einen massenhaften Zusammenstoß nicht ausschließt. Gleichermaßen ist aber die Taktik der unkontrollierten Gewalt zu verurteilen, da sie auf sinn- und zwecklose Zerstörungsakte hinausläuft und den Zielen der Arbeiter-und Volksbewegung zuwiderlaufen. Auch die ausdrückliche Verurteilung der Polizeifunktion, die die PAME-Leitung innerhalb der Bewegung übernommen hatte, rechtfertigt in keiner Weise die Attacken mit Molotowcocktails, auf streikende Demonstranten von PAME. Derartige Praktiken können nur Abscheu und Empörung hervorrufen. Die Antwort auf die Taktik von KKE und PAME muss in politischer Weise von der Bewegung selbst gegeben werden und nicht von anonymen Gruppen, die angeblich die Volksstimmung widerspiegeln. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Ausrichtung der Kommunistischen Partei, in der ersten Reihe die Verteidigung der bürgerlichen Institutionen zu übernehmen, sowohl kurz- als auch langfristig für die Arbeiterbewegung nur destruktiv sein kann.
Zuspitzung noch unzureichend
Trotz allem fehlte an den beiden Streiktagen aus verschiedenen Gründen eine auf Konfrontation ausgerichtete Massenstimmung, die ernsthaft auf eine Stürmung des Parlaments oder seine wirkliche Einkreisung abgezielt hätte. Dies war letztlich entscheidend und verdeutlichte, dass der zündende Funke noch nicht vorhanden war. Am Mittwoch (19.10.) näherten sich Streikende dem Zaun und warfen ihn um, aber keine größeren Massen waren daran beteiligt. Am Donnerstag war von derartigen radikaleren Kampfformen kaum etwas zu bemerken. Trotzdem kann nur durch eine derartige Radikalisierung der Massenstimmung die Logik von PAME und der genannten antiautoritär-autonomen Gruppen, die Bewegung insgesamt repräsentieren zu wollen, überwunden werden. In den nächsten Wochen wird es darum gehen, die massenhafte Besetzung von öffentlichen Gebäuden (Rathäusern, Ministerien etc.) und die Eskalation der Mobilisierungen mit Dauerstreiks und der Lahmlegung der Produktion durch einen politischen Generalstreik mit der Forderung nach dem Sturz der Regierung fortzusetzen.
Wie weiter?
In diesem Sinn darf weder PAME noch sonst irgendeiner Gruppierung das Recht zugestanden werden, sich allein „in erster Reihe vor dem Parlament“ aufzustellen. Ein ernsthafter Vorschlag für die Bewegung und die Art ihres Auftretens hat sich an politischen Kriterien und Zielsetzungen zu orientieren und nicht an journalistischen Kommentaren aus der Beobachterrolle. Die vorrangige Aufgabe aller antikapitalistisch-revolutionären Kräfte besteht in der nächsten Zeit darin, eine Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung aufzubauen, die im Sinn der Arbeitereinheitsfront auftritt und auf dieser Basis in den kommenden Streiks, Demonstrationen und Besetzungen dominant wird. Diese Strömung wird mit der miserablen Kompromissbereitschaft und Kapitulationspolitik der Gewerkschaftsbürokratie, der Logik der Militärpolizei in der Bewegung, wie sie von PAME repräsentiert wird, und dem Gewaltfetischismus gewisser Gruppen aus dem autonom-anarchistischen Spektrum in eine unversöhnliche Auseinandersetzung geraten. Was wir brauchen, ist eine politische Arbeiter/innen-Bewegung, die die Regierung, die Bankiers, die EU und den IWF auf den Müll schickt und schließlich dem Sturz der bürgerlichen Gesellschaft und der sozialistischen Umgestaltung der Verhältnisse den Weg ebnet.

Leider zeigt die Stellungnahme von ANTARSYA Unverständnis für die wirklichen politischen Ziele der KKE-Führung. Die einheitliche Aktion und die Einheitsfront der ArbeiterInnenbewegung dürfen nicht unter den von PAME postulierten Bedingungen erfolgen. Die Kämpfe, die dem Generalstreik vorangegangen sind, haben gezeigt, dass sich diese Einheitsfront im Sinn der wesentlichen qualitativen Kriterien der Massenbewegung selbst herausbilden kann und muss. Die Stellungnahme des zentralen Koordinierungskomitees von ANTARSYA bedeutet dagegen ein Zurückweichen vor der von der KKE-Führung verfolgten Politik und ist daher unzureichend.

* Die beiden Autoren sind Mitglieder der OKDE-Spartakos, griechische
Sektion der IV. Internationale.

ANTARSYA
ANTARSYA ist ein 2009 gebildetes Bündnis der antikapitalistisch-revolutionären Linken Griechenlands mit – unter anderen – den beiden wichtigsten Organisationen der revolutionären Linken und mit OKDE-Spartakos, der griechischen Sektion der IV. Internationale. Die Studierendenorganisation EAAK steht ANTARSYA nahe.

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