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Innenpolitik

Demografischer Wandel – ein neoliberaler Mythos

Von Walter Weiß | 28.04.2015

In den politischen Diskursen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit – Stichwort: Rente ab 67 – und zur privaten Altersabsicherung – Stichwort: ­Riester-Rente – ­befördern die neoliberalen Zauberlehrlinge den demografischen Wandel aus dem Zylinder, um ihre flächendeckenden Konterreformen auf diesem Feld zu legitimieren. Einer seriösen Überprüfung hält diese Argumentation nicht stand.

Das Segment der älteren Menschen an der Bevölkerung nimmt sei Jahrzehnten deutlich zu. Das stellt zweifellos eine große sozialpolitische Her­ausforderung, insbesondere in den Bereichen Betreuung und Pflege, dar. Die Gründerepoche des rheinischen Kapitalismus brachte den Sozialstaat hervor, quasi als historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit. Die Wohnverhältnisse großer Teile der arbeitenden Klasse verbesserten sich in signifikanter Weise. Das Wohnelend – wie im Film „Kuhle Wampe“ dargestellt – gehörte zum großen Teil der Vergangenheit an. Sogar Wohneigentum wurde für breitere Bevölkerungsschichten zur Realität. Eine flächendeckende Krankenversicherung, Fortschritte in der gesundheitlichen Therapie, der Medikation, Heilverfahren etc. steigerten die Lebensqualität und somit die Lebenserwartung. Wachsende Mobilität durch den massiv expandierenden Individualverkehr und die Möglichkeit Urlaub auch im Ausland zu realisieren, erhöhten außerdem das Lebensniveau. Aktuell liegt die Lebenserwartung in der BRD bei Frauen bei 83 und bei Männern bei 78 Jahren. Folgt man den neoliberalen Ideologen, dann tickt hier eine demografische Zeitbombe. Dies ist eine bewusste Täuschung, denn die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Demografie und Produktivität

Immer weniger Erwerbstätige müssten die „Rentnerlawine“ finanzieren, klagen die Hohepriester neoliberaler Austeritätsprogramme und fordern zur Sicherung der gesetzlichen Rentenversicherung (GVR) eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Ein kurzer Blick in die Geschichte führt diese Diskussion ad absurdum. Zur Reichsgründung waren 13,2 Lohnabhängige nötig, um die Altersrente eines Menschen zu finanzieren. Im Verlauf der Industrialisierung in der wilhelminischen Epoche waren es 12 Erwerbstätige am Anfang des 20. Jahrhunderts und heute sind es nur noch vier Arbeitende. Im letzten Jahrhundert hat sich die Zahl der Rentner­Innen verdreifacht und zumindest unter sozialstaatlichen Bedingungen hat sich ihr Leben in Vergleich zu früheren Epochen deutlich verbessert.

Der Grund ist die permanent steigende Arbeitsproduktivität, die die Apologeten wirtschaftspolitischer Kürzungsprogramme diskret unter den Tisch fallen lassen. Der Schritt vom Handwerk über die Manufaktur zur großen Industrie, die Einführung der Dampfmaschine, die Elektrifizierung und die dritte technologisch-wissenschaftliche Revolution haben die Produktionssphäre kontinuierlich revolutioniert und die Arbeitsproduktivität nach oben katapultiert. In der Agrarindustrie stieg sie in wenigen Jahrzehnten um satte 500 % ! Heute haben Betriebe mit halbierten Belegschaften den gleichen oder höheren Output als wenige Jahre zuvor. Der schamvoll verschwiegene Produktivitätsfortschritt ist des Rätsels Lösung.

„Produktivität schlägt Demografie“ merkt zu Recht der Mathematiker und Statistiker Professor Gerd Bosbach an und kritisiert, dass der demografische Wandel als universelle Entschuldigung für viele Varianten des Sozialabbaus herangezogen wird. Und würde der Produktivitätsfortschritt in den nächsten 50 Jahren im Durchschnitt um 1 Prozent ansteigen, dann würden pro Arbeitsstunde 2 Drittel mehr hergestellt, der Beitrag zu Rente könnte – einschließlich des Arbeit„geber“anteils – locker angehoben werden und den Lohnabhängigen blieben nach aktuellen Berechnungen 50 % mehr in der Tasche. Dafür müsste die arbeitende Klasse am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden. Wir haben es ergo schlicht mit einem Verteilungsproblem zu tun und das muss auf dem klassenpolitischen Terrain ausgefochten werden!

Private Altersvorsorge

Glaubt man die Mär vom demografischen Wandel, dessen Zeitpunkt und topografischer Ort im Verborgenen bleibt, dann ist bei sinkenden Renten eine private Altersvorsorge zur Sicherung des Lebensstandards im Alter auf den ersten Blick sinnvoll. Dieser Privatisierung der Sozialsysteme hat die Agenda-Regierung Schröder Tür und Tor geöffnet. Schon heute leben 6 Millionen Menschen mit einer Rente unter 500 Euro und 72 Prozent haben gerade mal bis zu 1000 Euro. Da die Armutsgrenze zurzeit bei 979 Euro liegt, gibt es nicht wenige, die Altersarmut betroffen sind, und ihre Zahl steigt in den nächsten Jahren deutlich. Hier verweisen wir auf den neuen Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes.

Nebenbei: Nachdem der Weg zur Privatisierung bereitet war, sanken die Parteispenden seitens der Allianz, Hamburg Mannheimer etc. deutlich. Lobbyisten sind eben unsentimental und realistisch.

Und über die 19-prozentige Versicherungssteuer sicherte sich der bürgerliche Staat ein großes Stück vom Kuchen. Dessen Klassencharakter wird in der Steuerpolitik offensichtlich, wenn die Lohnsteuer von 1977 bis 2002 von 30 % auf 36 % steigt und die Grund- und Vermögenssteuer im gleichen Zeitraum von 29 % auf 13 bis 14 % sinkt. Letztere wird seit 1997 nicht mehr erhoben.

Obwohl wir einen aktuellen Beschäftigungsstand von 43 Millionen Menschen haben, findet dies nur einen begrenzten Niederschlag in der Rentenversicherung und den anderen sozialen Sicherungssystemen. Die mäßig bis schlecht entlohnten Erwerbstätigen im prekären Sektor können das Rückgrat der Rentenkasse nicht stärken und sie können sich schlicht keine substanzielle private Altersvorsorge leisten und finanzieren, denn sie leben in dem Land mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa. Und ein eventuell vorhandenes Schutzvermögen wird beim Antrag auf Grundsicherung im Alter hinfällig, da den Betroffenen nur 2600 Euro zugebilligt werden. Das reicht nicht einmal für eine anständige Bestattung und ein Grab.

Die privaten Absicherungs­systeme sind alles andere als sicher. Die gesetzliche Rentenversicherung hat immerhin zwei Weltkriege und den Faschismus überstanden. In einer Epoche, in der Weltreiche wie das sogenannte Sowjetimperium, der Pfauenthron und relevante Banken (z. B. Dresdner Bank) wie in der „Finanzkrise“ untergegangen sind, sollte man der Allianz, der Hamburg Mannheimer u. a. keinen ewigen Bestand attestieren.

Fazit

Der demografische Wandel ist eine sozialpolitische Fata Morgana, eine schlichte Lüge zur Bedienung neoliberaler Interessenlagen, von kritischen Wissenschaftlern gerne auch als „Methusalem-Lüge“ bezeichnet. Allerdings eine Lüge, die von unternehmerfinanzierten Instituten und marktorientierten Medien wirkungsvoll verbreitet und in den Köpfen vieler Menschen verinnerlicht wird. Unter anderem sind seriöse Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung kaum möglich, denn Wirtschaftskrisen, Kriege, Flüchtlingsbewegungen, Naturkatastrophen und die Bedrohungen des Weltklimas sind Variablen, die den prognostischen Weitblick als das entlarven, was er immer schon war: reine Kaffeesatzleserei!

Aber n
och immer gilt Voltaires Wort, dass man einer hundert Mal gehörten Lüge mehr glaubt als einer einmal gehörten Wahrheit.

Der Umverteilung von unten nach oben kann nur durch breiten sozialen Widerstand entgegen gewirkt werden, in dessen Zentrum der proletarische Klassenkampf steht.

TiPP
Bernd Kistler,  Die Methusalem-Lüge Gerd Bosbach/Jens Jürgen Korff, Lügen mit Zahlen

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