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Betrieb & Gewerkschaft

Das System zu Gast in Nordhausen

Von Philipp Xanthos | 01.09.2007

Zum großen Teil scheinen die ArbeiterInnen in der BRD nicht am Klassenkampf interessiert zu sein – doch lange aufgeschoben bricht er sich wohl partiell mit umso größerer Wucht und Verzweiflung seine Bahn. Möglichkeit und Perspektive von „Massensponanität“ angesichts einer marginalisierten radikalen Linken, die in den Betrieben verankert ist, – Dreh- und Angelpunkt zahlreicher marxistischer Diskussionen –, lassen sich dann im hellen Licht der gesellschaftlichen Ereignisse bestaunen. So auch bei den Vorgängen in und um die Fahrradfabrik Bike Systems in Nordhausen.

Zum großen Teil scheinen die ArbeiterInnen in der BRD nicht am Klassenkampf interessiert zu sein – doch lange aufgeschoben bricht er sich wohl partiell mit umso größerer Wucht und Verzweiflung seine Bahn. Möglichkeit und Perspektive von „Massensponanität“ angesichts einer marginalisierten radikalen Linken, die in den Betrieben verankert ist, – Dreh- und Angelpunkt zahlreicher marxistischer Diskussionen –, lassen sich dann im hellen Licht der gesellschaftlichen Ereignisse bestaunen. So auch bei den Vorgängen in und um die Fahrradfabrik Bike Systems in Nordhausen.

Spontan entschlossen sich die 135 Beschäftigten dort am 10. Juli, das Werk zu besetzen, als sie erfahren hatten, dass nicht genug Geld vorhanden sei, um ihre einige Wochen zuvor verkündeten Entlassungen sozial abzufedern. Offenbar war jedoch gerade diese Belegschaft bislang überhaupt nicht als kämpferisch aufgefallen. Die Abschaffung von Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie Lohnkürzungen hatte sie zuvor hingenommen. Wie vielerorts wurde ihr dafür Sicherheit für ihre Arbeitsplätze versprochen. Und wie vielerorts hat das Kapital mit Freude zur Kenntnis genommen, dass man sich nicht wehrt, um dann mit doppelter Härte zuzuschlagen. Selbst eine gewerkschaftliche Organisation war kaum vorhanden, mensch fühlte sich wie eine große Familie. Und so standen die ArbeiterInnen von Nordhausen im Nachhinein von ihrer eigenen Courage selbst verwundert da.
Die Lone-Star-Methode
Die angeblich mittellose Eignerin von Bike Systems ist die Investmentgesellschaft Lone Star (benannt nach dem einzelnen Stern in der texanischen Flagge) mit Sitz in Dallas. Deren Geschäft besteht im Aufkaufen von „faulen Krediten“, die Gläubigerbanken gerne loswerden, und deren optimaler Verwertung. Erster Schritt: Gerichtstitel erwirken, zweiter Schritt: Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung. Ursprünglich nur im Immobilienbereich dehnte Lone Star ihr Treiben auch auf die Firmenwelt aus. So lässt sich mit dem bloßen Ausdrucken und Unterschreiben von Papier eine Profitrate von stattlichen 22 % erwirtschaften. Mit der Schließung von Bike Systems und der Verschacherung sämtlicher Aufträge und Materialien an die Mitteldeutschen Fahrradwerke (MIFA) in Sangerhausen ist nicht nur der Konkurrent für diese erledigt, sondern Lone Star hält nun auch 25 % an diesem Unternehmen, das mit massenhaft LeiharbeiterInnen und ohne Betriebsrat Billigfahrräder für Baumärkte und Discounter produziert. Die Schlinge der Profitmaximierung schließt sich also schon um das nächste Opfer. Während dessen sieht sich die Geschäftsleitung jedoch nicht in der Lage, die gesetzlich vorgeschriebenen Kündigungsfristen von wenigen Monaten einzuhalten – die meisten der Beschäftigten waren dort bereits seit Jahrzehnten tätig. Bis zum 1. August hatte allerdings niemand eine Kündigung erhalten.
Solidarität und Kreativität
Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, die auf einmal ihr Klassenbewusstsein entdeckt hatten, wurde bewegendes schöpferisches Potential freigesetzt, verbunden mit eiserner Disziplin. In drei Schichten bewachten sie von nun an selbst organisiert ihr Werk. Konsum von Alkohol untersagten sie sich selbst, mit allem wurde behutsam umgegangen. Die ArbeiterInnen, die viel Solidarität aus der ansässigen Bevölkerung erfuhren, waren auch von sich aus solidarisch mit der Bevölkerung: Sie organisierten Kinderfeste, spendeten an ein Kinderhospiz, gingen Blut spenden und anderes mehr. Entsprechend sah der Polizei-Einsatz aus, mit dem die Geschäftsleitung die „Bolschewistenscheißer“ aus ihrem todgeweihten Werk entfernen lassen wollte. Die Polizisten sahen sich außer zu nettem Geplauder mit ihren MitbürgerInen nicht zu weiteren Maßnahmen bereit und fuhren wieder ab.
Enttäuschungen
Doch die so spontan kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter waren nach wie vor in vielen Illusionen gefangen. Von jeder einzelnen mussten sie sich durch die bloße Erfahrung frei machen. So setzten sie ihre Hoffnungen auf einen Anwalt, der ihre Interessen bezüglich eines Sozialplans geltend machen sollte. Dieser riet ihnen zu der unbeschreiblichen Torheit, treu dem Gesetz die noch auf dem Firmengelände befindlichen Materialien abtransportieren zu lassen, ja dabei tatkräftig zu helfen – immerhin war noch niemand offiziell entlassen worden. Somit gaben die KämpferInnen ein wichtiges Pfand einfach preis. Fernab von Lateinamerika waren ihre einzigen Perspektiven lediglich das Auffinden eines neuen Investors oder ein annehmbarer Sozialplan. Ebenso setzten sie Hoffnungen auf den TV-Sender RTL, der mit mehreren Infotainment-Formaten sehr gute Einschaltquoten erreicht. Nachdem ein Kamerateam von RTL mehrere Stunden auf dem Gelände gefilmt hatte, kam am nächsten Tag kein Beitrag von zwei Minuten, nicht einmal von 30 Sekunden, sondern gar keiner. Ein Anruf aus Köln unterrichtete die ArbeiterInnen davon, dass der Bericht von oben abgesagt worden sei. Wie Seifenblasen zerplatzten auch die Hoffnungen auf die große Politik. Während „linke“ und grüne LokalpolitikerInnen verbal ihre Solidarität bekundeten, nahm vom politischen Führungspersonal aus der Landeshauptstadt Erfurt niemand die Einladung der ArbeiterInnen an, nach Nordhausen zu kommen und sich ihrer Probleme zu widmen. Eine solche Einladung schlug auch Ministerpräsident Althaus aus – eine bittere Erfahrung für die ArbeiterInnen mit den „Volksvertretern“.
Fazit
Auch wenn der verzweifelte Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter von Nordhausen kein unmittelbares Ergebnis bringt, das die Anstrengung wert ist (zu Redaktionsschluss nicht absehbar), sind gerade die unvergänglichen Erfahrungen von großem Wert für die anstehenden Klassenkämpfe in der BRD. Die Kampfform der Betriebsbesetzung kommt in der BRD bislang fast nie vor, und wenn, dann unter Überrumpelung oder Umgehung der gewerkschaftlichen Apparate. Wenn es aber dazu kommt, dann ist damit jedoch, wie sich am Beispiel Nordhausen zeigt, keineswegs automatisch die Eigentumsfrage verbunden. Es ist Aufgabe von revolutionären MarxistInnen, die praktische Klassenkampferfahrung in subversiv-emanzipatorische Theorieentwürfe zu verwandeln, um die „Massen“ in ihrer „Spontanität“ nicht sich selbst oder gar ihren reformistisch-affirmativen Verführern zu überlassen.

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