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Innenpolitik

Das süße Gift der Reformpädagogik

Von Sophie Wegener-Stahlschmidt | 01.05.2010

Der folgende Diskussionsbeitrag zum Thema sexualisierte Gewalt und Pädagogik entstand aus Anlass der bekannt gewordenen Vorgänge an der Odenwaldschule, stützt sich aber auf eine längere Auseinandersetzung mit dem Thema.

Der folgende Diskussionsbeitrag zum Thema sexualisierte Gewalt und Pädagogik entstand aus Anlass der bekannt gewordenen Vorgänge an der Odenwaldschule, stützt sich aber auf eine längere Auseinandersetzung mit dem Thema.

„Vor etwa 20 Jahren wurde bekannt, dass einer unserer Kollegen min­destens vier seiner Schüler sexuell missbraucht hat. In der Schulgruppe der GEW haben wir zum damaligen Zeitpunkt die Frage des sexuellen Missbrauchs ausführlich diskutiert. Wir waren geschockt, zumal wir den Kollegen als hilfsbereit, solidarisch und freundlich kannten. Wir glaubten, den Kollegen zu kennen. Die geschädigten Schüler kannten wir nicht. Damals wurde der Kollege der Schule verwiesen und in einem Bereich beschäftigt, in dem er keinen Kontakt mehr mit Schülern hatte. Die damalige Schulleiterin sah in dem Lehrer einen hervorragenden Pädagogen und versuchte deshalb das Hausverbot und die getroffenen Maßnahmen zum Schutz der geschädigten und betrogenen Schüler immer wieder zu unterlaufen. Kollegen und Eltern mussten mehrfach gegen diese Versuche intervenieren. Die Schulleiterin konnte nicht mit den Schülern fühlen, sich nicht in ihre Lage versetzen. “
So weit meine Niederschrift der Vorkommnisse an unsrer Schule.
Schädigung
Missbrauchsopfer erleben sich ohnmächtig, schutzlos und ausgeliefert. Je nach Schwere des Missbrauchs führt der Missbrauch zu einer Abspaltung des Ichs und zu Gefühlskälte. Dies schützt die eigene Identität vor der Zerstörung. So haben Überlebende von sexuellem Missbrauch oft einen sechsten Sinn für Missbrauchssituationen, sie sind jedoch in diesen Situationen nicht handlungsfähig.
Die Beeinträchtigungen der Überlebenden durch sexuellen Missbrauch sind gravierend. Manche Überlebende können keine körperliche Nähe mehr zulassen. Die meisten können ihre Sexualität nicht so leben, wie sie es sich wünschen. Irrationale Ängste, Antriebslosigkeit, psychische Störungen und psychische Behinderungen, ständige Wachsamkeit und Anspannung, Schlaflosigkeit und Suchterkrankungen sind die Folge.

Einige Opfer werden selbst zu Tätern und auch Täterinnen. Sie fühlen sich nur sicher, wenn sie ihre Opfer beherrschen und kontrollieren können. Unsicherheit und offene Situationen können sie nicht aushalten. Die Erwachsenen, die Kinder und Jugendliche missbrauchen und misshandeln, sind Kinder geblieben, die sich mit erwachsenen Partnern nicht auseinandersetzen können. Auf Gleichheit basierende Beziehungen können sie nicht leben.. Sie umhüllen ihre Opfer und täuschen ihre soziale Umgebung mit einem süßen und giftigen Kokon. Sie sind Kinder mit einem viel zu großen Kleid.
Tatort
Die Familie ist Tatort und Ursprung für sexualisierte Gewalt, die familiären Abhängigkeiten und die Privatheit begünstigen sexuellen Missbrauch.
Kindesmisshandlung kommt in armen, sozial benachteiligten Gesellschaftsschichten deutlich häufiger vor als in bürgerlichen Familien. Dies trifft auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nicht zu. Die Täter sind Stiefväter, Väter, Onkel, Großväter, ältere Brüder, Verwandte und Freunde der Familie. Sie schmeicheln, drohen, schüchtern ein, erzählen Lügen, die die Kinder nicht als Lügen erkennen können. Die Kinder unternehmen oft vergebliche Versuche, sich zu schützen. Manchmal lieben sie die Missbraucher und wünschen sich nur, dass der Missbrauch ein Ende nehmen möge. Dies geschieht jedoch nie oder sie werden in einem Alter fallengelassen, in dem der Täter kein Interesse mehr an ihnen hat.
Die Täter sind keine Gelegenheitsdiebe
Sie sind immer Wiederholungstäter und handeln geplant. Wenn die geschädigten Kinder später den Missbrauch offenlegen, gelten sie als Nestbeschmutzer, das soziale Gefüge der Familie gerät ins Wanken. Das Wohl der Kinder wird dem Ansehen und dem Fortbestehen der Familie geopfert. Je größer das Ansehen der Täter, desto schwieriger ist es für die Opfer, sich zu wehren.
Odenwaldschule und Reformpädagogik
Ausgangspunkt meiner Recherchen war das Interview, das eine ehemalige Schülerin und zwei ehemalige Schüler der Odenwaldschule der Frankfurter Rundschau gegeben haben, „Ich glaube an die Ideale der Odenwaldschule“ (FR vom 24.3.2010). Die Odenwaldschule galt in Hessen als Flaggschiff der Reformpädagogik. Ihr zeitweiliger Leiter Gerold Becker und mit ihm acht andere Lehrer missbrauchten in den 70er und 80er Jahren mindestens 33 Schülerinnen und Schüler. Becker war bis 1999, als erste Missbrauchsvorwürfe gegen ihn durch einen Artikel der Frankfurter Rundschau öffentlich wurden, an verschiedenen Stellen im hessischen Schuldienst als Berater tätig. Er war Lebensgefährte von Hartmut von Hentig, der eine Autorität in der Pädagogik war. Vieles spricht dafür, dass von Hentig zumindest Mitwisser war.

Ärgerlich finde ich den „Odenwalddünkel“, der in einigen Gesprächsbeiträgen zum Ausdruck kommt. Jetzt weiß ich, dass ich mein schulisches Leben an einer „Staatsschule“ verbracht habe. Ich selbst bin bisher davon ausgegangen, dass ich seinerzeit Schülerin an einer öffentlichen Schule war, die ich bis vor Kurzem für genauso schlecht und gut hielt, wie andere Schulen, an der und in der viele Schülerinnen und Schüler gescheitert sind. Diese Schulen konnten wir nach Herzenslust kritisieren, und Vorstellungen entwickeln, wie eine gute Schule aussehen sollte.

Die Odenwaldschule ist eine private Schule mit obskurem Trägerverein. Das Schulgeld kann sich nur eine sehr kleine privilegierte Minderheit leisten. Die Raumverhältnisse an der Schule sind beengt. Es gibt externe Lehrer, die nur wenige Unterrichtsstunden erteilen, und interne Lehrer und Lehrerinnen, die neben ihrer Lehrertätigkeit auch noch Wohngruppen, Familien genannt, betreuen, und die so gut wie kein Privatleben haben. Einen Betriebsrat gibt es auch, der Betriebsratsvorsitzende leitete die E-mail einer ehemaligen Schülerin, die ihre Missbrauchserfahrungen schildert, an den Täter weiter. Dies wirft ein Licht auf die Machtstrukturen im Kollegium.
Vorläufige Bilanz meiner Recherche
Missbrauch lässt sich nicht völlig vermeiden. Ein wichtiges Kriterium dafür, ob eine Struktur vorliegt, die Machtmissbrauch begünstigt, ist zum Beispiel die Art und Weise, wie eine soziale Einrichtung, eine Gesellschaft, mit dem Missbrauch umgeht. Die Frankfurter Rundschau titelte zum Thema Odenwaldschule: „Leugnen, Wegsehen, Bagatellisieren, Relativieren, Ignorieren, Verdrängen, Bemänteln, Vertuschen, Beschwichtigen“. Was für eine Respektlosigkeit gegenüber dem Individuum!
Zum Beispiel Bagatellisieren und Beschwichtigen: Was mir sehr wichtig ist, wird für belanglo
s erklärt.

Zum Beispiel Vertuschen: Meine Erfahrungen, meine Wahrnehmungen werden negiert und nicht ernst genommen.
Eine demokratische Schule wird nicht durch einen illustren Zirkel aus der sozialen Oberschicht, deren antiemanzipatorische Traditionen teilweise bis ins Mittelalter reichen, geschaffen. Jedes Quäntchen Emanzipation und Demokratie wird erkämpft und muss verteidigt werden. Die Menschen, die heute die Missbraucher mit ihren Taten konfrontieren, und sie ihres viel zu großen Kleides berauben, leisten dazu einen bemerkenswerten und unterstützenswerten Beitrag. Ich liebe mutige Menschen.

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