Als die Gesundheitskrise im vergangenen Frühjahr in Italien eskalierte, übten die Bosse massiven Druck aus, damit die Produktion nicht stillgelegt wurde. Der Rubel musste rollen, auch wenn dies zur Folge hatte, dass die Arbeiter*innen zur Schlachtbank geschickt wurden und die Gesundheit in ganzen Regionen aufs Spiel gesetzt wurde. Bevor die Regierung schließlich am 22. März den Lockdown in der Industrie verfügte, hatte sich der Virus ungehindert ausbreiten können, nicht zuletzt infolge dieser unseligen Entscheidung. In der am stärksten betroffenen Region Bergamo, in der ich lebe und die zu den am dichtesten industrialisierten Zonen Italiens und Europas zählt, sind binnen zweier Monate 6100 Menschen gestorben – sechsmal so viele wie normal.
Dieselben Bosse, die ihre Interessen in unverantwortlicher Weise über unsere Gesundheit gestellt haben, vor allem die in der Metallindustrie, wollen jetzt, dass wir die Rechnung durch Einsparungen und Lohnverzicht bezahlen. Dabei haben die Arbeiter*innen bereits zum großen Teil die Rechnung bezahlt, sei es durch Kurzarbeit („Cassa integrazione“, die im Durchschnitt nur etwas mehr als die Hälfte des Gehalts zahlt), sei es durch die Entlassung von Hunderttausenden prekär Beschäftigten.
Die Confindustria (der 1910 gegründete italienische Industriellenverband) hat den Gewerkschaften offen den Krieg erklärt, und zwar ausgerechnet in der Person ihres im Mai neu gewählten Präsidenten Carlo Bonomi, vormals Industriellenboss in der Lombardei und damit Hauptverantwortlicher für die erzwungene Öffnung der Betriebe inmitten der Pandemie. Der neue Scharfmacher unter den Industriellen hat die landesweiten Tarifverträge direkt unter Beschuss genommen, die in Italien seit jeher das Hauptinstrument für die Festlegung der Löhne, aber auch der Arbeitsrechte, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen sind (in Italien gibt es kein Gesetz über Mindestlöhne, faktisch werden die Mindestlöhne durch die landesweiten Tarifverträge festgelegt).
„Pakt für die Fabrik“
Die Confindustria war zunächst im Vorteil, da die Tarifverträge in den letzten Jahren zunehmend geschwächt wurden und heute bereits viel von ihrer einstigen Bedeutung verloren haben, was auf die stete Verzichtspolitik der Gewerkschaftsverbände, aber auch auf die immer stärkere Prekarisierung der Arbeitswelt und die Zersplitterung durch Werkverträge und Leiharbeit zurückzuführen ist.
Im Jahr 2018 konnten die Unternehmer einen neuen Sozialpakt, den „Patto per la Fabbrica“[1] durchsetzen, mit dem die Löhne „eingehegt“ und die Lohnsteigerungen an die Inflationsrate gekoppelt werden (wobei die Energiekosten nicht berücksichtigt werden, so dass die tatsächliche Bezüge der Arbeitenden gesenkt werden).
Die Metallarbeiter*innen haben die volle Wucht dieses Vertragsmodells zu spüren bekommen: Innerhalb von vier Jahren sind ihre Monatslöhne nur um 40 Euro gestiegen, was sogar noch unter den Rentenanpassungen liegt.
Jetzt ist es aber für alle Lohnabhängigen an der Zeit, mit der Confindustria abzurechnen, die die Einhaltung des „Pakts für die Fabrik“ über die Löhne fordert. Dabei geht es aber auch um die Grundlagen der Arbeitsbeziehungen und um die arbeitszeitbezogene Entlohnung, wobei sich die Unternehmer die von Covid verursachte Ausbreitung des „smartworking“ (im Notfall, d. h. ohne Regeln) und die daraus resultierende gefährliche Deregulierung der Arbeitsbedingungen zu Nutzen machen wollen.
Von dieser Auseinandersetzung sind etwa 10 Millionen Beschäftigte betroffen, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor mitunter seit Jahren auf die Verlängerung ihrer nationalen Tarifverträge warten.
Globale Antwort vorbereiten
Es steht also viel auf dem Spiel, und es geht nicht nur um die Löhne und Rechte von 10 Millionen Beschäftigten, sondern auch um die nationalen Tarifverträge als solche, und zwar in einer Situation, die wegen der Wirtschaftskrise, aber auch wegen der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eingeschränkten Mobilisierungsfähigkeit und Gewerkschaftsarbeit sehr kompliziert ist (Betriebsversammlungen sind schwer zu organisieren). Zugleich verweigern sich auch immer mehr Unternehmen den Verhandlungen über betriebliche Tarifvereinbarungen.
In einigen Branchen sind bereits Mobilisierungsmaßnahmen dagegen angekündigt worden, wobei der momentan wichtigste Konflikt in der Metallindustrie stattfindet. Vor einigen Tagen hat Federmeccanica (der Unternehmerverband der Metallindustrie) die Verhandlungen platzen lassen, die seit fast einem Jahr laufen und die wegen Covid mehrere Monaten unterbrochen worden waren. In dem Streit geht es ausdrücklich um die Löhne. Auf der einen Seite stehen die Bosse, die keine Lohnerhöhungen, sondern nur betriebliches „welfare“ (Zugeständnisse hinsichtlich Löhne, Arbeitszeitgestaltung etc. in Abhängigkeit vom „Betriebsergebnis“) gewähren und Verträge nur auf Einzelbetriebsebene abschließen wollen. Auf der anderen Seite stehen die drei großen Gewerkschaften, die – im Moment noch gemeinsam – endlich reale Lohnerhöhungen für eine Branche fordern, in dem die Löhne in den letzten fünf Jahren praktisch eingefroren waren.
Bei dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um Grundsätzliches, vor allem seitens der Unternehmen, die von dem aggressiven Vorgehen der Confindustria und des Scharfmachers Bonomi profitieren wollen.
Die Gewerkschaften haben einen „stato di agitazione“ (eine Mobilisierungsphase) ausgerufen (Verweigerung von Überstunden) und rufen für den 5. November zu einem vierstündigen Streik auf, der dort, wo die Bedingungen dies zulassen, auf acht Stunden verlängert werden kann. Es wird nicht leicht sein, eine kämpferische Stimmung zu schaffen, aber die „tute blu“ (die „Blaumänner“) kommen endlich einmal wieder in Bewegung.
Hoffentlich sind diese Initiativen nur der Anfang, denn in Wirklichkeit geht es darum, eine Auseinandersetzung, in der es um einen echten Klassenkampf geht, auf Dauer durchzuhalten. Wir sind uns dabei darüber im Klaren, dass die drei Gewerkschaften nicht die gleiche Durchsetzungsfähigkeit haben und dass auch die Metallarbeitergewerkschaft Fiom[2] (diejenige, die am besten in der Lage ist, die Arbeiter*innen zu mobilisieren) in den letzten Jahren allerhand große Fehler begangen hat, angefangen bei der Unterzeichnung des letzten Tarifvertrags, der erst den Weg für das jetzt von den Bossen geforderte Lohnmodell geebnet hat.
Ob der Streit in der Metallindustrie zu einem Kampf wird, der die Gewerkschaftsbewegung in Italien zum Wiedererwachen bringen kann, wird sich zeigen. Wir dürfen uns keine Illusionen darüber machen, dass die Ausgangslage schwierig ist. Wir können momentan lediglich darauf hinarbeiten, dass die Wut wächst und nicht alles hingenommen wird. So wie die spontanen Streiks im März, als die Unternehmen die Produktion trotz der Pandemie nicht stilllegen wollten und die Regierung nichts unternahm, zur Schließung von vielen Fabriken führten und schließlich auch die Fiom zu mehr Konfliktbereitschaft bewegt werden konnte.
Was wir jetzt bräuchten, wäre eine globale Initiative aller Gewerkschaftsverbände, um alle Tarifkonflikte zu bündeln, die bisher isolierten Kämpfe zusammenzuschweißen, die gesamte Arbeiterschaft zu mobilisieren, gemeinsam auf die massiven Angriffe der Confindustria zu reagieren.
Bis heute ist dies nicht der Fall, und die Gewerkschaftsbewegung setzt, angefangen bei der CGIL, vielmehr auf Maßhalten und konzertierte Aktion, in der Hoffnung, dass ein paar Brosamen für sie abfallen, wenn die Regierung die Steuern auf die Lohnzuschläge senkt. Damit liegt sie vollkommen daneben, zumal es eben diese Regierung war, die vor der Confindustria eingeknickt ist, als sie keine „roten Zonen“ in den von der Pandemie am stärksten betroffenen Regionen errichtet hat, so dass die Produktion nicht stillgelegt werden muss. Außerdem müssten auf diesem Weg wieder die Allgemeinheit und die staatliche Daseinsvorsorge für die von den Bossen abgelehnte Umverteilung des Reichtums zahlen. Wenn uns Corona etwas gelehrt hat, dann ist es dies: Die öffentliche Daseinsvorsorge, angefangen beim öffentlichen Gesundheitswesen, darf nicht angetastet werden.
Eliana Como lebt in Bergamo, arbeitet als Hauptamtliche bei der CGIL und war im Juli 2018 auf dem Kongress der Konföderation Sprecherin der oppositionellen Minderheit „Il Sindacato è un’altra cosa“. Sie ist in der feministischen Bewegung und in der Organisation Sinistra Anticapitalista aktiv, einer der beiden Organisationen der Vierten Internationale in Italien.
Aus dem Italienischen und Französischen übersetzt und bearbeitet von Wilfried und Michael Weis
Quelle:
Eliana Como, „La partita dei contratti nazionali di lavoro“, 14. Oktober 2020,
https://anticapitalista.org/2020/10/14/la-partita-dei-contratti-nazionali-di-lavoro/
Gekürzte Fassung:
Eliana Como, „Italie: Affrontement sur les conventions nationales du travail“, in: L’Anticapitaliste. L’hebdomadaire du NPA, Nr. 539, 15. Oktober 2020, S. 5 (Actu internationale).
https://lanticapitaliste.org/actualite/international/affrontement-sur-les-conventions-nationales-de-travail-en-italie
Auf Englisch (gekürzt): „Italy: Clash over national labour agreements“, https://internationalviewpoint.org/spip.php?article6862, 14. Oktober 2020
[1] Die Vereinbarung über das „neue Modell von Vertrags- und industriellen Beziehungen“ ist am 28. Februar 2018 von der Confindustria und den Gewerkschaften unterzeichnet worden (Anmerkung von Bernard Chamayou, des Übersetzers ins Französische).
[2] Die FIOM ‒ Federazione Impiegati Operai Metallurgici ‒ wurde ursprünglich 1901 gegründet und nach dem Sturz des Faschismus 1944 neugegründet. Ihre Generalsekretäre waren wichtige Persönlichkeiten der italienischen Arbeiterbewegung wie Vittorio Foa (PSIUP), Bruno Trentin (PCI), Sergio Garavini (Rifondazione Comunista); seit Juli 2017 ist Francesca Re David als erste Frau „segretaria generale“ der FIOM. (Anm. d. Übers. ins Dt.).