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Geschichte und Philosophie

Das Massaker von Sétif am 8. Mai 1945

Von J.-F. Anders | 11.02.1970

Am 8. Mai – da ist der Opfer des deutschen, italienischen und japanischen Faschismus und der Kämpfer­Innen gegen ihn zu gedenken und da ist die Befreiung von der Nazi-Diktatur zu feiern (was in Deutschland nur eine verschwindende Minderheit tut). Wäre an diesem Tag aber nicht auch des Massakers von Sétif, Guelma und Kherrata zu gedenken?

Am 8. Mai 1945 demonstrierte – aus Anlass der offiziellen Feiern des Kriegsendes in Europa – die 1939 verbotene „Partei des algerischen Volkes“ (PPA) in Sétif (Algerien).

In der deutschen Wikipedia ist über diese Demonstration zu lesen:

„Eine Menge von etwa 10?000 Algeriern marschierte auf das Europäerviertel zu. Die Demonstranten, angeführt von moslemischen Pfadfindern und Frauen, forderten Gleichheit, Unabhängigkeit und „Algerien den Arabern“. Etwa 20 Gendarmen versuchten, den Demonstranten ihre Fahnen zu entreißen – bei dieser Gelegenheit wurde erstmals die grün-weiße algerische Fahne mit rotem Stern und Halbmond geschwungen. Die Gendarmen erlagen aber der Übermacht. Die empörte Menge machte nun Jagd auf die Europäer, 28 von ihnen wurden an diesem Tag getötet, 48 verletzt. Der Aufruhr verbreitete sich rasch. Während etwa einer Woche wurden vor allem isoliert lebende Europäer attackiert und getötet. Über 100 französische Siedler fielen der Erhebung zum Opfer.

Totale Repression

Die französische Antwort war totale Repression. Unter dem wohlwollenden Auge der Behörden organisierten sich die Kolonialfranzosen in Selbstverteidigungsmilizen, die sich daran machten, Rache zu üben.

Armee und Marine bombardierten und beschossen Dörfer, Militärgerichte traten in Aktion und fällten 151 Todesurteile (28 davon wurden vollstreckt).

Die „Befriedungsoperation“ endete offiziell am 22. Mai 1945. Die Zahl der Opfer der brutalen Repression wird verschieden hoch angesetzt. Das offizielle Algerien spricht heute von 45?000 Toten, zuweilen auch von mehr. Nach der Historikerin Annie Rey-Goldzeiguer (Reims) ist, solange keine unparteiischen Untersuchungen vorliegen, die zuverlässigste Angabe bezüglich der Opferzahlen die, dass den Verlusten auf französischer Seite ein Hundertfaches an Opfern auf algerischer Seite gegenüberstehe….“

Der 8. Mai 1945 ist also offenkundig für viele Menschen kein Tag der Befreiung gewesen.

Der Sieg über die Nazis verwirklichte keineswegs die in der Atlantik-Charta proklamierten Kriegsziele der westlichen Alliierten. Er befreite die Menschen nicht „von Not und von Furcht“, er verwirklichte auch nicht „das Recht aller Völker, sich diejenige Form der Regierung zu wählen, unter der sie leben wollen“, und er stellte schon gar nicht „die souveränen Rechte und Selbstregierung für jene, die ihrer gewaltsam beraubt worden sind“, wieder her.

Fortgesetzte Barbarei

Hitler und das Nazi-Regime sind zwar durch den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg beseitigt worden. Aber die Barbarei hörte damit nicht auf, sondern sie nimmt bis heute weiter zu:

Jedes Jahr sterben in der sogenannten „Dritten Welt“ ungefähr 15 Millionen Kinder an Hunger und Unterernährung, an fehlender Gesundheitsfürsorge und Mangel an Medikamenten. D. h.: Diesem lautlosen Massaker fallen alle fünf Jahre so viele Kinder zum Opfer, wie der ganze Zweite Weltkrieg Menschenleben gekostet hat – den Holocaust und Hiroshima und Nagasaki eingeschlossen. Das entspricht mehreren Weltkriegen gegen Kinder seit 1945. Wie kam es zu dieser katastrophalen Bilanz? Liegt das vielleicht daran, dass die siegreichen westlichen Alliierten bei aller „Krieg für die Freiheit“-Propaganda die Welt keineswegs von den Ursachen, die zum  Faschismus führten, befreiten, sondern vielmehr den Kapitalismus in Westeuropa, in Japan und in den USA politisch und ökonomisch stabilisierten – bis heute erfolgreich – und versuchten, ihre Kolonialreiche aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen? Was schließlich mit der Schlacht um Dien Bien Phu 1954 (bzw. 1975 mit dem Fall von Saigon) scheiterte.

Und: Ist es nicht eine Illusion, zu glauben, Kapitalismus sei möglich ohne massive Armut, ohne Arbeitslosigkeit, ohne Diskriminierung der Frauen, der Jugend, der Alten, der Immigrant­Innen oder nationaler Minderheiten, ohne Rassismus und Fremdenfeindlichkeit?

Wäre somit am 8. Mai angesichts des fortbestehenden und zunehmenden Elends der Welt nicht doch mehr nötig als nur Gedenken und Feiern? Wäre nicht Empörung nötig? Wäre nicht sogar Widerstand erforderlich?

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