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Innenpolitik

Bürger­Innenbeteiligung und Klasseninteressen

Von Jakob Schäfer | 01.01.2011

Eines ist sicher: Der so breite wie politisch heterogene Widerstand gegen Stutt­gart21 wird auch im Jahr 2011 anhalten. Seine Hauptstoßrichtung ist absolut unterstützenswert: „Schluss mit Stuttgart21! Oben bleiben! Den Kopfbahnhof optimieren!“ Damit sind aber längst nicht für alle Beteiligten in der Bewegung die politischen Verflechtungen und die weiteren Perspektiven geklärt.

Eines ist sicher: Der so breite wie politisch heterogene Widerstand gegen Stutt­gart21 wird auch im Jahr 2011 anhalten. Seine Hauptstoßrichtung ist absolut unterstützenswert: „Schluss mit Stuttgart21! Oben bleiben! Den Kopfbahnhof optimieren!“ Damit sind aber längst nicht für alle Beteiligten in der Bewegung die politischen Verflechtungen und die weiteren Perspektiven geklärt.

Stellvertretend für einen Teil der Bewegung schreibt Walter Sittler in seinem Vorwort zu Stuttgart 21 – oder: Wem gehört die Stadt: „Bei dem Widerstand gegen S 21 geht es nicht darum, die demokratische Ordnung zu stürzen oder eine Räte- oder Volksrepublik zu installieren, im Gegenteil [!]. Vielmehr sollen der Wille und die Interessen der Bevölkerung, des Souveräns, die von unsren gewählten Vertretern eigentlich geschützt werden sollen, wieder [?] ins Recht gesetzt werden. Und das alles mit den Mitteln, die unser Grundgesetz und die Landesverfassung den Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stellen. Es geht also darum, die verfassungsmäßig garantierten Rechte zu nutzen, um zur politischen Meinungsbildung beizutragen“.

Warum eigentlich nur „beitragen“, warum sollen nicht – statt der Politiker­Innen – die Menschen selbst bestimmen? Waren denn unser Wille und unsere Interessen früher „ins Recht gesetzt“? Aus Walter Sittlers Worten spricht eine grundsätzliche Akzeptanz des Abgebens der Entscheidungskompetenz an die sogenannten „Volksvertreter­Innen“. Die Menschen, die Betroffenen, sollen nur besser gehört werden und ihre Bedenken berücksichtigt werden. Sittler: „Denn letztlich geht es darum, ins Gespräch zu kommen, Wege zu finden, unsre Welt so zu gestalten, dass jeder zu seinem Recht kommt“1.

Es ist nicht klar zu bemessen, wie viele der aktiven Widerständler­Innen heute noch diese Vorstellung haben oder gut finden. Den vielen selbst gemalten Transparenten und Pappschildern nach zu urteilen, oder wenn mensch auf den Applaus achtet, den vor allem die sehr kritischen Beiträge auf den Versammlungen und auf den Kundgebungen erhalten, dann ist dies heute wahrscheinlich längst nicht die Mehrheit der Protestierenden, jedenfalls bestimmt nicht der Aktivist­Innen der Bewegung.
Was auf dem Spiel steht
Die Gegenseite weiß sehr wohl, was auf dem Spiel steht. Für Angela Merkel stellt die Bewegung gegen Stuttgart 21 „eine Gefährdung unserer repräsentativen Demokratie“ dar2. Und diese Einschätzung erfolgt nicht grundlos: Wenn die Menschen massenhaft bekunden, dass es ihnen gleichgültig ist, ob eine bestimmte Entscheidung „rechtsstaatlich einwandfrei zustande gekommen ist“, dann drückt dies eine tiefe Ablehnung der repräsentativen Demokratie, also des parlamentarischen Systems, aus. Dies liegt zwar auch, aber nicht nur an der aktuellen neoliberalen Politik der etablierten Parteien. Die faktische Delegitimierung des bürgerlichen Herrschaftsmodells speist sich aus der langjährigen Missachtung der Wünsche einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung in so elementaren Fragen wie Hartz IV, Afghanistankrieg, Rente mit 67, Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke usw. So lange sich dies nur in einer wachsenden Wahlenthaltung niederschlug, konnten die Herrschenden noch sehr gut damit umgehen. Aber einen aktiven, unbeirrten, tendenziell auch unbeirrbaren Widerstand gegen „parlamentarische Beschlüsse“ zu betreiben, rührt an den Grundfesten der parlamentarischen Demokratie. Das ist schon beim Castor-Schottern unangenehm und untergräbt die Autorität der Regierenden. Aber wenn dann die Bevölkerung einer Großstadt massiv wochenlang, monatelang auf die Straßen geht und gewillt ist, Blockaden zu organisieren, dann hört der Spaß auf.

Nur so ist zu verstehen, dass die Regierenden bereit sind, einen hohen politischen Preis, nämlich ihre eigene Abwahl zu riskieren. Einen Wechsel zu einem grünen Ministerpräsidenten – der das Projekt angesichts fortgeschrittener Baumaßnahmen dann nicht mehr stoppt – ist weit weniger abträglich als ein Baustopp und das Kippen eines parlamentarischen Beschlusses, erst recht, wenn davon auch ganz direkt Kapitalinteressen berührt sind.
Klasseninteressen
Im Gegensatz zu Sittler sind wir nicht der Meinung, dass wir die Interessen einer Aktiengesellschaft (hier der DB AG) an „einer guten Bilanz und einem hohen Gewinn“3 nicht kritisieren sollten. Im Gegenteil: Wenn wir diese Interessen nicht als das Grundmotiv für das verkehrspolitisch, ökologisch wie finanzpolitisch unsinnige Vorhaben in Rechnung stellen, ist das Festhalten an diesem gigantomanischen Projekt überhaupt nicht zu verstehen. Zweimal schon (1999 und 2003) hatte die Bahn das Projekt wegen zu großer baulicher Risiken4 und zu großer Kosten gestoppt. Inzwischen sind die Kosten noch mehr gestiegen, die Verkehrstauglichkeit ist massiv infrage gestellt und die ökologischen Bedenken (sowie die CO2-Bilanz) müssten den Ausstieg schon längst besiegelt haben. So hat beispielsweise das Zürcher Büro sma, in Europa führend in Sachen Eisenbahnverkehr, 2007 im Auftrag des Landes ein Gutachten erstellt, das ein vernichtendes Urteil zu S 21 fällt, worauf das Dokument sofort zur Verschlusssache erklärt wurde5. Das Projekt lasse „Engpässe“ entstehen, habe ein „hohes Stabilitätsrisiko“, eine „knapp dimensionierte Infrastruktur“, eine „Gestaltung des Fahrplans [sei] nur in sehr geringem Maße möglich“, es führe zu „Fahrzeitverlängerungen“ (vor allem, weil die Taktung aus strukturellen Gründen um 50 % schlechter ausfallen wird) usw.

Aber: Es verdienen eben zu viele Konzerne ganz gut an einem solchen Projekt:

  • Erstens die Baukonzerne, die an der größten Baustelle Europas über mindestens 10 Jahre (eher 15- 20 Jahre) gewaltige Aufträge an Land ziehen.
  • Zweitens verdienen die Immobilienunternehmen an einem solchen Geschäft, selbst wenn Geißler gerne eine Stiftung dazwischen schalten möchte.
  • Und drittens verdienen die Bahnausrüster­Innen daran, denn viele der bisher im Einsatz befindlichen Züge werden dort nicht fah­ren können: Die ICE 1 und 2 wegen der Signaltechnik, die wegen der kleinen Röhren auf das ETCS-System umgestellt werden muss, sämtliche Güterzüge, die Dieselloks, zweistöckige Regionalzüge usw.

So will gerade die ECE Gesellschaft für Beteiligung (Tochter des Otto-Versandhauskonzerns) daran verdienen, wie sie es gesamtdeutsch schon mit anderen Bahngeländen und Bahnhöfen getan hat. Es
verdienen weiter etwa das Bauunternehmen Wolff & Müller (das den Nordflügel abgerissen hat) und bei dem der Stuttgarter Finanzbürgermeister Föll im Beirat sitzt. Es verdient und wollen weiter verdienen der Projektentwickler ECE. In der ECE-nahen Stiftung sitzt nicht nur der mit S 21 beauftragte Architekt Ingenhoven, sondern auch die Lebensgefährtin von Ex-Ministerpräsident Oettinger, der den Deal ganz wesentlich mit eingefädelt hat.
Autogesellschaft
Ganz wesentliches Motiv für die Durchsetzung wenigstens eines der „Bahnhof 21-Projekte“ (nachdem die Tunnellösungen in Frankfurt, München usw. gescheitert sind) ist ein weiteres Kapitalinteresse: nämlich die Förderung der Autogesellschaft. Die Bahn soll sich dazu auf die Langstrecken konzentrieren und den Regionalverkehr vernachlässigen. Bei Stuttgart 21 würde sich dies ganz dramatisch auswirken, weil die Anbindung des S-Bahn-Verkehrs an den Fernverkehr völlig ungeklärt ist und vor allem der S-Bahn-Verkehr nicht mehr seinen (endlich eingerichteten) Taktverkehr aufrecht erhalten könnte. Dies ist übrigens einer der Hauptgründe für den Widerstand der Bevölkerung (nicht nur der Pendler­Innen). Die Folge: Noch mehr Menschen müssten dann aufs Auto umsteigen, woran die Autokonzerne und deren Zulieferindustrie verdienen.

Zu diesen und den damit zusammenhängenden Fragen hat übrigens Winfried Wolf in dem zitierten Buch Stuttgart 21 – oder: Wem gehört die Stadt die besten Beiträge geschrieben, weshalb (zusammen mit den Beiträgen von Bodak, Hesse, Hofenzitz und Gietinger) das Buch trotz der Schwächen einiger anderer Autoren durchaus empfehlenswert ist.
Klassenfrage
Letztlich geht es beim Kampf gegen Stuttgart 21 um verschiedene Ebenen eines Kampfes, hinter dem klare Klasseninteressen stehen:

Es geht darum, wer entscheidet. Ähnlich wie bei der Frage der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke fragen die Aktivist­Innen nicht nach der „Rechtsstaatlichkeit“ eines Beschlusses, weil sie sich mit dieser Art der Machtausübung, also der Durchsetzung von Kapitalinteressen mittels abgehobener Politiker­Innenbeschlüsse und mithilfe eines Repressionsapparates nicht abfinden wollen. Viele drücken das auf ihre Weise aus, am häufigsten mit der Losung „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“.
Zweitens geht es um die Aufdeckung und Bekanntmachung der Kapitalinteressen. Das ist eines der wesentlichen Ziele einer Beteiligung an einem öffentlichen Hearing. So verstanden und offensiv genutzt, hatten die Vermittlungsgespräche unter Leitung von Heiner Geißler sehr wohl ihren Sinn: Sie dienten nämlich nicht einfach nur einem „Faktencheck“, sondern konnten mit der Bekanntmachung der Tatsachen, wer welches Interesse an S 21 hat, für wirksamste politische Aufklärung sorgen. Transparenz durchzusetzen ist ein grundsätzliches Ziel jeglicher emanzipativer Bewegung. Dass einige der wesentlichen Dokumente mit dem Hinweis auf „Betriebsgeheimnisse“ der Bahn nicht offengelegt wurden, ist ebenfalls eine System- und eine Klassenfrage.
In einer anderen, nicht-kapitalistischen Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung und Profit aufbaut, gibt es keine Betriebsgeheimnisse. Die Menschen, die Betroffenen entscheiden zu lassen, ist die einzige Art, tatsächlich Formen der direkten Demokratie zu entwickeln. Dort, wo dies aus praktischen Gründen auf Delegiertenbasis geschehen muss, müssen die Delegierten jederzeit abrufbar sein, wenn die sie Entsendenden mit den getroffenen Entscheidungen nicht einverstanden sind (s. Kasten).
Mit der Beteiligung an solchen öffentlichen Gesprächen durfte aber nicht einhergehen – und hier liegt zurzeit noch eine Schwäche der Bewegung –, dass die Vertreter­Innen der S 21-Gegner­Innen sich am Schluss in Verhandlungen zur Verbesserung des Projekts S 21 einließen, ohne dass sie sofort abberufen wurden. Denn dazu hatten sie kein Mandat!
Strukturen der Bewegung
Das konnte Geißler nur deshalb gelingen, weil die Bewegung noch kein Delegiertensystem hat. Auf diese Weise kommen gerade bei öffentlichen Gesprächen oder bei Verhandlungen automatisch die Vertreter­Innen der großen Apparate zum Zug und nicht in adäquater Weise die wirklichen Aktivist­Innen. Sie sind nicht nur unterrepräsentiert, sondern haben auch keine Kontroll- bzw. Abrufungsmöglichkeiten.

Ähnlich dominieren auch bei großen Kundgebungen in kaum noch erträglicher Weise diejenigen, die über große Apparate und Finanzen verfügen, so z. B. bei der Kundgebung am 11. Dezember, als auf dem Podium fast ausschließlich Vertreter­Innen von SPD, Grünen und Die Linke sprachen, was der Propagierung weiterreichender politischer Perspektiven nicht gerade förderlich war.
Da ist die Anti-Atom-Bewegung schon etwas weiter. Dort sprechen in aller Regel auf den Kundgebungen keine Vertreter­Innen von Parteien. Aber das ist auch nicht verwunderlich. Die Anti-AKW-Bewegung ist über viele Jahre gewachsen und hat mit den Parteivertreter­Innen (auch mit den Grünen) schon ihre Erfahrung gemacht. Das hindert die bürgerliche Presse natürlich nicht daran, bei Demos vor allem die Vertreter­Innen des Parteivorstands zu filmen und zu interviewen, aber der Einfluss der Parteivertreter­Innen in der Bewegung ist begrenzt. In Stuttgart konnten die Grünen sich z. B. von der Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofs (am 16. Oktober) distanzieren und werden trotzdem von der Bewegung weiter als ein wichtiger Bestandteil akzeptiert.
Vorrangig in der nächsten Zeit wird es sein, vor allem die gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Aktionsformen durchzusetzen und auf ein Delegiertensystem hinzuarbeiten.

1    Lösch, Stocker, Leidig, Wolf in: Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt., PapyRossa S. 9
2    FAZ, 29.9.2010
3    a. a. O. S. 8
4    Dargelegt im geologischen Gutachten des Ingenieurbüros Smoltczyk & Partner, den Spezialisten für Geotechnik.
5    Inzwischen wurde es auf Druck der Gegner­Innen bekannt gemacht.
6    Arno Luik, Der Stern.

 

Auch der DGB musste sich bewegen
Lange Zeit hatte es die Bezirksleitung des DGB-Bezirks Baden-Württemberg abgelehnt, die Beschlüsse der Bezirkskonferenz so umzusetzen, dass nach außen sichtbar wird, was die Delegierten beschlossen hatten, nämlich die Ablehnung von S 21. Den Aktiven der Gewerkschafter­Innen gegen Stuttgart 21 ist es mit ihrem beharrlichen Nachhaken dann Ende November 2010 endlich gelungen, dass der DGB wenigstens ein Faltblatt herausgab, das in seiner Position eindeutig ist:
„Der DGB lehnt den geplanten unterirdischen Tiefbahnhof ab. Unsere Alternative ist ein modernisierter Kopfbahnhof und eine schnellere Verbindung zwischen Stuttgart, Ulm und München zu vertretbaren Kosten. Der DGB unterstützt das Aktionsbündnis gegen S 21 und dessen Aktivitäten. Der Vorsitzende der DGB-Region Nordwürttemberg, Bernhard Löffler, vertritt dort den DGB-Bezirk.“
Ebenso erfreulich ist die klare Stellungnahme gegen die geplante Pri
vatisierung der Bahn. Als Lösung des Konflikts um S 21 setzt der DGB auf eine Volksabstimmung und schreibt dazu: „Die Landesregierung muss vor der Landtagswahl am 27. März 2011 eindeutig erklären, ob und wie sie die viel zu hohen Hürden für Volksabstimmungen in der Landesverfassung (Art. 59 und 60) senken will. Dann können die Wählerinnen und Wähler entscheiden, was sie davon halten.“
Zum Glück stellt der DGB auch klar, dass niemand darauf warten muss, bis die Verfassung geändert ist: „Wir wollen eine ‚verbindliche Volksbefragung‘ über Stuttgart 21. Alle Beteiligten müssen vorher erklären, dass sie sich an das Ergebnis der Befragung halten.“
Nur eine Präzisierung hätten wir gerne: Es sollten nur diejenigen befragt werden, die davon auch direkt betroffen sind, nämlich die Menschen aus der Region Stuttgart. Und noch eine Präzisierung: Entscheidend wird die Aufrechterhaltung eines breiten Widerstands vor Ort sein, am besten mit DGB-Kundgebungen während der Arbeitszeit!                    
J.S.                                                     

 

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