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Brasilien

Brief von Francisco Louçã, Daniel Bensaïd und Michael Löwy an Democracia Socialista

01.01.2005

Paris, Januar 2005

Liebe FreundInnen und GenossInnen der DS!

Lulas Präsidentschaft hat die erste Halbzeit hinter sich und die Kommunalwahlen vom November sind eine gute Gelegenheit für eine Art vorläufiger Bilanz am Beginn einer Periode, die bereits durch die Vorbereitung für die 2006er Wahlkampagne charakterisiert ist. Da es uns nicht möglich ist, an dem kommenden Weltsozialforum teilzunehmen und persönlich zu Euren Diskussionen beizutragen, wie wir es während eines Vierteljahrhunderts freundschaftlicher Zusammenarbeit oft getan haben, senden wir Euch einige Gedanken über die Entwicklung der brasilianischen Situation und deren internationalen Widerhall.

1. Die zentrale Frage am Ende dieser zwei Jahre ist, wie die Politik der Regierung zu charakterisieren ist. Wir können sie ohne den geringsten Zweifel als sozialliberal definieren. Deshalb wird sie vom IWF und anderen internationalen Körperschaften so gelobt. Die Resolution der 7. Nationalen Konferenz der DS im November 2003 erkennt diese Tatsache klar an: “die ersten acht Monate der Lula-Regierung waren charakterisiert durch den Aufbau eines Systems von Allianzen, das breite Sektoren der Bourgeoisie einschloss, von einer grundsätzlich konservativen Wirtschaftspolitik und andererseits von einem begrenzten Fortschritt bei der Einführung von Veränderungen”. (II,1)

Und weiter: “die makroökonomische Politik drückte ebenfalls eine völlige Unterordnung unter die IWF Richtlinien aus”. (II,2) Noch neulich, in ihrer Bilanz der Kommunalwahlen, bemerkte die Führung der DS (November 2004): “die Steigerung der Zinssätze, der noch nicht da gewesene Anstieg des Haushaltsüberschusses, die Unterordnung unter das Finanzkapital und die so genannten Märkte …strangulieren das Land”.

Die tägliche Praxis der Mehrheit der DS während des letzten Jahres jedenfalls scheint nicht besonders mit den Formulierungen übereinzustimmen, die von der Konferenz angenommen wurden. Wie ist es möglich, eine Regierungspolitik in dieser Weise zu charakterisieren, eine zögerliche Position einzunehmen angesichts der konkreten Reformen, die daraus erwachsen, und weiter an dieser Regierung teilzunehmen, ohne dass die Genossen, die direkt in Regierungsverantwortung eingebunden sind, auch nur deutlich ihr Nichteinverständnis ausdrücken?

2. Die Konferenzresolution stellte fest, dass die Anfangszeit der Regierung “eine Dynamik des Konfliktes sowohl innerhalb der Regierungspolitik als auch in der Beziehung zwischen der Regierung und den sozialen Kräften, die sie wählten”(II, 12) auslöste. Die Resolution zog im selben Atemzug die Schlussfolgerung, dass es eine “Auseinandersetzung über die Richtung der Regierungspolitik” gab und zur gleichen Zeit eine solche “auf der Ebene der Partei”. (V, 9)

Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Partei und der Regierung. Die Partei ist das Ergebnis von mehr als 20 Jahren von Kämpfen und Erfahrungen, die eng mit den Mobilisierungen der sozialen Bewegung verbunden sind. Diese politische Geschichte manifestiert sich in inneren Widersprüchen zwischen der ursprünglichen Selbstdefinition der Partei und ihrer derzeitigen Praxis, sich der Regierungsorientierung unterzuordnen. Das ist es, was es uns möglich macht, die Legitimität und das Erbe der PT einzufordern (die PT “ist unser”). Wie könnte jemand im Gegensatz dazu ausrufen, dass die Regierung, die wir gerade als konservativ und “in Kontinuität” mit der Fernando Henrique Cardosos charakterisiert haben, “unsere ist”?! Die Partei ist das Ergebnis von Kämpfen. Die Regierung ist eine Staatsinstitution. Hinzukommt, dass  theoretisch die Möglichkeit besteht, in ihr für positive Reformen zu kämpfen. Diese Möglichkeit existiert sogar in Regierungen, die loyal die bestehende Ordnung verwalten, wie die Regierungen von Blair, Schröder oder Jospin. Aber eine Regierung ist insgesamt nicht die einfache Summe der Politik ihrer Minister in den einzelnen Bereichen, eine Art von Machtbalance zwischen den Ministern in dem “ökonomischen” und dem sozialen Ressort. Lulas Regierung hat einen politischen Gesamtrahmen, dessen Kurs von ihren Entscheidungen auf ökonomischem und finanziellem Gebiet bestimmt wird. In ihren ersten Wochen oder Monaten war es für uns möglich, aus pädagogischen Gründen unsere Kritik auf ihre ökonomischen Entscheidungen zu konzentrieren, auf Meirelles und Palocci. Aber diese so genannten “ökonomischen” Entscheidungen konstituieren unmissverständlich die politische Orientierung der Regierung, die wiederum die Rahmenbedingungen für das Budget und die Bedingungen für die gesamte Politik, die betrieben wird, bestimmt.

3. Unter diesen Bedingungen ist die Teilnahme an der Regierung immer problematischer geworden. In den Diskussionen unter den Mitgliedern der 4. Internationale haben wir darauf bestanden, diese Frage nicht in abstrakten, doktrinären Begriffen, als eine zeitlose Angelegenheit, aufzuwerfen, ohne dabei die Charakteristik des Landes und die Geschichte der PT sowie die Verbindung zur sozialen und Gewerkschaftsbewegung in Rechnung zu stellen. Eine Reihe von Anzeichen wurde nichtsdestoweniger zum Grund für die Besorgnis, dass angesichts der Abwesenheit größerer sozialer Mobilisierungen (mit der Ausnahme der landlosen Bauern), verschiedene Minister, die als Angehörige des linken Flügels bekannt sind, zu reinen Alibis oder Geiseln für eine Politik werden könnten, deren grundsätzliche Ausrichtung bereits in dem Brief an die Brasilianer während der Wahl angekündigt wurde. Von Anfang an gab es unterschiedliche Positionen zu Miguel Rossettos Teilnahme an der Regierung, in der Internationale ebenso wie unter Euren Mitgliedern. Aber als die DS sich für die Teilnahme entschieden hatte, respektiert
en wir Eure Entscheidung, ohne unsere Vorbehalte und Zweifel zu verbergen und versuchten, zu helfen und nicht Sand ins Getriebe zu werfen. So versuchten wir energisch die Genossen in unseren eigenen Sektionen zu überzeugen, dass logischerweise die Frage der Teilnahme an der Regierung der Beurteilung der Orientierung der Regierung untergeordnet sein sollte. Unglücklicherweise gab es über letztere kaum einen Zweifel. Und wenn es einen solchen gegeben hatte, gab es ihn nicht lange: Das Übereinkommen von Meirelles und Palocci und die ersten Maßnahmen, die sehr schnell getroffen wurden, machten klar, was sich abspielte. Ob man nun diesem Argument zustimmt oder nicht, wir hatten Verständnis für die Besorgnis, dass der Austritt aus der Regierung zusätzliche Schwierigkeiten für unsere Bürgermeisterkandidaten, insbesondere in Porto Alegre, schaffen würde. Aber seit den Kommunalwahlen sticht dieses Argument nicht länger.

4. Auch wenn es keine Agrarrevolution gewesen wäre, so hätte doch das nationale Programm zur Agrarreform, das im November 2003 beschlossen wurde, eine substantielle Reform bedeutet, die tatsächlich von den landlosen Bauern während der Versammlung, auf der sie präsentiert wurde, unterstützt wurde. Es könnte in der Tat, wenn es in die Praxis umgesetzt würde, eine Dynamik der Mobilisierung in Gang setzen. Auch wenn man die Kontroverse über die entsprechenden Zahlen für 2004 beiseite lässt, so scheint jedenfalls klar, dass die Erreichung der Ziele des Programms mehr und mehr verzögert wird und es in zunehmendem Maße zweifelhaft ist, ob diese Ziele während Lulas erster Amtsperiode erreicht werden können. Angesichts dieser Behinderungen, insbesondere der Behinderungen durch das Budget, hätte man militantere Töne anschlagen können um klarzumachen, dass die makroökonomische Politik der Regierung verantwortlich für diese Verzögerungen ist und damit einen möglichen Rückzug aus der Regierung oder zumindest die Präsentation einer Bilanz vorbereiten können, die in den sozialen Bewegungen hätte verteidigt werden können. Aber offensichtlich ist der Minister für Agrarreform im Gegensatz dazu in seinen öffentlichen Stellungnahmen sehr diskret geblieben. Er riskiert dadurch, zwischen Baum und Borke steckenzubleiben, zwischen einer Regierungspolitik, von der er sich kaum distanziert hat und der wachsenden Unzufriedenheit der Bauernbewegungen.

Etwas allgemeiner gesagt: Da die Regierung nicht ein einfaches Mosaik von Ministerien ist, sondern das Instrument einer allgemeinen Politikstrategie – auch wenn Brasilien ein Präsidentialregime hat, in dem kein Äquivalent zu einem Ministerrat existiert – kann er sich nicht darauf zurückziehen, “ein einziges Ministerium” zu managen und die übergeordnete Logik, die die Orientierung der Regierung bestimmt, außer Acht lassen.

5. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik läuteten die Alarmglocken bereits im Winter 2003, mit der Debatte über die Rentenreform. Wir haben das Argument in Betracht gezogen, dass dieses Thema nicht dieselbe politische Wichtigkeit im politischen Leben Brasiliens hat wie die Rentenreform in Frankreich oder Deutschland. Nichtsdestoweniger war dies eine wirklich neoliberale Reform desselben Typs, die die Möglichkeit für Pensionsfonds eröffnete und – lässt man die technischen Einzelheiten beiseite – auch für zunehmende Privatisierung der sozialen Vorsorge. Diese Angelegenheit war ernst genug, um  Schritte von der versteckten (oder “indirekten”) Kritik – die mit der pädagogischen Besorgnis, man könnte sich in seiner Beziehung zur Regierung zu schnell (im Vergleich zur Haltung der Masse der Bevölkerung) bewegen – hin zu einer zugespitzteren Kritik zu tun . Natürlich hätte dieser Richtungswechsel zwangsläufig das Problem unserer Teilnahme an einer Regierung, gegen deren Politik wir dann offen gekämpft hätten, aufgeworfen. Aber anstatt einer klaren und kämpferischen Opposition gegen ihre Reformen hatten wir eine zögerliche Orientierung, was sich in der Stimmenabgabe der Parlamentsmitglieder und Senatoren des linken Flügels der PT ausdrückte, die sich aufteilte in der “Disziplin” gehorchende Stimmen dafür, Enthaltungen mit einer Erklärung und Stimmen dagegen. Das Argument der Disziplin und des Risikos von Sanktionen war nicht sehr überzeugend: je mehr Parlamentsmitglieder diese Maßnahme offen abgelehnt hätten (oder sich zumindest enthalten hätten), umso schwieriger wäre es für die Parteiführung gewesen, bürokratische Maßnahmen zu ergreifen.

6. Offensichtlich – diese Punkte sind eng miteinander verbunden – unterschätzten wir lange Zeit die Bedeutung des Ausschlussverfahrens, das an diesem Punkt gegen Heloisa Helena und die drei Abweichler unter den Parlamentsmitgliedern begonnen wurde. Die Resolution, die auf der 7. Konferenz der DS angenommen wurde “in Verteidigung der Demokratie und gegen den Ausschluss der PT- Parlamentsmitglieder” war sehr gut. Sie schloss mit der Ankündigung einer öffentlichen Kampagne gegen die Ausschlussdrohung. Weniger als zwei Wochen nach der Konferenz wurden aber diese Drohungen in eine vollendete Tatsache umgewandelt. Die Parteiführung war vorgeprescht und verhinderte die angekündigte Kampagne, bevor sie noch begonnen hatte. Was auch immer die angeklagten Parlamentsmitglieder getan haben, diese Ausschlüsse waren kein zweitrangiger Fehltritt. Die Lula-Führung benutzte sie, um deutlich die Unterordnung der Partei unter die Regierung klar zu machen und präventiv die Opposition zu spalten, die sich zwangsläufig auf Grund der Regierungspolitik und ihrer Auswirkungen auf den sozialen Bereich entwickeln musste. So illustrierten die bürokratischen Sanktionen die Umwandlung der Partei in einen Transmissionsriemen in die Gesellschaft für die Regierungsentscheidungen, anstatt ihre Aufgabe wahrzunehmen, die sozialen Bewegungen gegenüber der Regierung zu repräsentieren. Die Rekrutierung eines Typs karrieristischer, weniger aktivistischer “Paloccikohorten”[1] für die PT konsolidierte diese Entwicklung und weitete sie aus.

Diese bürokratischen Ausschlüsse verschiedener Parlamentsmitglieder, die an der offiziellen Programmatik der Partei festgehalten hat
ten, waren einen Schock für den linken Flügel in der internationalen sozialen und Gewerkschaftsszene, weit über unsere eigenen Reihen hinaus. Trotzdem sahen wir selbst davon ab, eine Initiative zum Protest gegen die Maßnahmen zu ergreifen, bevor wir die Verteidigungslinie der Genossen aus der DS kannten, auch deswegen, weil wir vermeiden wollten, dass die Verteidigungskampagne zu einer trotzkistischen Sache wurde. Deshalb griffen wir den Aufruf der britischen Genossen, den sie beschlossen hatten, erst auf, nachdem sie auf ihrer nationalen Konferenz mit DS-Genossen Gespräche geführt hatten. Die sehr positive Resonanz auf diese Kampagne, die unglücklicherweise viel zu spät begann, zeigt das Potential, das darin steckte.

7. Die Resolution der 7. Konferenz im November 2003 war ein verantwortungsvoller Versuch, in der Tradition der DS die Einheit um einen allgemeinen Konsens zu erhalten, ohne dabei größere Differenzen in der Analyse zu verbergen. Auch die beschlossenen organisatorischen Maßnahmen (zur Presse, zu den Leitungsorganen etc.). demonstrierten den neuen Anspruch, eine “große DS” zu formen, mit der Perspektive einer sichtbareren, abgegrenzteren und breiteren Tendenz. Aber es war die Führung der PT, die Richtung und Tempo vorgab, insbesondere durch den Ausschlussprozess, der die Ausgeschlossenen dazu zwang, Initiativen außerhalb der Partei zu ergreifen oder den Preis des politischen Todes oder der Bewegungsunfähigkeit zu zahlen. Einige von uns betrachteten die Proklamation der PSOL nichtsdestoweniger als verfrüht und dachten, dass es besser gewesen wäre, zunächst für mehrere Monate eine demokratische Kampagne für die Wiederaufnahme in die PT zu führen und zur selben Zeit systematisch Versammlungen und Kollektive für eine “sozialistische Rekonstruktion der PT” zu organisieren (entsprechend der Formel, die in der Konferenzresolution benutzt wurde). Aber das macht keinen großen Unterschied, es gibt kein verlässliches wissenschaftliches Instrument, um über diese Fragen von Tempo und Taktik entscheiden zu können. Politik ist das Feld von Kräften und Initiativen, das niemand vollständig beherrschen kann (wäre das nicht so, verlöre jeder Versuch einer Entscheidungsfindung seine Bedeutung).

Die PSOL wurde deshalb auf der Grundlage eines Aktes der legitimen Selbstverteidigung gegründet. Sie hat zweifellos ein Wachstumspotential. Auch wenn die PT immer noch bestimmte Formen der Radikalisierung absorbiert, so öffnet ihre Rechtswende andere Räume für soziale Radikalisierung: Es gibt ein Leben außerhalb der PT.

Nichtsdestotrotz ist die PSOL, auch wenn sie es schafft, eine ansehnliche Kampagne 2006 zu organisieren, in ihrem derzeitigen Zustand weit davon entfernt, eine glaubwürdige Alternative zur PT darzustellen, auch nicht zu einer mehr und mehr bürokratisierten und korrupten PT. Auf dem Papier (und vielleicht auch von einer zu weiten Distanz gesehen) scheinen die Dinge klar: Wir sollten weder in eine ultralinke Überschätzung dessen verfallen, was die PSOL bereits darstellt, noch in einen Fetischismus betreffend die PT. Es ist deshalb notwendig:

* an der Vereinigung der Linken in der PT zu arbeiten (was die Genossen aus Ceara in einem hübschen Wortspiel “die PT-Tendenz in der PT” nennen) und zwar auf der Basis einer substantiellen klaren Alternative zur Regierungspolitik; der entschlossene Kampf, den diese GenossInnen während der Kommunalwahlen in Fortaleza führten, ist ein Zeichen dafür, dass solche Möglichkeiten immer noch existieren;

* von den GenossInnen aus, die das wollen, zum Aufbau der PSOL beizutragen und gleichzeitig die Fallgruben infantilen Ultralinkstums zu vermeiden (wie die Position der Enthaltung – oder das Fehlen einer Position – im Falle der Wahl in Porto Alegre, die den offensichtlichen Fakt ignorierte, dass ein Sieg für Raul Pont in den Kommunalwahlen in Porto Alegre sowohl für die Stadt, für die interne Situation in der PT und für die globalisierungskritische Bewegung insgesamt wichtig gewesen wäre);

* den Dialog zwischen den verschiedenen Strömungen der PT und den kleinen unabhängigen Kräften wie der PSOL voranzutreiben. Eine bestimmte Art von Komplementarität könnte zwischen der kritischen Linken innerhalb und außerhalb der PT hergestellt werden, indem man Angriffe auf den jeweils anderen vermeidet und die unterschiedlichen taktischen Herangehensweisen gegenseitig respektiert. Das betrifft besonders die Genossen unserer eigenen Strömung: Auch wenn sie heute eine unterschiedliche Wahl getroffen haben und in unterschiedliche Dynamiken eingebunden sind, sollten sie eine Anstrengung unternehmen, die Brücken hinter sich nicht zu verbrennen und zukünftige Optionen offen zu halten.

8. Natürlich besteht eine große Schwierigkeit der jetzigen Situation – die noch vergrößert wird durch die Größe Brasiliens und die regionalen Unterschiede – in der fehlenden Synchronisation des Rhythmus des Bewusstseinsprozesses in der PT, in der PT-Linken, in den sozialen Bewegungen und in den unterschiedlichen Regionalstaaten. Unsere Aufgabe sollte es sein, diese unvermeidlich ungleiche Entwicklung zusammenzuführen. Aber um das zu tun, brauchen wir eine klare Orientierung und einen starken Willen, anstatt zunehmend zu zögern, indem wir die Zögerer unter den Zögerern sind. In Fortaleza wurde die Entscheidung der GenossInnen belohnt. Wenn die DS das Projekt hätte, eine klare Alternative zur Regierungspolitik zu präsentieren, so wäre sie sicherlich die Kraft, die am meisten in der Lage wäre, die radikale Linke innerhalb der PT zusammenzubringen und den Dialog mit den Kräften zu führen, die die Partei nicht länger als das Hauptwerkzeug des Klassenkampfes betrachten.

Es ist klar, dass eine entschlossene Opposition in der PT verschiedene unterschiedliche Möglichkeiten vorbereiten würde, einschließlich der Möglichkeiten für einen größeren Bruch, auf einem höheren Niveau als einzelne Austritte aus Resignation, der für sich einen größeren Teil der Kontinuität und des historischen Erbes der PT in Anspruch
nehmen könnte, anstatt sie ohne Kampf gegen die Führungsclique, die sie usurpiert hat, zu verlassen.

9. Während im Mai 2004 die Diskussion zwischen Genossen in der Internationale und der Führung der DS über die verschiedenen hypothetischen Richtungen der Weiterarbeit nach den Kommunalwahlen möglicherweise immer noch offen schien, scheint heute der Raum für Diskussionen zu schrumpfen und die Spaltung zwischen unseren Mitgliedern sich zu verschärfen. Dies um so mehr, als die Ergebnisse der Kommunalwahlen zeigen, dass auch wir für die Politik der Lula-Regierung in einigen Städten den Preis zu zahlen hatten, wie z.B. in Porto Alegre, gemäß den Stellungnahmen, die Raul Pont abgegeben hat, und besonders in den Sektoren, die  traditionell mit der PT verbunden waren. Ohne Zweifel litt die Kampagne in großen Teilen der Wahlbevölkerung unter dem Image der Lula-Regierung, unter dem Rückschritt, den die Lula-Regierung in den Augen einiger der am meisten kämpferischen Sektoren der PT darstellt und unter der Art, wie die PT reagierte: nach breiteren und noch breiteren Allianzen Ausschau zu halten anstatt ihre eigene Kapazität für soziale Aktion zu stärken und die Erfahrung einer kämpferischen, einheitlichen PT wertzuschätzen.

10. Es ist ein Zeichen der Reife der DS und ein positiver Aspekt der Kultur des Konsenses, die seit ihrer Gründung am Beginn der 80er Jahre herrschte, dass sie versuchte, “der Zeit die nötige Zeit zu geben”, anstatt Differenzen in der Form eines Bürgerkriegs der Tendenzen und Fraktionen auszutragen, wie es in einigen Sektionen der Fall war. Das Paradox ist, dass die Orientierung der DS-Mehrheit heute gegenüber der PT – Mehrheit versöhnlicher erscheint (unter der spekulativen Annahme, dass es in deren Reihen Nuancen und Unterschiede gibt) und das zu einer Zeit, in der mehr und mehr Menschen unter den GewerkschafterInnen, Intellektuellen, Ökonomen und in einigen Sektoren der Kirche offen aussprechen, dass sie einen radikalen Wechsel in der Regierungspolitik fordern.

Der Rücktritt von Carlos Lessa (und Lulas Abwesenheit bei der Beerdigung von Celso Furtado) symbolisiert den Verlust von dem, was vielleicht von Entwicklungserwartungen übrig geblieben war. Die stille Resignation von Frei Betto zeigt die Schwierigkeiten der Null-Hunger-Kampagne, die für die Strangulierung sozialer Reformen aufgrund eines Austeritätsbudgets exemplarisch sind. Obwohl einige Leute hofften, dass die Regierungspolitik nach den Kommunalwahlen sich nach links entwickeln würde, hat Lula deutlich seinen ökonomischen Kurs bestätigt. Auch wenn der Konjunkturaufschwung ihm ein wenig Manövrierspielraum vor den nächsten Wahlen zwischen heute und 2006 gibt, wie es aussieht, bleibt die “generelle Linie” unverändert, verziert mit ein paar wenigen anekdotischen Ornamenten, aber nichts desto weniger schockierend (siehe die Immunität für Meirelles, die Zulassung genetisch modifizierten Saatguts etc.).

11. Von jetzt an tickt die Uhr. Niemand kann ihre Geschwindigkeit und ihr Vorrücken kontrollieren. Aber der institutionelle Kalender wird klare Entscheidungen von jedem bis 2006 fordern und 2006 beginnt heute mit der Vorbereitung der Konferenzen von PT und PED[2]. Diese Termine im Blick müssen taktische Fragen grundsätzlichen und substantiellen Fragen untergeordnet werden. Die Resolution der 7. Konferenz enthält zu diesem Punkt Bestandteile der “Notwendigkeit, neues Leben in die Perspektive eines Übergangs zum Sozialismus zu bringen (I, 8): ein Vorschlag für nationale Autonomie im Gegensatz zur globalen Abhängigkeit; ein Vorschlag für ein Schuldenmoratorium (wozu eine gemeinsame Front mit Venezuela, Argentinien und morgen vielleicht Bolivien vorgeschlagen werden könnte etc.); und Vorschläge für Kampagnen betreffend die amerikanische Freihandelszone, zu Gehältern und Arbeitsplätzen, zu einer generellen Perspektive für demokratische Kontrolle und ein partizipatorisches Budget auf der Ebene der Bundesstaaten und zu einer radikalen Agrar- und Umweltreform. Durch die Umwandlung dieser Art von Plattform in konkrete Kampagnen, anstatt sie als ein Programm für Sonntage in Reserve zu halten, und durch das Aufwerfen der Frage des Bruchs mit der Regierung werden wir in der Lage sein, wieder Allianzen und Annäherungen auf soliden Fundamenten zu initiieren, innerhalb und außerhalb der PT und zwar besser als auf der Basis von momentanen Eindrücken und sich wandelnden Interessenlagen.

12. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass die Darlegung der Sicht der Dinge, wie sie in diesem Brief zum Ausdruck kommt, als Einmischung in die internen Debatten der DS wahrgenommen werden könnte.

Aber die Situation ist ziemlich ernst und die internationalen Auswirkungen sind zu groß, um Diplomatie vor Offenheit zu stellen. Wir gehören zur gleichen internationalen Organisation exakt zu dem Zweck, uns in die Lage zu versetzen, Beziehungen aufzubauen, in denen man offen sprechen kann und von den gesammelten Erfahrungen der jeweils anderen profitieren kann. Diese Diskussion ist in unseren Augen legitim und das um so mehr, als wir uns Zeit genommen haben, zu verstehen was vor sich geht, anstatt Urteile auf der Basis mechanisch angewandter abstrakter Kriterien zu treffen. Das ist auch der Grund, warum die Leitungsorgane der Internationale beschlossen haben, durch den Austausch und die Verbreitung von Informationen und Standpunkten eine Diskussion zu eröffnen, anstatt sofort formelle Entscheidungen zu treffen, die verfrüht Positionen zementiert hätten anstatt zu einem Klärungsprozess beizutragen. Insofern, als alle Genossen der DS, was auch immer ihre kurzfristige Taktik in der Frage des Parteiaufbaus ist, immer noch Mitglieder der Internationale sind, hoffen wir, dass unser gemeinsamer programmatischer Rahmen dazu beitragen wird, die Bedingungen für eine ernsthafte Diskussion aufrechtzuerhalten, auch in Bezug auf die Erfahrungen, die noch kommen werden. Dazu wollen wir, so weit wir soweit es in unsren Kräften steht, beitragen.

Chico, Daniel, Michael



[1] Antonio Palocci ist der (neoliberal eingestellte) Finanzminister (Anm. d. Übers.).

[2] Processo de Eleiçãos Direitas – wörtlich: Direktwahlprozess, die im September 2001 erstmals durchgeführte parteiinterne Direktwahl in der PT für den Parteivorsitz auf verschiedenen Ebenen (zu der 1999 beschlossenen problematischen Statutenänderung vgl. Raul Pont, Bilanz der Direktwahlen in der PT, in: ders., Hoffnung für Brasilien. Beteiligungshaushalt und Weltsozialforum in Porto Alegre, Entwicklung der PT und Lulas Wahlsieg, Köln: Neuer ISP Verlag, 2003, S. 79–95) (Anm. d. Bearb.).

 

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