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Innenpolitik

Ausnahmezustand in Frankfurt am Main

Von Helmut Dahmer | 08.07.2012

Samstag, 19. Mai 2012, 11 Uhr früh am Frankfurter Hauptbahnhof. Man traute seinen Augen kaum. Die Münchener Straße und die Gegend um Schauspielhaus und Europäische Zentralbank nahmen sich an diesem sonnigen Morgen aus wie einst am „autofreien Sonntag“.

Samstag, 19. Mai 2012, 11 Uhr früh am Frankfurter Hauptbahnhof. Man traute seinen Augen kaum. Die Münchener Straße und die Gegend um Schauspielhaus und Europäische Zentralbank nahmen sich an diesem sonnigen Morgen aus wie einst am „autofreien Sonntag“.

Veduten der „Pittura metafisica“1, mit denen Giorgio de Chirico vor hundert Jahren Furore machte, kamen einem in den Sinn. Nur wenige Fußgänger­Innen im Bahnhofs- und Bankenviertel, allüberall Sperrgitter, kein Autoverkehr, keine Straßenbahnen im „Krisengebiet“, U-Bahnen, die „kritische“ Stationen ohne Halt durchfuhren, Kolonnen von Polizeiautos in den Seitenstraßen, am Himmel die brummende Stehwespe eines Überwachungs-Hubschraubers, Hopliten2 der Polizei haufenweise und in langen Reihen, manche in einer Art Astronauten-Montur3.  Auf jeder Kreuzung, etwa der ohnehin abgesperrten Münchner Straße, standen Vierer-Posten mit den Rücken zueinander und hielten Wache. Fragte man, worauf sie warteten, hieß es: „Auf die Demonstration“, und der Sprecher wies in die Richtung des Hauptbahnhofs, wo auf dem Vorplatz hinter Sperrgittern eine bunte Menge zu erkennen war. „Und Sie glauben, die werden hierher kommen?“ Schweigen… (s. Kasten).

Die „Blockupy“-Demonstrant_innen waren seit Mittwoch (16. Mai) dem Beispiel ihrer Petersburger und Moskauer Kolleg_innen gefolgt, die das im Zusammenhang mit der Wiederwahl Putins verhängte Versammlungsverbot umgingen, indem sie zu „Stadt-Spaziergängen“ einluden. Für den Samstag hatte die Protestbewegung zu einer symbolischen Blockade der großen Bankhäuser aufgerufen, und 20 – 25 000 Menschen sammelten sich zu einem politisch-karnevalistischen Zug rund um die Innenstadt. Das Banken-Management hatte den meisten Angestellten schon für Freitag freigegeben und die übrigen ermahnt, nicht, wie gewohnt, im Banker-Habit, sondern getarnt, in Räuberzivil zur Arbeit zu kommen. Für den Samstagmorgen hatte die Leitung des generalstabsmäßig geplanten Großeinsatzes der Polizei sich dann etwas Besonderes ausgedacht: Statt die angedrohte „Blockade“ der Banken durch Demonstrant_innen zu verhindern, blockierte sie in aller Frühe die Innenstadt mit ihren eigenen Kräften. Das Zentrum dieses Truppenaufgebots, das Auge des Orkans, bildete das Hochhaus der Europäischen Zentralbank.
Der beeindruckende, ebenso kostspielige wie disproportionale Einsatz der Exekutivgewalt gibt zu denken. Was war der Sinn dieser machtvollen Aufhebung des Versammlungsrechts, was sollte hier wem bewiesen werden?4 Ging es um die Einschüchterung der Occupy-Bewegung und ihrer Sympathisant_innen, ging es um den „Beweis“, dass die Frankfurter Steuerungszentren des Finanzkapitals notfalls mit allen Mitteln gegen wen auch immer „vertei­digt“ würden? Das Frankfurter Polizei-Aufgebot übertraf bei Weitem dasjenige bei den sogenannten „Osterruhen“ von 1968, als die damalige Protestbewegung nach dem Attentat auf Rudi Dutschke versuchte, die Auslieferung der Bild-Zeitung durch eine Blockade des mit dem Druck des Blattes beauftragten Betriebs zu verhindern.

Die 1968er Bewegung richtete sich gegen die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg und gegen autoritäre Strukturen in Universität, Familie und Staat. Die revoltierenden Studierenden und Schüler_innen von damals blockierten und besetzten Institute und Rektorate oder agitierten mit Flugblättern und Sprechchören vor Fabriken, Lehrlingswohnheimen, Pressekonzernen und Polizeidirektionen. Die Banken hatten sie überhaupt noch nicht im Blick, sie zu blockieren, ihren Geschäftsbetrieb zu behindern kam damals keinem in den Sinn. Auch die große Masse der Sparer und Kleinaktionäre, die in den Jahren 2008/09, zu Beginn der großen Krise, ihr Geld verlor, nahm das als ein über sie verhängtes Schicksal hin. Nirgendwo forderten sie die Offenlegung der Bücher, keiner der Geschädigten rief seine Leidensgenossen auf, sachverständige Kontrolleure zu wählen und sie den Vorständen und Aufsichtsräten der Geldinstitute aufzuoktroyieren. Erst jetzt zeichnet sich eine Wende ab.

Die Banken sind das Allerheiligste des kapitalistischen Systems. In den durch „Bannmeilen“ geschützten Parlamenten wirtschaften „Repräsentanten“, die an das stählerne Gehäuse der Renditenwirtschaft gekettet sind, mit dem gesammelten Wählerwillen. In den großen Bankhäusern aber wird, jenseits jeder demokratischen Kontrolle, mit dem privatisierten Mehrwert, mit dem Reichtum von Schuldner- und Gläubiger-Staaten gewirtschaftet, der hier umverteilt und gelegentlich auch verspielt wird. In der aktuellen Krise hat die neue Protestgeneration gelernt, dass es mit dem Interventionsstaat nicht weit her ist, dass es der ungeheure Wirtschaftshund (mit seinem Banken-Kopf) ist, der mit den Parlamenten und Regierungen (als seinem Schweif) wedelt. So wurde Occupy-International die erste Protestbewegung, die ihr Lager am Fuß der Bankentürme aufschlägt und damit signalisiert, dass die Allmacht der international agierenden Großbanken künftig nicht einfach als eine Naturtatsache hingenommen wird.

Als der US-Vizepräsident Humphrey im April 1967 Berlin besuchte, planten ein paar Mitglieder der „Kommune 1“ eine Harlekinade. Sie wollten den Staatsgast mit Pudding bewerfen. Die Polizei, die davon Wind bekommen hatte, verhaftete daraufhin 11 „Attentäter“ und verkündete stolz ihren Fahndungserfolg. Über diesen Schildbürgerstreich könnte man heute noch lachen, müsste man ihn nicht mit den grandiosen „Fahndungspannen“ im „Nationalsozialistischen Untergrund“ vergleichen, die sich Geheimdienste und Landeskriminalämter in den vergangenen 12 Jahren geleistet haben…

Wir sind im Jahr 2012. Und diesmal genügte die großspurige Ankündigung einiger Tausend protestierender junger Leute, sie würden den Geschäftsgang der Großbanken stören, um ein Manöver zu veranstalten, das auf einen ganz anderen, möglichen Ernstfall berechnet war. In diesem Zusammenhang ist das folgende Gespräch mit einem Polizeioffizier am Sperrgitter vor der EZB von Interesse:

„Guten Tag. Da drüben ist ja das Zeltlager der Frankfurter „Occupy"-Gruppe, das ich im vorigen Herbst einmal besucht habe. Es ist offenbar verlassen. Wurde es geräumt?“
„Ja, die haben sich schon vor ein paar Tagen verzogen.“
„Wo sind diese Leute jetzt? Gehören sie zu den Hunderten von Festgenommenen?“
„Nein, die sind nicht in Haft.“
„Sie haben ja das Bankenviertel förmlich in ein Heerlager verwandelt, gerade so, als handele es sich hier um einen Volksaufstand.“
Schweigen.
„In einem solchen Fall würden freilich all diese Vorkehrungen nichts nutzen, und auch Sie wären dann wohl nicht hier…“
„Nein, dann stünde hier Militär, und statt der Wasserwerfer h&a
uml;tte man Maschinengewehre in Stellung gebracht.“
„Eine solche Situation hatten wir in Deutschland ja schon einmal, 1918.“
„Ja, sehen Sie, die Geschichte wiederholt sich, es ist immer das Gleiche.“
„Wissen Sie, was die Folge der Niederschlagung der Novemberrevolution war? Die Leute, die damals umgebracht wurden, fehlten 1932/33, als es um die Verteidigung der Republik gegen die Nazis ging!“
„So habe ich das noch nicht gesehen…“
„Ja, sehen Sie, die Geschichte wiederholt sich, aber immer mit Variationen.“

 

Bürgerkriegsübung
„Wie an den Vortagen gelang es der Polizei, die jeweils rund 5 000 Beamte aus mehreren Bundesländern einsetzte […], die Kapitalismuskritiker davon abzuhalten, entgegen dem gerichtlichen Verbot das Frankfurter Bankenviertel zu besetzen. Dies allerdings zu dem Preis, dass der Distrikt vom Leben der Stadt bis zum Samstagabend weitgehend abgeschnitten blieb. Autos wurden nur ausnahmsweise durchgelassen, jeder, der zu Fuß die Kontrollstellen passieren wollte, musste sich ausweisen. Die S- und U-Bahn-Stationen Taunusanlage und Willy-Brandt-Platz blieben an allen vier „Aktionstagen“ gesperrt.“ „Geschäfte und Lokale in der Innenstadt verbuchten nach eigenen Angaben in der Woche starke Einbußen.“ „Die Tage, als Frankfurt stillstand, sind noch längst nicht aufgearbeitet.“ Dyck, Ferdinand, und Helmut Schwan (2012): „Gewalt bleibt in der Minderheit.“ A. a. O., Seite R 1.

 

 

1      Ansichten, Landschaftsbilder der „metaphysischen Malerei“,  Anm. d. Red.
2      Hopliten waren die schwere Infanterie des gr. Altertums. Anm. d. Red.
3      „Nach den Vorgaben des Absurden Theaters verteidigte und blockierte eine stets in der Überzahl befindliche Polizei eine weitgehend menschenleere Innenstadt.“ Schmitt, Oliver Maria (2012): „Protest. Die Maifestspiele der Kapitalismuskritik gastieren vier Tage lang am Main.“ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 5. 2012, S. 24.
4     „Im Rahmen einer präventiven Notstandsverordnung [wurde] das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit für weite Teile des Stadtgebiets aufgehoben.“ Schmitt, Oliver Maria, a. a. O.

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