Je heftiger die Angriffe von oben auf die Lohnabhängigen werden, desto größer wird die Betroffenheit “ganz unten”. Doch zwischen der breiten Ablehnung des sozialen Kahlschlags und den aktiven Protesten klafft ein Abgrund.
Die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung laufen in allen EU-Staaten nach ähnlichem Muster ab. Dabei lautet die ganze Weisheit des internationalen Kapitals und seiner Regierungen:
Die Lohnabhängigen sollen zahlen. Hierzulande schaffte die Regierung bereits die Vermögenssteuer ab, senkte den Spitzensteuersatz und plant eine Amnestie für Steuerflüchtlinge. Nur ein Schritt in der neoliberalen Offensive ist die Agenda 2010 von SPD und Grünen. Weitere Programme werden folgen.
Was den 300.000 KapitaleignerInnen bei Steuererleichterungen und Senkung der "Lohnnebenkosten" gegeben wird, wird den rd. 40 Millionen Lohnabhängigen (einschließlich den Erwerbslosen) aus der Tasche gezogen. Zur Durchsetzung des Sozialkahlschlags und der Senkung des Lohnniveaus dient die hohe Arbeitslosigkeit.
Im Jahr 2002 erhielten allein drei Millionen ArbeiterInnen und Angestellte die Kündigung. Nicht alle wurden zu Dauerarbeitslosen. Viele fanden einen neuen Arbeitsplatz – aber zu niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen. Mit anderen Worten: Wir "zahlen" doppelt und dreifach.
Eine Niederlage im Klassenkampf
Bei der Durchsetzung ihrer neoliberalen Offensive ist die Regierung SPD-Grüne weit vorangeschritten. Mit dem Abbruch der Proteste gegen die Agenda 2010 und dem Streikbruch der IG Metallführung im ostdeutschen Metallstreik hat die ArbeiterInnenklasse zwar keine historische, aber eine ernsthafte Niederlage erlitten. Sie ist die erste, die die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland seit Jahrzehnten einstecken musste. Die Auswirkungen können beträchtlich sein. Ohne im offenen Klassenkampf wirklich geschlagen worden zu sein, hat der Abbruch von Protest und Streik demoralisierende Auswirkungen. Begrenzt wird die Niederlage von außen durch die Mobilisierungen in Frankreich, Österreich und den Aufschwung der Antiglobalisierungsbewegung. In der BRD ist es der SPD und der Zwickel–Huberfraktion (noch) nicht gelungen, die IG Metall in eine IGBCE zu verwandeln.
Die Niederlage festzustellen ist nicht eine Frage von "Optimismus" oder "Pessimismus". Nach Lassalle ist und bleibt es eine revolutionäre Tat, auszusprechen, was ist. Es geht darum, die klassenpolitische Lage illusionslos einzuschätzen und die Schwierigkeiten klar zu erkennen, die vor der ArbeiterInnenbewegung liegen. Nicht um der Resignation oder dem passiven Abwarten das Wort zu reden, sondern um sich um so entschlossener gegen die Offensive des Neoliberalismus zu stemmen.
Sicherlich wird das zunächst nur eine kleine Minderheit der Linken und der Gewerkschaftsbewegung sein. Aber sie kann darauf bauen, dass sehr, sehr viele Lohnabhängige die Auswirkungen des sozialen Kahlschlags am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wut und Hass der Straße auf die Regierungsmaßnahmen sind groß. Doch der oder die Einzelne fühlen sich ohnmächtig gegenüber der großen Koalition aus Regierung, Opposition, Medien, Kapital und Teilen der Gewerkschaftsbürokratie.
Organisationsfrage neu stellen
Damit die Ohnmacht der Vereinzelten in den Widerstand von Vielen umschlägt, braucht es die Organisation der Millionen gegen die MillionärInnen. Nur die Gewerkschaften könnten große Teile der Bevölkerung auf die Straße bringen. Wenn in Österreich eine Million von acht Millionen EinwohnerInnen gegen die Regierungspläne streikten und demonstrierten, dann müssten es in der BRD über 10 von 82 Millionen sein. Ohne die dortigen Regierungspläne verhindert zu haben, hat die ArbeiterInnenbewegung in Österreich hat einen Maßstab gesetzt, an dem wir auch Erfolge oder Mißerfolge der ArbeiterInnenbewegung in der BRD zu messen haben.
Hier gewinnen in den höheren Etagen der Gewerkschaftsführung diejenigen an Einfluss, die sich der Offensive des Kapitals anpassen oder sie mitgestalten. Sie wollen keine Aktionen. Selbständig und spontan von unten ist auch nicht viel zu erwarten. Beim hohen Organisationsgrad und der fast schon preussischen Disziplin der Gewerkschaftsbewegung werden sich die meisten Mitglieder ohne oder gegen die Gewerkschaftsführung nicht bewegen.
Die Frage der Organisierung von gewerkschaftlichem Widerstand auf der Straße stellt sich damit zunächst als Organisationsfrage innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften. In den Gewerkschaften gilt es eine Richtung aufzubauen, die nicht nur Druck auf die Gewerkschaftsführung macht, damit diese gezwungen wird, Proteste zu organisieren. Vor allem muss eine solch klassenkämpferische Gewerkschaftstendenz unabhängig von der Bürokratie versuchen, die Lohnabhängigen zu mobilisieren. Doch das traditionelle Problem der Gewerkschaftslinken ist, dass sie selbst zu zersplittert ist, oft dem linkssozialpartnerschaftlichem Flügel des Gewerkschaftsapparats anhängt und es nicht wagt, sich öffentlich gegen die Bürokratie zu stellen.
Auch außerhalb der Gewerkschaften sind die Aktivitäten gegen den sozialen Kahlschlag noch schwach. Auf einer Aktionskonferenz in Frankfurt/M. haben sich statt ein paar tausend nur gut 100 Aktive getroffen und den Sozialkahlschlag diskutiert. Eine bundesweite Demonstration erfolgte nicht sofort bei Bekanntwerden der Regierungspläne, sondern wird erst fast eine Jahr später am 1. November in Berlin stattfinden. Das ist im Vergleich zu Frankreich und Österreich wenig, aber immerhin besser als nichts. Eine richtige Bewegung gibt es noch nicht und kann nur mittel- und langfristig aufgebaut werden. Je stärker sie wird, um so stärker werden die Gewerkschaften von außen unter Druck gesetzt und desto größer wird die Kraft, die die Linke innerhalb der Gewerkschaften entwickeln kann.
Die Losung der SAP
Eng mit der Ebene der Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Bewegung zusammenhängend stellt sich die Organisationsfrage auch parteimäßig. Mit der Agenda 2010 wird erstmals für viele Lohnabhängige negativ erfahrbar, dass die SPD von einer sozial-liberalen zu einer neoliberalen Partei geworden ist. Die Menschen suchen nach einer parteipolitischen Alternative, haben aber keine. Es fehlt eine Sozialistische ArbeiterInnenpartei, die gegen die bestehenden Parteien auftritt und ihre Schwerpunkte im Betrieb und auf Straße hat.
Eine SAP wird nicht am Grünen Tisch in irgendwelchen Hinterzimmern gegründet, sondern nur aus gemeinsamen Kämpfen entstehen. Es geht dabei nicht um den Zusammenschluss revolutionärer und reformistischer Organisationen, die sowieso nur in verschiedene Richtungen ziehen, sondern in erster Linie um die parteimäßige Bewusstwerdung bisher unorganisierter Lohnabhängiger.
So wünschenswert die Bildung einer SAP ist, noch zu wenige halten sie heute für notwendig. Die schwache revolutionär-sozialistische Linke kann aber
die Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenpartei propagieren und zunächst in der Linken zur Diskussion stellen. Eine SAP wird zwar nicht wie Phönix aus der Asche auftauchen. Aber in diesem Fall arbeitet die Krise des kapitalistischen Systems für eine linke Alternative.