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Innenpolitik

Armut in der Bundesrepublik

Von Daniel Berger | 01.07.2008

Schon beim ersten „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung von 2001 konnten aufmerksame BeobachterInnen feststellen: „Autoren des Vorworts schreiben Armutsbericht schön“ (FR, 24.4.2001). Diese Methode wurde jetzt noch übertroffen. Arbeitsminister Scholz wollte wohl den Stier bei den Hörnern packen, als er im Vorfeld der Veröffentlichung des Entwurfs für den 3. Armuts- und Reichtumsbericht (nur scheinbar gegen den Willen des Kabinetts)  in kurzen Schlagworten im BILD-Interview darlegte, dass die Armut zugenommen hat.

Schon beim ersten „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung von 2001 konnten aufmerksame BeobachterInnen feststellen: „Autoren des Vorworts schreiben Armutsbericht schön“ (FR, 24.4.2001). Diese Methode wurde jetzt noch übertroffen.

Arbeitsminister Scholz wollte wohl den Stier bei den Hörnern packen, als er im Vorfeld der Veröffentlichung des Entwurfs für den 3. Armuts- und Reichtumsbericht (nur scheinbar gegen den Willen des Kabinetts)  in kurzen Schlagworten im BILD-Interview darlegte, dass die Armut zugenommen hat. In Wirklichkeit hat er sich dabei auf eine höchst dubiose Statistik gestützt (die des EU-SILC), um die dramatischer werdende Lage zu verharmlosen.
Statistik zurechtgebogen
Nach der wissenschaftlich nicht anerkannten Methode des EU-SILC von 2006 (s. Kasten) gilt ein Single als arm, wenn ihm/ihr monatlich weniger als 781 € zur Verfügung stehen. Demnach ist laut Bundesregierung der in Armut lebende Bevölkerungsteil im Berichtszeitraum (2003-2005) „nur“ von 12 auf 13 % angewachsen. Nach der in der Bundesrepublik seit Jahren üblichen Erhebung des sozioökonomischen Panels (SOEP) kommt das DIW aber auf einen Anstieg von 11,8 % im Jahr 2000 auf 18,3 % im Jahr 2006.

Schon die neue Bezugsgröße 781 € ist mehr als dubios (mit einem Partner: 1172 €, bei einem vierköpfigen Haushalt mit zwei Schulkindern: 1640 €). 2003 legte die Regierung die Armutsgrenze für ein Single noch bei 938 € fest. Berücksichtigt mensch die seit 2003 eingetretene Preissteigerung von jährlich mindestens 2,5 % (seit letztem Jahr liegt sie deutlich drüber), dann müsste die Grenze heute bei 1061 Euro liegen, also 280 Euro höher als von der Bundesregierung veranschlagt.

EU-SILC
Die European Union Statistics on Income and Living Conditions, (EU-standardisierte Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen) stößt vor allem beim DIW sowie bei den Experten der Universität Ffm auf zum Teil heftigen Widerspruch: Die Fragebögen werden nur auf Deutsch verschickt.Menschen mit Migrationshintergrund verstehen ihn z. T. nicht, die Auswahl der Panelhaushalte ist zufällig und nicht durch den Mikrozensus abgesichert, es gibt keine methodisch korrekte Berechnung von Stichproben und es sind keine Konfidenzintervalle möglich, die working poor sind nicht ausreichend erfasst. Nach der EU-SILC nimmt die Armut bei steigender Kinderzahl ab und nicht zu, was gerade für die BRD völlig unplausibel ist und allen sonstigen Untersuchungen widerspricht, usw. Für mehr Details: http://www.diw.de/documents/publikationen/73/77329/diw_sp0069.pdf

Zweifelhafte Methode
Nicht nur die EU-SILC muss uns aufhorchen lassen. Auch die Methode der geschönten „Zusammenfassung“ wurde schon bei den beiden Vorgängerberichten angewandt: In der Gewissheit, dass die Medien (vor allem das Fernsehen und die sogenannte Boulevardpresse) sich nur auf die Lektüre der 30-seitigen Zusammenfassung stützen, die übrigen 400 Seiten aber nicht studieren und bewerten, kann die Bundesregierung sich damit rausreden, dass keine Untersuchung unterdrückt wurde (im Anhang ist auch die DIW-Studie, die sich auf die SOEP stützt, zitiert).

Und in einem weiteren Sinne ist die Methode zur Bewertung des Ausmaßes an Armut äußerst fraglich: Es wird nicht ermittelt, welches Einkommen erforderlich ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (um also nicht ausgegrenzt zu werden). Stattdessen wird vom Durchschnitt der „Einkommensbezieher aus unselbstständiger Arbeit“ ausgegangen und als arm definiert, wer weniger als 60 % dieses Betrages hat. Wenn nun aber die Zahl der NiedriglöhnerInnen steigt, drückt dies den Durchschnitt und nach dieser Methode auch die Armutsschwelle. Dies widerspricht eklatant der Erkenntnis aus anderen Untersuchungen, dass nämlich die sogenannte Mittelschicht schrumpft und die Reichen immer reicher werden (sowie ihr Anteil an der Bevölkerung zunimmt) während gleichzeitig der Anteil der Einkommensschwachen steigt und heute etwa 25 % der Bevölkerung ausmacht.
Noch hat die Bundesregierung die umfangreichen Anhänge im Armuts- und Reichtumsbericht nicht unterdrückt: Es findet sich dort beispielsweise die dramatische Feststellung, dass zwischen 2002 und 2005 die Bruttolöhne und -gehälter real von durchschnittlich 24.873 € auf 23.684 € zurückgingen (also um 4,7 %; Seite V). Was wir aber nicht mehr im Armutsbericht finden, ist die unbewusst marxistisch angehauchte Feststellung aus dem ersten Armutsbericht von 2001: „Die Ungleichheit aus dem Einkommen ergibt sich aus dem Marktprozess.“ (Erster…; S. XV). Diese Ungleichheit ist in der Tat eine zwangsläufige Folge aus dem Marktgeschehen und hat rein gar nichts mit Gerechtigkeit zu tun, wie uns das ganze Palaver von der „Leistungsgesellschaft“ glauben machen soll. Es zählt letztlich nur die Marktmacht und in diesem Zusammenhang die Zahl der Erwerbslosen, die auf den Wert der Ware Arbeitskraft drücken.
Kinderarmut
Nicht nur ist die Armut in den letzten 5 Jahren dramatisch angestiegen, wozu besonders die Hartz-Gesetze beigetragen haben. Sie trifft vor allem die Kinder. Vor der Einführung von Hartz IV lag der Sozialhilferegelsatz für Kinder unter 14 Jahren um ca. 20 % höher, bei Kindern zwischen 14 und 17 Jahren um ca. 12 % höher als heute. Ihnen werden also die Mittel zum Wachsen und zum Lernen entzogen, denn für den Schulbesuch ist in den Hartz IV-Regelsätzen kein Cent vorgesehen. Und wie sich ein heran­wachsender Mensch von 208 € (für die 7- bis 13-Jährigen) bzw. 278 € (für die 14- bis 17-Jährigen) gesund ernähren, kleiden und Schulsachen besorgen kann, von Klassenfahrten, Teilhaben an gesellschaftlichen Ereignissen usw. ganz zu schweigen, wird uns nicht mal ein Zyniker wie Sarrazin erklären können.
Wachsender Niedriglohnsektor
Wesentliche Ursachen für die wachsende Armut sind die staatliche Politik des Mittelentzugs für Bedürftige sowie die massive Ausdehnung des Niedriglohnsektors, was wiederum (nicht nur, aber auch) eine der Folgen von Hartz IV ist. Der „aktivierende Sozialstaat“ ist vor allem darauf ausgerichtet, mit den Transferzahlungen für Bedürftige das gemeinhin anerkannte Existenzminimum deutlich zu unterschreite
n, sodass Menschen Arbeit zu den unmöglichsten Bedingungen aufnehmen und darüber als Lohndrücker wirken. Arbeit soll auf breiter Ebene billig werden wie Dreck.

Seit Mitte der 90er Jahre ist der Niedrig­lohnsektor in der BRD ständig gewachsen, seit 2003 sogar sprunghaft. Laut Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut des DGB (WSI), das mehr Wahrheiten offenlegt als dem DGB-Vorstand manchmal lieb ist, haben wir heute etwa 7 Millionen Niedrig­lohnempfängerInnen, darunter 3 bis 4 Mio. Vollzeitbeschäftigte. Das ist in absoluten Zahlen der größte Niedriglohnsektor in Europa und der Anteil an allen Beschäftigten liegt mit 22 % über dem Durchschnitt in Europa und fast so hoch wie in den USA. Das belegt eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen. Allein zwischen 2004 und 2006 ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung um 10 % gestiegen. Die Lohnspreizung nimmt zu und ist heute ähnlich weit wie in Großbritannien. Rund 1,3 Mio. NiedriglöhnerInnen nehmen ergänzendes ALG II (Hartz IV) in Anspruch. Die Zahl derjenigen, die da­rauf aus welchen Gründen auch immer verzichten oder nichts von dieser Möglichkeit wissen, ist unbekannt.

Aber nicht nur der Anteil an den Beschäftigten steigt, es sinken die Löhne sogar nominal nicht nur real. In absoluten Zahlen: Die durchschnittlichen Stundenlöhne von NiedriglöhnerInnen sind im Verlauf der letzten beiden Jahre laut IAQ in Westdeutschland von 7,25 € auf 6,89 € und im Osten von 5,48 € auf 4,86 € gesunken!

Veränderung der Reallöhne
Die Schwäche der bundesdeutschen Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen kommt leider auch in der Reallohnentwicklung der letzten 2 Jahrzehnte zum Ausdruck. Nach einer Erhebung des DGB haben sich die Reallöhne in der Zeit 1995-2004 folgendermaßen entwickelt: EU 15 +4,4 %, Frankreich + 8,4 %;  Belgien + 6,4 %;  Italien +2,0 %;  Deutschland -0,9 %.
Arbeitslosenstatistik
Angeblich haben wir „nur“ ca. 3,5 Mio. Erwerbslose. Wichtig zu wissen: Alle Erwerbslosen, denen man eine „Maßnahme“ aufs Auge gedrückt hat, gelten nicht mehr als arbeitslos. Das sind heute vor allem diejenigen, die eine sogenannte Arbeitsgelegenheit machen, wie freiwillig oder auch unfreiwillig auch immer. Mehrere Hunderttausend 1-Euro-Jobber tauchen deswegen in den Arbeitslosenstatistiken nicht mehr auf.
Kampagne gegen die Kürzung der Regelsätze von Kindern
Anfang Juni ist ein Bündnis von verschiedenen Organisationen der sozialen Bewegung an die Öffentlichkeit getreten und fordert eine Rücknahme der mit der Einführung von Hartz IV vorgenommenen Kürzung der Regelsätze für Kinder. Dort heißt es z. B. :
„Die Kürzung der Regelsätze der Kinder von 7 bis 17 muss zurückgenommen werden! Und zwar sofort!
Regelsatz für Schulkinder von 7 bis 13 Jahren 250 € statt 208 €! Sie müssen wieder einen Regelsatz bekommen, der 20 % höher ist, als der von Säuglingen.
Regelsatz von 14 bis 17-Jährigen 312 € statt 278 €!. Sie müssen wieder 90 % des Eckregelsatzes von 347 € bekommen statt 80 %“. Diese Forderungen sind zwar sehr bescheiden – wir meinen zu bescheiden –, aber es wird interessant sein, wie sich die politischen Kräfte dazu verhalten. Es wurden angesprochen und angeschrieben: alle Gewerkschaftsvorstände sowie alle im Bundestag vertretenen Parteien. Die Initiatoren befürchten, dass sogar die Partei Die Linke sich nicht positiv dazu äußern wird, von den Gewerkschaftsvorständen erwarten wir dies kaum, denn sie haben sich bei der Verabschiedung von Hartz IV nicht mit Ruhm bekleckert. Die Gewerkschaftslinke unterstützt diese Kampagne. Nähere Infos anfordern bei: Edgar Schu, Weender Landstraße 97, 37075 Göttingen; edgar.schu@die-soziale-bewegung.de; Tel. 0551 9964381 (Vernetzungsbüro Aktionsbündnis Sozialproteste).


Transferzahlungen
Selbst nach den geschönten Zahlen der Bundesregierung ist die Armut gewachsen. Gäbe es keine Transferzahlungen (Arbeitslosengeld, Kindergeld, Wohngeld usw.), läge der Anteil der Armen doppelt so hoch, nämlich bei 26 %. Am stärksten auf Transferzahlungen angewiesen sind Frauen und hier wiederum vor allem die Alleinerziehenden. Heute sind 670 000 Alleinerziehende von Hartz IV abhängig. Die Armutsquote von Haushalten mit Kindern, in denen keiner einen Job hat, liegt bei 48 %. 34 % der Kinder sind auf Transferzahlungen angewiesen. Sie wären ohne z. B. die Zahlung von Kindergeld selbst nach den Kriterien der Bundesregierung als arm einzustufen. Rund 2,2 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren beziehen heute Sozialleistungen in Höhe des Existenzminimums.

Ähnlich stark betroffen sind Menschen mit Migrationshintergrund, dramatisch schlecht geht es den Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Sie bilden das unterste Ende der sozialen Leiter und arbeiten nicht selten für 2-3 € in der Stunde, ohne Rechte und zu den miesesten Bedingungen. Aber darüber gibt der Bericht der Bundesregierung selbstredend keinen Aufschluss.
Altersarmut
Mit den letzten beiden Rentenreformen ist eine dramatische Entwicklung der Altersarmut in Gang gesetzt worden, die schon in wenigen Jahren auf breiter Front erkennbar sein wird. Auch hier verwischt der Bericht der Bundesregierung mehr als er aufklärt, ja er behauptet sogar: „Wie viele Personen in Zukunft auf staatliche Unterstützung im Alter angewiesen sein werden, lässt sich weder aus der AVID-Studie noch auf der Grundlage anderer Quellen verlässlich abschätzen“ (S. XII). Dabei hat gerade die Rentenreform von 2001 (Riester) einen gewaltigen Einbruch künftiger Rentnergenerationen programmiert. Mit der neuen Rentenformel muss einE DurchschnittsverdienerIn (mit 1.300 € netto im Monat) 28 Jahre arbeiten, um überhaupt auf die Mindestsicherung von 347 € zu kommen. EinE NiedriglöhnerIn, der/die beispielsweise 75 % des Durchschnitts verdient, muss bereits 38 Jahre arbeiten, um einen Rentenanspruch von gerade mal 347 € zu erwerben.

Offiziell liegt heute die Niedriglohnschwelle bei brutto 1.779 € im Westen und 1.323 € bim Osten. Vor allem Frauen sind betroffen. Im Schnitt aller Berufe verdienen Frauen 22 % weniger als Männer für die gleiche Arbeit. Frauen stellen 35 % der Vollzeitbeschäftigten, aber ihr Anteil an den vollzeitbeschäftigten NiedriglöhnerInnen liegt bei fast 60 %.

Reichtum
Während die Armut wächst, nimmt der Reichtum zu: Es gibt heute in der BRD 800 000 Millionäre, jährlich kommen 30 000 weitere dazu. In Europa leben heute 20 000 der weltweit 95 000 Superreichen (Ultra-HNWIs = Ultra-High-Net-Worth-Individu
als), die ein privates Vermögen von mehr als 30 Mio. € pro Kopf haben.

„Entlastung“ bei der Beitragszahlung
Neben der allgemeinen Einkommensentwicklung wirkt auch hier die staatliche Politik des Abbaus der sozialen Sicherungssysteme. Konkret ist das der Rückgang der Durchschnittslöhne und der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (von 34 Mio. Lohnabhängigen sind nur 26.85 Mio. sozialversicherungspflichtig, davon nur 21 Mio. in Vollzeit; Stand Juni 2007) in Verbindung mit der Privatisierung der Rentenversicherung. Verbal wendet sich der DGB zwar gegen die Rente mit 67, unterstützt aber die im Mainstream so stark verankerte Position der Senkung der Lohnnebenkosten.

Im Fall der Rentenversicherung wünscht sich der DGB also ebenfalls eine Senkung des Beitragssatzes, um die BeitragszahlerInnen zu „entlasten“. Das führt aber nur zu einer Entlastung des Kapitals, denn jeden Prozentpunkt, um den ein Sozialversicherungsbeitrag gesenkt wird, müssen wir an anderer Stelle alleine ausgleichen, ohne auf den so genannten „Arbeitgeberanteil“ zurückgreifen zu können. Wird nämlich der Beitrag zur Rentenversicherung um 1 % gesenkt, werden dabei 8,7 Mrd. gespart, nämlich 4,35 Mrd. bei der Kapitalseite und 4.35 Mrd. € bei uns. Wenn wir die dadurch verringerten Rentenzahlungen ausgleichen wollen, müssen wir aber nicht nur 4,35 Mrd. sondern 8,7 Mrd. aufbringen. Schlimmer noch: Dadurch, dass wir uns gemäß Riester zum Ausgleich für die sinkenden Renten privat versichern müssen und diese Konzerne dabei mit Profitraten von mindestens 15 % kalkulieren, müssen wir diese auch noch mit bezahlen. Da hilft die staatliche „Förderung“ nur wenig, zumal die vorläufige Steuerbefreiung nur zu einer nachgelagerten Besteuerung führt, also der Anteil der zu versteuernden Renten kontinuierlich steigen wird.

Dass das anlagehungrige Kapital vor allem die Rentenversicherung im Visier hat (nicht nur in Deutschland, sondern weltweit), ist nicht schwer zu verstehen: Allein in einem Jahr (2007) hat die gesetzliche Rentenversicherung 232 Mrd. € umgesetzt. Wenn man diese Summen von privaten Versicherungen ansammeln und „verwerten“ lässt, springen zweistellige Milliardenbeträge an Profiten raus. Zum Vergleich: Die Verwaltungskosten der Deutschen Rentenversicherung machen 1,5 % der eingezahlten Beträge aus; den Versicherungen, die Riesterrenten anbieten, werden staatlicherseits 15-20 % „Verwaltungskosten“ zugestanden.
Auch die „Entlastungen“ bei den anderen Sozialversicherungen gehen auf unsre Kosten. Die Absenkungen der Beiträge zur Arbeitslosen-Versicherung von 6,5 % auf 4,2 % Anfang 2007 und dann auf 3,3 % Anfang 2008 hat dem Kapital eine Ersparnis von 10 Mrd. € gebracht, ohne dass deswegen unsere Existenz sicherer geworden wäre.
DGB-Position
Natürlich wissen die Herrschenden sehr wohl, dass die „Arbeitslosigkeit“ nicht an der „fehlenden Qualifizierung“ oder an den zu hohen Löhnen liegt. Andere Länder hatten bei der Einführung eines Mindestlohns in aller Regel eine Abnahme der Erwerbslosigkeit zu verzeichnen. Aber der Deutsche Gewerkschaftsbund versucht immer wieder die andere Seite von der volkswirtschaftlichen Vernunft des Mindestlohns zu überzeugen und fordert deswegen auch nur einen Mindestlohn, der für das Kapital akzeptabel sein soll. Aber genau das ist die absolute Sackgasse, denn die Tendenz in Richtung Ausweitung des Billiglohnsektors kann nicht mit Anbiedern und Konfliktvermeidung bekämpft werden. Dazu braucht es Kampf für akzeptable Mindestlöhne.

Die Wischiwaschi-Position äußert sich schon in der Analyse der herrschenden Verhältnisse. Der DGB drückt sich um eine korrekte Bewertung der wachsenden Armut, indem er die falsche Bezugsgröße nutzt. Er definiert als arm nur diejenigen, die weniger als 50 % des Durchschnitts verdienen (das sind dann 2,6 Mio. Menschen). Das ist ganz bequem, schließlich wird die Zahl der Betroffenen damit kleiner und die vom DGB geforderte Mindestlohngröße von 7,50 Euro wird damit nicht ganz so abenteuerlich niedrig im Vergleich zu dem, was man bräuchte, um der Armut zu entgehen. Zweitens weigert er sich, die mit Hartz-IV abgesenkten Sätze für Kinder konsequent zu kritisieren und fordert im neuen Bericht der „AG Kinderarmut“ vom 27.5.08 „… eine unabhängige Kommission“, die untersuchen soll, welche Sätze denn Kinder benötigen. Er lehnt es ab, die Rücknahme der mit Hartz-IV durchgesetzten Absenkung der Regelsätze für Kinder zu fordern, von der Forderung nach einer deutlichen Anhebung ganz zu schweigen.
Welche Forderungen?
Die Forderung des DGB nach einem Mindestlohn von 7,50 € kann angesichts der realen Lebenshaltungskosten überhaupt keinen Weg aus der Armut darstellen. Beim heutigen Stand reichen auch die 2003 vom Frankfurter Appell geforderten 10.- € Mindestlohn nicht mehr aus. Wir fordern deswegen 12 Euro Mindestlohn in der Stunde. Nur so kann zumindest für ein Single ein Einkommen oberhalb der Armutsschwelle erzielt werden. Ein solches Minimum muss branchenübergreifend gelten und gekoppelt werden an die Steigerung der Lebenshaltungskosten.

Da auf die Regierung oder den „Gesetzgeber“ nicht gebaut werden kann und die Gewerkschaften genau diesen Kampf nicht aufnehmen wollen, kann nur eine breite Bewegung für einen akzeptablen Mindestlohn sowie für allgemeine kräftige Lohnsteigerungen weiterhelfen. Um gerade die unteren Einkommen besonders zu fördern und über die Angleichung nach oben einen solidarisierenden Effekt zu erzielen, ist die Forderung nach 300 Euro mehr für alle die beste Losung, um diese Bewegung aufzubauen.

Ergänzt werden muss dies um die Forderung nach einem Verbot von Entlassungen sowie einer ausreichenden Grundsicherung für diejenigen, die in diesem Wirtschaftssystem keine oder keine akzeptable Arbeit angeboten bekommen. Der DGB will die Regelsätze nur „überprüfen“ lassen. Aber auch die Hartz IV-Regelsätze für Erwachsene nur auf 420 Euro anzuheben, wie dies die Partei Die Linke fordert, ist ebenfalls nicht geeignet, Menschen in der Armutsfalle zu helfen.  Es müssten schon mindestens 500 Euro sein, wie dies ein großer Teil der sozialen Bewegung fordert (so auch der Frankfurter Appell), besser jedoch wären 700 Euro, wie wir dies im Einklang mit den einschlägigen Berechnungen verschiedener Betroffenengruppen fordern. Weg mit Hartz IV und den „Zumutbarkeitsregelungen“!

Diese Kernpunkte unseres sozialpolitischen Programms stehen im Zusammenhang mit unseren sonstigen Forderungen1, vor allem nach einer Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Entgelt- und Personalausgleich. Deshalb sagen wir:

  • •    Weg mit der Rente mit 67, Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre ohne Abschläge!
  • •    Verkürzung der Wochenarbeitszeit in großen Schritten, bis alle Arbeit haben! Die 30-Stundenwoche bei vollem Entgelt- und Personalausgleich sofort!

 

1    Vgl. dazu auch „Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite! 13 Vorschläge des RSB für eine soziale und demokratische Wende!“, oder unsere Kritik der Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen  sowie das Programm des RSB

 

Detailliertere Infos zu Niedriglöhnen in Deutschland unter:

 

 

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