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Länder

Arabische Revolution: Die 18 Tage von Kairo

Von Jan Weiser | 01.03.2011

Das 21. Jahrhundert meldet sich an. Neue Generationen tragen alte Kämpfe aus, aber auf ihre Weise. Die Menschen gehen ständig neue – zunächst technische – Beziehungen ein, welche die Produktivkräfte einer neuen Gesellschaft sind, die an den Fesseln der alten Verhältnisse zerren.

Das 21. Jahrhundert meldet sich an. Neue Generationen tragen alte Kämpfe aus, aber auf ihre Weise. Die Menschen gehen ständig neue – zunächst technische – Beziehungen ein, welche die Produktivkräfte einer neuen Gesellschaft sind, die an den Fesseln der alten Verhältnisse zerren.

Das Internet macht keine Revolution. Aber es ermög­licht explosive Massenbewegungen, wie sie die Welt zuvor nicht kannte. Die arabische Revolution ist im Begriff, das Gesicht der Welt nachhaltig zu verändern – vergleichbar mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ihr Zentrum hatte sich binnen weniger Wochen von Tunesien in das bevölkerungsreichste Land der Region verlagert: Ägypten.

Und diese Revolution hat bereits zwei nicht revidierbare Ergebnisse hervorgebracht:
Erstens: Revolutionäre Veränderungen, in denen die Massen selbst in die Politik eingreifen, sind möglich. Kein Unterdrückungsapparat kann sie verhindern.
Zweitens: Das rassistische eurozentrische Weltbild, das von einer natürlichen Unterlegenheit der Bevölkerung des „Orients“ ausgeht, ist beschädigt. Wer sagte noch „die Menschen dieser Region in der Welt sind für das demokratische Verständnis der westlichen Staaten der Welt ungeeignet“? Urheber dieser Einschätzung war kein europäischer Rechtspopulist, sondern der frühere König von Saudi-Arabien, vor sechs Jahren. Dasselbe sagte mit etwas anderen Worten der deutsche Verkehrsminister Ramsauer (CSU) vor wenigen Wochen in Syrien: „Unsere Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten sind nicht einfach eins zu eins auf Länder in anderen Weltregionen übertragbar.“ Der Unterschied ist der: Als Ramsauer sprach, waren längst andere Zeiten angebrochen.
Drei Phasen der Revolution und fünf „Tricks“
Der bisherige Verlauf der arabischen Revolution kann in drei Phasen eingeteilt werden. Die erste Phase ist die der wochenlangen Proteste in Algerien und Tunesien Ende 2010/Anfang 2011. Ihr Endpunkt wird markiert durch die Flucht des tunesischen Despoten Ben Ali nach Saudi-Arabien. In der zweiten Phase weitete sich die Revolution aus auf andere Länder (Jemen, Jordanien, Ägypten). Gleichzeitig herrschte hier von Beginn an ein grundsätzlich verändertes Bewusstsein vor. Die Massen hatten aus der Erfahrung von Tunesien gelernt: Wir können gewinnen. Mit dem Sturz Mubaraks ist nun klar: Sie werden gewinnen. Kein Regime kann sich mehr in Sicherheit wiegen. Dies läutet die dritte Phase der Revolution ein, charakterisiert v. a. durch den Aufruhr in Bahrain und in Libyen.

In Tunesien ging die Revolution auch nach Ben Alis Flucht weiter. Seither hat es täglich gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und den Sicherheitskräften (Polizei und Geheimdienst) gegeben, durchaus auch mit Todesopfern. Die Menschen dort kämpfen „gegen den Diebstahl der Revolution“. Dies bringt die (realistische) Befürchtung zum Ausdruck, dass die alten Eliten, die Reste des Regimes, ihre Macht restaurieren wollen. Die personelle Besetzung der Übergangsregierung änderte sich binnen weniger Wochen bereits mehrmals. Mittlerweile sind alle Minister der früheren Staatspartei RCD aus ihr entfernt. Heute sind bereits die Todesstrafe abgeschafft und die RCD ist verboten worden. Alle Oppositionsparteien sprechen sich gegen weitere Privatisierungen aus. All das konnte nur unter dem beharrlichen Druck der Massen vor sich gehen, die ihre Rechte jeden Tag neu erkämpfen müssen. In diesem Zusammenhang ist von symbolischer Bedeutung, dass der algerische Staat den seit 19 Jahren (!) währenden „Ausnahmezustand“ aufzuheben verspricht (nebenbei eine Stilblüte der Staatskunst, dass der Ausnahmezustand gerade dann endet, wenn die „Ausnahme“, nämlich die Revolution an die Tür klopft…). Der Staatsapparat fährt in beiden Fällen eine widersprüchliche und doppelte Taktik: Einerseits Reformversprechen (und konkrete Schritte), andererseits nach wie vor brutale Unterdrückung.

Zu diesen beiden Elementen kommt in der Regel noch ein drittes. In Libyen etwa, um ein typisches Beispiel zu nennen, verteilte die Regierung „Geschenke“ an die Massen: So wurden unter Gaddafi die Steuern auf Lebensmittel kurzerhand abgeschafft; der libysche Staat kaufte etliche Tonnen Mehl vom Weltmarkt für die Bevölkerung; in Jordanien werden Brot und Benzin nun stärker subventioniert. Der bei den Demonstrierenden damals noch immer beliebte König entließ zudem die Regierung. Denn das vierte Mittel der Herrschenden zur Beruhigung der Lage ist die personelle Regierungsumbildung: Besonders verhasste Gesichter sollen erst einmal von der Bildfläche verschwinden, um die Gemüter zu beruhigen. Auch im Jemen protestierten seit Jahresbeginn Zehntausende. Und hier kommt das fünfte Mittel der Herrschenden zur Anwendung: Sie schüren die Angst vor einem Bürgerkrieg, denn im Jemen sind traditionell viele bewaffnet. Besonders in den ethnisch und religiös heterogenen Staaten (wie etwa Syrien) ist eine starke Regierung noch immer in den Augen von vielen ein Garant für Stabilität. In Ägypten lassen sich alle diese Elemente wiederfinden; doch keines erzielte die gewünschte Wirkung.
Charakter des Regimes
Die Hälfte der 85 Millionen Einwohner­Innen Ägyptens lebt von weniger als zwei US-$ pro Tag. Dass das erste Quartal 2011 die höchsten Lebensmittelpreise seit je auf dem Weltmarkt bedeutete, reicht eigentlich aus, um zu erklären, weshalb die soziale Lage explodiert ist.

Gleichzeitig hat die Verschmelzung von Staatsapparat und nationaler Bourgeoisie einen ungeheuerlichen Reichtum hervorgebracht. Zum Vergleich: In Deutschland etwa mehren die Vermögenden im Stillen und unter dem Schutz der Gesetze ihren Reichtum. Die Staatsmacht, d. h. Regierung, Bundestag, Bundesrat usw. setzt hierfür „nur“ die (möglichst günstigen) Rahmenbedingungen. Minister­Innen und Abgeordnete sind selten Angehörige der Bourgeoisie, vielmehr sind es meist Staatsbeamte oder Anwält­Innen, d. h. Angehörige der gehobenen Mittelschicht, die ein sehr gutes, aber kein astronomisches Einkommen erhalten.

Dies ist die „saubere“ Arbeitsteilung der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie. Die „schmutzige“ Herrschaft – die für industriell unterentwickelt gehaltene Länder wie Ägypten typisch ist – ist die persönliche Bereicherung der Staatsbeamten und die Selbstbedienung der Bourgeoisie aus dem Staatshaushalt: Dies ist die von liberalen Moralaposteln immer bemängelte „Korruption“. Die Despoten-Familie Mubarak hat in der Zeit ihrer Herrschaft ein Vermögen von mindestens 40 Mrd. Euro angehäuft, verwaltet u. a. von Schweizer Banken. Verschiedene Minister des Regimes hatten etwa die Tourismusindustrie oder andere Konzerne in ihren Händen. Die persönliche Bereicherung setzt sich fort bis zum niedrigsten Beamten, der ohne B
estechungsgeld keinen Finger rührt.

Dieser Herrschaftsmechanismus bewirkt einerseits, dass Politik in diesen Ländern weitaus stärker personalisiert ist (Minister etwa verschenken persönlich Geld an besonders arme Familien usw.) als hierzulande. Dies bewirkt eine innere Tendenz zur Diktatur, denn der Kampf um die Macht ist das Kampf um das Geld. Staatliches Eigentum erfüllt die Funktion von privatem. Gleichzeitig können Machtverhältnisse nicht kritisiert werden, ohne Eigentumsverhältnisse zu kritisieren. Deshalb haben die demokratischen Forderungen in Ägypten und ähnlichen Ländern immer auch einen sozialen Inhalt. Und die Ursachen für diese Revolution sind im Wesentlichen sozialer Natur: Armut, Arbeitslosigkeit, Taglohn und keinerlei öffentliche Absicherung. Weiter östlich liegende ölreiche Staaten wie Saudi-Arabien mögen noch repressivere Regime haben – insofern diese Regime aber die Massenarmut im Griff haben (z. B. mit kostenlosen Gesundheitssystemen), ist ihre Herrschaft bislang relativ stabil.
Die Zuspitzung der Lage
Der Sturz Mubaraks (25. Januar bis 11. Februar) fällt völlig in die zweite Phase. Am 25. Januar rief die Opposition zu einem „Tag des Zorns“ auf. Menschenmassen lieferten sich in der Hauptstadt Kairo Straßenschlachten mit der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer des deutschen Herstellers MAN einsetzte. Ein damals von der Polizei bewachter großer Kairoer Platz sollte in den kommenden Tagen und Wochen weltweite Bekanntheit erlangen: Es ist der Tahrir-Platz (Platz der „Befreiung“). Am folgenden Freitag (28. Januar) waren das Internet und die Handynetze landesweit  abgeschaltet. Nachdem es dennoch zu noch größeren Demonstrationen gekommen war, wurde der Tahrir-Platz von der Opposition des Landes in Beschlag genommen. Am folgenden Dienstag (1. Februar) erreichten die Proteste einen ersten Höhepunkt. Der „Marsch der Millionen“ brachte schätzungsweise 2 Mio. Menschen in Kairo auf die Straße, 1 Mio. in Alexandria und Hunderttausende in anderen Städten. Landesweit ging man von etwa acht Millionen aus.

Zum Vergleich: Als in Deutschland 2004 einige Hunderttausend Menschen gegen Hartz IV auf die Straße gingen (Montagsdemos, DGB-Demos am 3. April) waren dies schon Ereignisse, die die oppositionellen Kräfte in der BRD bis heute geprägt haben. Auf dem Höhepunkt der politischen Krise in der DDR im Dezember 1989 waren in Ost-Berlin etwa 1 Mio. Menschen auf der Straße, einige Hunderttausend in Leipzig und anderen Städten: Die DDR-Regierung knickte auf der ganzen Linie ein. In Ägypten ist die unmittelbare Anteilnahme der Massen um ein Vielfaches größer gewesen.

Doch die Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz zogen nicht zum Präsidenten-Palast, sie stürmten keine Regierungsgebäude oder besetzten Parteizentralen. Sie feierten eine riesige Party. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben gab es einen öffentlichen Raum, in dem sie sich frei äußern konnten. Diesen Raum ließen sie nicht los, und so bauten einige in der Mitte des Platzes improvisierte Zelte auf, die sich in den kommenden Tagen zu einer festen Zeltstadt erweiterten. 

Doch bereits am nächsten Tag (Mittwoch, 2. Februar) kippt die Stimmung. Die Konterrevolution organisiert sich. Tausende, mit Knüppeln, Messern und Macheten Bewaffnete stürmen auf den Platz und schlagen wahllos auf alles ein. Autos fahren durch Menschenmengen, das ägyptische Museum und andere Gebäude werden in Brand gesetzt. Reiter auf Kamelen (auch in Kairo ein fremder Anblick) und Pferden verbreiten Schrecken. Die Armee sieht bei all dem zu. Dort, wo die Menge eines Gewalttäters habhaft werden kann, nimmt sie gnadenlos Rache. Bei vielen, die festgenommen werden, findet man Polizeiausweise (In Ägypten hat die Polizei andere Personalausweise). Einige gestehen, dass ihnen das Regime 10 $ bezahlt hat, um Chaos zu verbreiten. Später wird man erfahren, dass die Regierung gezielt Gefängnisse geöffnet hat, um eine große Menge an skrupellosen Gangstern aufzutreiben. Das Ziel ist – wie schon in Tunesien erprobt – Chaos zu verbreiten, um damit dem Regime Legitimität zu verleihen.

Am Freitag darauf waren jedoch alle Schlägerbanden plötzlich verschwunden. Die Demonstrierenden kontrollierten selbst Ausweise. Mubarak ernannte den verhassten Geheimdienstchef Suleiman zum Vizepräsidenten – eine jämmerliche Regierungsumbildung, gedrängt hatte hierzu überhaupt erst die US-Regierung. Handynetzbetreiber verbreiteten Pro-Regierungs-SMS. Auf dem Tahrir-Platz sammelte sich eine ebensogroße Menschenmenge wie am Dienstag.
Auf dem Tahrir-Platz
Die Revolutionär­Innen gehören fast alle zur jungen Generation. Differenzen zwischen Christen und Muslimen gibt es praktisch nicht. Auffällig ist der friedliche Charakter der Massenbewegung. Gruppen von Freiwilligen räumen den Müll von den Straßen und wehe dem, der etwas zerstören will!

Auf dem Tahrir-Platz sieht man weder grüne Fahnen noch rote. Denn weder islamistische Kräfte noch sozialistische haben einen großen Einfluss. Auch die vom Westen beinahe hysterisch gefürchteten Muslimbrüder sind eher konservative Demokraten und haben nur eine geringe Basis. Ebenso geht es den klassischen, halblegalen Oppositionsparteien. Die mangelnde Organisiertheit ist gleichzeitig die Schwäche der Bewegung, denn ein richtiges Programm ist nicht verbreitet. Die Masse lebt von den Erfahrungen des Tages. Das Regime hat offenbar beschlossen, die Krise auszusitzen. Und die Rechnung scheint beinahe aufzugehen, denn in einem Land, in dem 40 % der Menschen von täglichen Löhnen abhängig sind, ist Demonstrieren ein Luxus. Zu radikaleren Aktionen ringt sich die Masse aber nicht durch. Das Militär verhält sich neutral…

Am Wochenende darauf tritt der Parteivorstand der NDP zurück. Die Regierung verspricht Freilassungen und Reformen, in Wahrheit jedoch wird weiter verhaftet und gefoltert. 300 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt bereits ums Leben gekommen.

Am Sonntag (6. Februar) kommt der populäre Facebook-Aktivist Wael Ghonim aus der Haft frei. Ein perfide geplanter TV-Auftritt gerät zum Desaster. Ghonim prangert unter Tränen das Regime an und verlässt während der Live-Sendung das Studio. In diesem Moment schließt sich die Generation der Eltern, die vor dem Fernseher sitzt, den Protesten ihrer Töchter und Söhne an. Und so kommt es am folgenden Dienstag wieder zu riesigen Demonstrationen, viele sind zum ersten Mal auf der Straße, womit die organisierte Arbeiter­Innenbewegung die Bühne betritt. Von nun an wird auch das Parlament belagert. Auf einem Schild steht: „Geschlossen bis zum Sturz des Regimes“.

Mittwoch, 9. Februar: Der neu gegründete Verband unabhängiger Gewerkschaften ruft zum Generalstreik gegen das Regime und für höhere Löhne auf, sowie zur Gründung von Fabrikkomitees. 20 000 Arbeiter­Innen folgen. Denn der Tahrir-Platz, von dem CNN und Al-Djazeera permanent berichten, ist nur die Spitze des Eisbergs. Was im weiten Land vor sich geht, erfährt man kaum. Vielerorts streiken Arbeiter­Innen, stürmen Slumbewohner­Innen Regierungsgebäude. In einer kleineren Stadt brennen an diesem Tag Demonstrant­Innen e
ine Polizeikaserne, Polizeiwachen und ein Gerichtsgebäude nieder, nachdem die Polizei drei Menschen erschossen hat. Da das Regime nicht zurücktritt, bewirkt es die langsame Auflösung des gesamten Staates, auf dem es sitzt. Vize-Präsident Suleiman droht derweil offen mit einem Putsch und Kriegsrecht – doch „illgeal“ ist ohnehin schon alles, was die Opposition macht.

Der Generalstreik weitet sich am nächsten Tag aus: Tausende Arbeiter­Innen stoßen zu den Demonstrant­Innen in Kairo. Die staatlichen Eisenbahner streiken, ebenso 5 000 Ölarbeiter­Innen in Alexandria und Zehntausende Textilarbeiter­Innen in Mahalla – und das trotz angekündigter Lohnerhöhungen von 15 %. An diesem Abend begeht das Regime den ultimativen Fehler.
Kurz vor Mitternacht wendet sich der verhasste Diktator an „sein“ Volk. Ein greiser Mann spielt die Rolle des besorgten Vaters, berichtet von militärischen Erfolgen von Anno dazumal, zählt Paragraphen auf. Die Volksmenge, die eine Rücktrittserklärung erwartet hatte und nichts anderes akzeptieren würde, ist fassungslos über den Realitätsverlust Mubaraks. Der letzte Hauch von Vertrauen erstickt augenblicklich. (Da war also noch guter Glaube!) Für einen Moment breitet sich Stille aus über den Straßen von Kairo, Alexandria und dem gesamten Land. Die Folge ist ein nie gesehener Sturm der Empörung. Tausende ziehen in Kairo zum staatlichen TV-Sender und belagern ihn. In Alexandria zieht die enttäuschte Menge zur nächsten Militärbasis, um endlich eine Positionierung zu fordern.
Die Rolle des Militärs
Doch welche Rolle spielt das Militär überhaupt? Was sich hinter den Kulissen abgespielt hat, lässt sich nur erahnen. Natürlich unterstand die Armee dem Befehl der Regierung, sie ist das Rückgrat des Staates. Das Militär beschützte alle staatlichen Einrichtungen vor den protestierenden Massen. Gleichzeitig ist es eine Agentur des Westens. Denn die USA zahlen jährlich 1,3 Mrd. $ Militärhilfe an Ägypten. Die Offiziere sind im Westen ausgebildet, die Stabschefs stehen in direkter Beziehung zum Pentagon. Die Generäle betonten aber von Anfang an ihre „Neutralität“, d. h. sie würden nicht auf die Menge schießen lassen. So kommt es zum offenen Bruch in den Reihen der herrschenden Klasse Ägyptens. Die 400 000 Soldaten werden im Gegensatz zu den 1 Mio. Polizisten nicht als Teil des Unterdrückungsapparats wahrgenommen.

Die Mehrzahl der Generäle wusste natürlich, dass der Schießbefehl sehr wahrscheinlich ihr letzter wäre, denn ein großer Teil der Wehrpflichtigen würde nicht auf das Volk schießen, aus dem sie selbst kommen. Und selbst wenn, wäre die Revolution von da ab in ihrem Verlauf nicht mehr zu kontrollieren gewesen. Denn das Militär musste fürchten, von der wütenden Menge überrannt zu werden. Die Armee musste auch befürchten, zu einem zu frühen Zeitpunkt die Macht zu übernehmen; denn das hieße, alle Verbindungen zum alten Regime zu kappen (in deren Verbrechen es selbst verstrickt ist) und sich einem großen Erwartungsdruck der Massen auszusetzen. Diese Unsicherheiten bewirkten ein Gleichgewicht der Kräfte, das zum scheinbaren Stillstand führte. Dieser Stillstand an der Oberfläche steigerte jedoch mit jedem Tag die Ungeduld der Massen auf den Straßen. Hätte das Militär einen Putsch gewollt, wäre die (kommissarische) Machtübernahme schon Wochen vorher möglich gewesen. Es wollte nicht! Es schien kaum Herr der Lage zu sein, als sich Menschen zum Schlafen vor die Panzerketten legten, um ein Wegfahren der Panzer über Nacht zu verhindern. Dies war eine „unbewusste“ Inbesitznahme oder zumindest die Paralyse des entscheidenden Teils der Staatsmacht durch die Straße.
Der entscheidende Tag
Für den 11. Februar hatte die Opposition zu einem landesweiten „Marsch der 20 Millionen“ aufgerufen. Ob diese Zahl tatsächlich erreicht wurde, weiß niemand. Denn wer hätte die Massen, die an diesem Tag auf die Straßen strömten, zählen sollen? Die Demonstrationen fanden überall statt. Hunderttausende belagerten den Präsidenten-Palast in Alexandria; in Kairo war der gesamte Palast-Stadtteil vom Militär abgeriegelt, ebenso das staatliche Fernsehen, das von Demonstranten belagert wurde. Niemand kam hier raus oder rein.

Stündlich steigen die Spannungen zwischen Militär und Demonstrant­Innen. Es kommt zu kleinen Rangeleien, teilweise weicht die Armee langsam zurück. Würde jetzt nur ein Soldat die Nerven verlieren, gäbe es ein Blutbad, an dessen Ende dennoch die Massen siegen würden. Würde die Armee zur Seite treten und der Wut der Massen freie Bahn lassen, wäre sie ebenso am Ende. Zu einem bestimmten Zeitpunkt konnte die Frage für die Militärs nur lauten: Lassen wir Mubarak fallen oder lassen wir uns alle von der Revolution überrollen? Um 18 Uhr, noch während der abendlichen Freitagsgebete – wofür wird wohl jedeR Einzelne gebetet haben? –, ertönt die Nachricht vom „Rücktritt“ des verhassten Tyrannen, der sich in den Urlaubsort Sharm-el-Sheikh zurückgezogen hat. Die Massen brechen in endlosen Jubel aus, Soldaten verbrüdern sich mit Demonstrant­Innen und in allen Ländern der arabischen Welt strömen Menschen auf die Straßen. Binnen kaum vier Wochen ist die zweite Diktatur gestürzt, oder besser: niedergerungen. Denn Militär und USA haben die letzte Reißleine gerade rechtzeitig gezogen.
Die Revolution hat begonnen
Ägypten ist heute kein „halb-feudaler“ Staat, sondern ein „unterentwickeltes“ Industrieland. Es sind die verarmten städtischen Massen, die erstmalig in die Politik eingegriffen und den verhassten Diktator gestürzt haben, und die werden ihre Freiheit mit Zähnen und Klauen verteidigen. Und Vorbild sein für andere.

Im Brennpunkt stehen heute Algerien, Libyen und Jordanien, doch selbst das Königreich Bahrain erlebte bereits Massenproteste; ebenso flammte der Protest im Iran wieder auf. Gleichzeitig bedeutet politische Partizipation für diese Menschen ein Angehen der sozialen Probleme des Landes (Arbeitslosigkeit, Privatisierung, Nahrungsversorgung), die allesamt Auswirkungen des Kapitalismus sind. Eine zentrale Rolle wird weiterhin die Armee spielen. Allein wenn die Bevölkerung versuchen würde, die Streitkräfte zu demokratisieren (Soldatenräte, revolutionäres Militärkomitee), bedeutete dies schon einen Bruch mit dem bürgerlichen Staat und gleichzeitig einen Bruch mit dem Imperialismus. Was dieser Revolution fehlt, ist nicht die Aufopferung und die Solidaritätsbereitschaft der Massen. Auch das System könnte nicht weniger Legitimation haben. Die ungelöste Hauptfrage dieser Revolution ist schlicht die der revolutionären Führung. Die klassenbewussten Arbeiter­Innen müssen diese Führungsrolle erringen.

Noch am Freitagabend unterbinden die Sicherheitskräfte in Algerien und Jordanien öffentliche Solidaritätsbekundungen, erschießt die ägyptische Polizei in einer kleineren Stadt aus Rache und Angst zehn Menschen. Die Reaktion werden weitere Aufstände sein.

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