Angela Klein, für die Internationale Sozialistische Organisation (ISO)
Alain Krivine war eines der wenigen in Deutschland bekannten Gesichter der französischen Ligue Communiste Révolutionnaire, die zu den Zeiten seines politisch aktiven Lebens die größte Sektion der IV. Internationale in Europa bildete, und ihrer Nachfolgeorganisationen. Er war zugleich einer der Genossen dieser Sektion, deren internationalistischer Blick nicht nur nach Italien oder Spanien und Portugal sowie Lateinamerika, sondern auch nach Osten gerichtet war: eines seiner hierzulande bekanntesten Fotos zeigt ihn neben Rudi Dutschke auf der Demonstration gegen den Vietnamkrieg im Februar 1968 in Berlin, dahinter ein riesiges Banner der Jeunesse Comuniste Révolutionnaire. Er nahm lebhaften Anteil am Widerstand der Arbeiter:innen und Student:innen gegen den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei und war mit Petr Uhl, dem Sprecher der linken, rätedemokratisch orientierten Opposition, der mit ebenfalls 80 Jahren drei Monate vor ihm gestorben ist https://intersoz.org/petr-uhl-1941%e2%80%922021/, befreundet. Er sprach kein Wort Deutsch, aber er hatte ein großes Verständnis für die Mobilisierungen und Umbrüche, die in Deutschland stattfanden, wie für die Schwierigkeiten revolutionärer Politik. Obwohl 20 Jahre jünger als Ernest Mandel, teilte er mit ihm die Vorstellung, das deutsche Proletariat habe im Kampf für den Sozialismus in Europa eine Schlüsselrolle. Jede politische Überheblichkeit war ihm fremd.
Als einer der Sprecher und lebendige Verkörperung des französischen Mai 68 mit seinen Barrikaden im Quartier Latin und den 10 Millionen Streikenden war er weit über unsere Reihen hinaus ein bekanntes Gesicht. Mehr als einmal hat er auf verschiedenen Veranstaltungen über die Lehren aus 1968 gesprochen, unter anderem auf dem Kongress „Die letzte Schlacht gewinnen wir!“, den Die Linke.SDS und die linksjugend [solid] im Mai 2008 in Berlin veranstaltet haben.
Wie ganz wenige nur war er in der Lage, aus dem Stegreif komplizierte politische Zusammenhänge in einfachen Worten auszudrücken – ein genialer Kommunikator der Aktualität der Revolution in einem Land, das sehr weit davon entfernt war und ist. Last but not least: Bei all seiner Bekanntheit und Medienwirksamkeit war er ein zugänglicher, ganz und gar uneitler und stets hilfsbereiter Mensch. Er war für die deutsche Sektion eine wertvolle Stütze.
Daniel Bensaïd
Mit seiner Studibrille und seiner „Krawatte“ (Gegenstand des libertären Spotts) hatte er einen romantisch-doktrinären Look. Man soll sich nicht auf die Erscheinung verlassen. Alain ist eher ein hyperaktiver Pragmatiker, belebt von einer Berufung und einer authentischen Leidenschaft für die Politik. Er erwies sich als materiell, medial und moralisch unkorrumpierbar. Die Präsidentschaftswahl von 1969 war erst die zweite, die über das Fernsehen betrieben wurde. Ich bin nicht sicher, ob einer anderer, so junger Kandidat den Schmeicheleien und Verführungen der Personalisierung so gut widerstanden hätte. Ausgebildet im Kampf gegen alle Formen der Bürokratie war Alain eine Art von zuversichtlichem großen Bruder und ein Beispiel egalitärer Strenge; immer bereit, seinen Anteil an der Fron zu tragen; immer bereit, auch mitten in der Nacht einem Genossen zu Hilfe zu eilen, der in einem Kommissariat festsaß; immer bereit, sich am bescheidensten Essen zu erfreuen oder sich mit der unbequemsten Gastfreundschaft von Genossen zufrieden zu geben.
Auszug aus:
Daniel Bensaïd: Ein ungeduldiges Leben. Politische Autobiografie, aus
dem Französischen übersetzt von Elfriede Müller, Hamburg: Laika-Verlag, 2016,
(Laika theorie, Bd. 65), S. 119.
Edwy Plenel
Auszug auf seinem Nachruf auf Mediapart vom 14. März 2022
„Mit dem Tod von Alain Krivine am 12. März mit 80 Jahren geht der letzte aktivistische Repräsentant des Mai 68 von uns, der den Revolten seiner Jugend treu geblieben ist indem er Antiimperialismus, Antistalinismus und Antikapitalismus verband. Seine Persönlichkeit fügte dieser Treue eine offensichtliche Integrität hinzu, ohne Machtansprüche und Parteidogmatismus. „Das wird Dir im Alter schon vergehen“: Als Alain Krivine akzeptierte, in einer 2006 erschienenen Autobiographie nicht sein Leben, sondern „ein kollektives Abenteuer“, das unter dem Emblem der „Möglichkeit einer demokratischen Revolution“ stand, zu erzählen, wählte er für sein Buch diesen Titel.[… ]
Diese einfache Idee, dass die Emanzipation, die Suche nach Freiheit, die Hoffnung auf Gleichheit, die Forderung nach Gerechtigkeit zunächst eine Weigerung, eine Negation der bestehenden Ordnung, ein Auffahren gegen ihr Elend, ihre Lügen, ihre Herrschaft sind. Was man üblicherweise die Linke nennt, entsteht immer wieder aus dieser endlosen sich immer erneuernden und nie abgeschlossenen Bewegung gegen Konservatismus. […] Wenn Alain Krivine in der politischen Welt eine Ausnahme darstellte, dann deshalb, weil seine nie in Frage gestellte Treue seiner ursprünglichen Revolte gegenüber von einer Ablehnung der Ambitionen und Kompromisse, Karrieren und Posten begleitet war, wo sich das Ideal entfernt und korrumpiert wird. Der Moment seines Todes erinnert daran, wie seine Geradlinigkeit ohne jeglichen Dogmatismus einen klaren Blick bewahren konnte. […] In der unauflöslich miteinander verbundenen demokratischen, sozialen und internationalistischen Radikalität, die ihn antrieb, verortete sich Alain Krivine entschieden auf der Seite der gesellschaftlichen Bewegung anstatt der institutionellen Politik. Die Vertreter:innen der letzteren werden ihm in Anbetracht der Ohnmacht seines Aktivismus entgegenhalten, dass es notwendig ist, Verantwortung zu übernehmen. Angesichts des Zustands der Linken heute, ihrer Schwächen, ihrer Spaltungen und Zerreißproben hätte er es leicht, ihnen zu entgegnen, dass die konkreten Kämpfe, ganz nahe bei denen, die es zu allerst angeht, den Boden für jegliche Neubegründung darstellen.“
Vollständiger Nachruf: https://www.mediapart.fr/journal/france/130322/alain-krivine-un-integre-en-revolution
Aus dem Französischen übersetzt von Elfi Müller
François Sabado
Ich habe Alain das erste Mal Ende 1969 im Lycée Voltaire in Paris getroffen. Er war von der neuen Schülerzelle der Ligue am Voltaire eingeladen worden, auf einer öffentlichen Veranstaltung zu sprechen. Für uns junge Gymnasiasten besucht uns einer der Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 1969, vor allem kommt da eine der historischen Führungspersönlichkeiten des Mai 68 zu uns. Ich war beeindruckt von dem, was er verkörpert; Spuren hinterlassen haben vor allem seine Sympathie, seine Unkompliziertheit, seine Umgänglichkeit und sein offenes Ohr für die Fragen der jungen Leute in diesem Saal.
Da schon gelingt es Alain, ein Leben als Aktivist im Alltag mit der Verkörperung einer Geschichte, eines Kampfes und einer politischen Kontinuität zu verbinden. Ich sollte dann mehr als vierzig Jahre lang an seiner Seite politisch aktiv sein.
Konstant unterstützte er die Unterdrückten, gleich auf welchem Kontinent sich die Kämpfe abspielten, seien es Algerien 1956, die antikolonialen Revolutionen, die Revolten in Prag oder im Osten gegen bürokratische Regime, im Mai 68 oder Nicaragua. In seinem „trotzkistisch-guevaristischen“ Engagement verschmelzen die Solidarität mit dem Kampf des Che, mit der kubanischen Revolution und die Bejahung der Ideen der Linken Opposition gegen den Stalinismus und der Vierten Internationale.
Das Duo Alain und Daniel Bensaïd hielt ihr ganzes Leben lang, sie arbeiteten gemeinsam in der Leitung der Ligue: Unermüdlich versuchten sie, an die revolutionären strategischen Hypothesen des Jahrhunderts anzuknüpfen. In diesem Duo verkörperte Daniel die Ligue über Ideen, und Alain die Organisation.
Es galt eine Gratwanderung zu unternehmen, um dies zu erreichen: sich vom Reformismus abgrenzen und gleichzeitig die Integration der Revolutionär:innem in die reale Massenbewegung anstreben. Alain ist einheitsorientiert: Er scheut keine Energie und steht immer zur Verfügung, um Massenkämpfe oder -bewegungen zu unterstützen. Wir erinnern uns noch an seine Teilnahme an der Besetzung der Kirche Saint-Bernard aus Solidarität mit den Sans-Papiers, an seine zahlreichen Unterstützungen von Arbeiterkämpfen oder sozialen Bewegungen. Der rote Faden ist die Einheit in der Aktion und die Verteidigung eines antikapitalistischen Programms.
Alain ist besessen vom Dialog mit linken Aktiven, vor allem mit den Kommunist:innen, und darüber hinaus mit Gewerkschafter:innen und den Aktiven in den sozialen Bewegungen. Er stellt sein Talent in den Dienst einer ständigen Bemühung: unsere Politik an die Menschen heranzutragen, indem er die richtigen Worte und Formeln findet, die ins Schwarze treffen. Und dafür bemüht er sich, unbedingt Bodenhaftung zu bewahren: Vergessen wir nicht, dass er fast bis an sein Lebensende gerne die Presse der Organisation am Ausgang vom Markt in Saint-Denis verkauft hat. Er blieb ein treuer Leser von LʼHumanité, und Saint-Denis blieb seine Heimatstadt. Das kommunistische Milieu ist in Alains politischem Denken stets sehr präsent geblieben.
Schließlich ist Alain ein Mann der „Partei“, im historischen Sinne, aber auch im täglichen Leben vor Ort, weit entfernt vom Bild des Sektierers, der das Besondere seiner Organisation kultiviert. Erinnern wir uns auch daran, wie gerne er sich in den Dienst von anderen gestellt hat ‒ sei es beim Verteilen von Flugblättern, beim Aufräumen des Büroraums oder als Fahrer für den einen oder anderen bei der Organisation.
Er betrachtete die Organisation als ein Instrument, ein wirksames Mittel zur Umsetzung von revolutionären Ideen. Nach den Niederlagen des 20. Jahrhunderts und dem Epochenwechsel, den wir erleben, wird die Notwendigkeit einer Neuorganisation der historischen Emanzipationsbewegung spürbar. Alain spürte dies lebhaft am eigenen Leib.
Um zum Schluss zu kommen: Alain – das sind über sechzig Jahre politische Kämpfe, aber vor allem ein Gespür für die Initiative, ein seltenes politisches Gespür. Diejenigen, die ihn kennen, sagen oft, dass Alain „einen guten Riecher“ hat, dass er einen Sinn für Situationen und Machtverhältnisse hat. Vor allem aber besaß er die Intelligenz, die unmittelbare Aktualität mit neuen historischen Horizonten zu verknüpfen. Diese Eigenschaft ermöglichte es ihm, den Sirenengesängen der Macht zu widerstehen, denen so viele andere aus seiner Generation erlegen sind. Alain verkörpert den Adel der Politik und verdient unsere Achtung! Abschließend möchte ich noch sagen, wie wertvoll und wie notwendig die Anwesenheit und die Unterstützung von Michèle während seines gesamten Lebens für Alain gewesen sind.
Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried
Janek (ex-„Cyril Smuga“)
Auch wenn wir es seit Monaten befürchtet haben, ist es eine schreckliche Nachricht und wie das Ende einer Ära…
Und das mitten im Krieg in der Ukraine, wo es doch Alain war, der uns bei der Gründung der ukrainischen Sozialnyi Ruch (soziale Bewegung) vertreten hat, und wo es doch Alain war, der unsere ersten Verbindungen zu denen geknüpft hat, die unsere Genoss:innen in Russland geworden sind…
Er hat er meinem Leben eine Richtung gegeben, als er mich 1979 gefragt hat, ob ich nicht eine Stelle in der Rubrik „Internationales“ von Rouge antreten will.
Ciao Alain, wir setzen unseren gemeinsamen Kampf fort.
Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried
Janette Habel
Wie heute von dem kollektiven Lebensweg, den Alain verkörperte, berichten? Dem Lebensweg einer Generation in der Zeit des Algerienkrieges und des Antifaschismus, der Krise des Stalinismus, des Vietnamkrieges, der Kubanischen Revolution, von 1968, aber auch der Zeit des Einmarsches in die Tschechoslowakei.
In den Sechzigerjahren geriet die Geschichte aus den Fugen. In der UEC (Union des étudiants communistes, dem Studierendenverband der KPF) stieß der antikolonialistische Kampf der Algerier:innen auf das Unverständnis der Leitung der KPF, die sich gegen die Unabhängigkeitsforderung wandte, die sich damit zufrieden gab, „Frieden in Algerien“ zu fordern. Alain hatte sich der Jeune Résistance (Junger Widerstand) angeschlossen, die die jungen Rekruten organisierte, die sich weigerten, am Kolonialkrieg teilzunehmen. Am 17. Oktober 1961 erlebte er die rassistischen Ausschreitungen gegen die Algerier:innen unter der Führung des Pariser Polizeipräfekten und ehemaligen Kollaborateurs Maurice Papon. Die Anhängerschaft eines französischen Algerien und der [in Frankreich und in Algerien aktiven rechtsradikalen militärischen Geheimorganisation] OAS waren in der Offensive. Die Front uni antifasciste (FUA, antifaschistische Einheitsfront), bei der Alain aktiv war, erstarkte durch die Teilnahme von zahlreichen Intellektuellen, wurde aber von der Leitung der Kommunistischen Partei wegen ihrer „abenteuerlichen Politik“ kritisiert.
Der Algerienkrieg endete 1962, hinterließ aber Spuren. Die linken Student:innen verließen die KPF. Es war der Beginn einer historischen Abzweigung, die es manchmal gibt, wenn mehrere politische Wege sich treffen, die von dem alten Maulwurf gegraben worden waren, jenem roten Maulwurf, der das Abzeichen der LCR werden sollte.
Nach und nach gewann das Puzzle der politischen Ereignisse an Kohärenz. Chruschtschows Geheimrede war keine Fälschung, wie es die Leitung der KPF lange behauptete; die während der Moskauer Prozesse verurteilten Bolschewisten waren keine Verräter. Die verratene Revolution und andere Schriften von Leo Trotzki wurden rumgereicht. Der Verlag Maspero nahm den Faden der unterbrochenen Geschichte wieder auf.
Auf internationaler Ebene entstand mit der Kubanischen Revolution in Lateinamerika ein neuer Hoffnungsschimmer. Die nordamerikanische Invasion der Schweinebucht endete 1961 mit einer krachenden Niederlage. Eine offizielle Delegation der UEC reiste danach nach Havanna. „Die Aufgabe jedes Revolutionärs besteht darin, die Revolution zu machen“, proklamierten Fidel Castro und Che Guevara. Diese öffentliche Kritik der lateinamerikanischen kommunistischen Parteien bestätigt die Analyse. Nicht nur die KPF wurde in Frage gestellt. Die Geschichte der Russischen Revolution unter Stalin und der Kominform muss neu betrachtet, der Kampf der Linken Opposition und der IV. Internationale wieder aufgenommen werden. Der entstehende Internationalismus der neuen Generationen in Frankreich und auf der ganzen Welt ging wie der Antiimperialismus durch den Vietnamkrieg gestärkt daraus hervor. 1963 spricht der russische Poet Jewtuschenko in der Mutualité. [Der Schauspieler] Laurent Terzieff liest seine Gedichte und kritisiert die Erben von Stalin, erinnert an Babi Jar, den Ort der an das Massaker an den 100.000 Jüd:innen während des Zweiten Weltkrieges erinnert und prangert den Antisemitismus an. Tausende Jugendliche applaudierten Jewtuschenko. An der Sorbonne ist der „Secteur Lettres“ (vergleichbar mit Literaturwissenschaft) der UEC in Aufruhr. Mehrere Strömungen sind darin vereint. Die Entscheidung der KPF war getroffen: Die Partei muss von dieser Dissidenz gesäubert werden. Die Auflösung findet im Januar 1966 statt. Daraufhin wird die JCR gegründet. Es war Alain, der die Initiative ergriff: Er beherrschte diese politischen Herausforderungen. Er engagierte sich in allen Kämpfen. Sein politisches Gespür hat ihn nicht getäuscht: 1968 bestätigt, dass eine politische und generationelle Neugründung am Werk ist. Man muss die Bestandteile organisieren, eine neue militante Kraft daraus werden lassen. Der Antifaschismus kann nicht mehr dazu dienen, die Verbrechen des Stalinismus zu rechtfertigen; die Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe und des Antiimperialismus sind fest mit dem Antikapitalismus zu verbinden, auch mit dem antibürokratischen Kampf. Alain widmet sein ganzes Leben und seine aktivistische Energie – und die war enorm – diesen Kämpfen und bewies dabei Bescheidenheit, Hingabe und absolute Uneigennützigkeit. Zu einer Zeit, in der das Gepolter der Globalisierung die Monster des kriegerischen Nationalismus und religiösen Fanatismus hervorbringt und das Leben auf dem Planeten bedroht, ist die Weiterführung des exemplarischen Kampfes von Alain keine Lebensentscheidung, sondern eine Notwendigkeit.
Aus dem Französischen übersetzt von Elfi Müller
Michael Löwy
Unser geliebter Alain ist von uns gegangen, es ist ein bisschen so, als wäre der Geist des Mai 68 verschwunden. Er war bis zum letzten Atemzug den Idealen des Kommunismus, der Freiheit und der Revolution treu. Und er hat sich mit Mut, Entschlossenheit und viel Humor und Ironie dem Zeitgeist widersetzt. Versuchen wir, ihn zu ehren, indem wir seinen Kampf fortsetzen.
Hasta siempre, Genosse Alain!
Olivier Besancenot
Ich erinnere mich an die erste Versammlung, zu der ich hingegangen bin, um Alain zuzuhören. Ich muss wohl 15 Jahre alt gewesen sein, und danach war mein Leben auf den Kopf gestellt. Die Aufrichtigkeit seines Diskurses, sein Feuer und seine Schlussbemerkung über „die Revolution, die ein System, das verkehrt rum läuft, zurechtrückt“ ‒ das hat mich definitiv gewonnen. Ich wollte bei diesem Kampf dabei sein. Er war schneidig, er weigerte sich, sich selbst allzu ernst zu nehmen, während er Ideen vertrat, die in vielerlei Hinsicht ernst zu nehmen waren. Seine Interessen hatten einzig und allein mit seinen Überzeugungen zu tun, und das spürte man auf den ersten Blick. Das Gegenteil von einem karrieristischen Politiker. Und schon damals war diese Authentizität ein Befreiungsschlag.
Später, in all den Jahren unserer gemeinsamen Aktivitäten, habe ich seine Einfachheit und sein unermüdliches Engagement zu schätzen gelernt. „Ob zehn Leute auf einer Versammlung sind oder Tausende, man muss sie alle einzeln abholen“, hat er immer wieder zu mir gesagt. Alain glaubte nur an die Tugend der politischen Tätigkeit, er wusste die Opfer von jedem und jeder ‒ außer seine eigenen ‒ abzuschätzen. Wie viele andere hatte auch ich oft die Gelegenheit, seinen Spott ‒ diese einzigartige Selbstironie, die ihn so erreichbar machte ‒ sowie seinen legendären Humor zu genießen, der zweifellos ebenfalls für alle verständlich war.
In all dieser Zeit, vor allem in den 1990er Jahren, hat Alain uns mehr als einmal herausgerissen, indem es mit seiner Popularität und der sozialen Reichweite seines Wirkens möglich gemacht hat, dass wir den Kopf über Wasser halten konnte. Sein Adressbüchlein ist immer mal wieder benutzt worden, um politische Initiativen ins Leben zu rufen oder auszuweiten, von der Kampagne für Schuldenstreichung „Ça suffat comme ci!“ 1989 über die Mobilisierung der Sans-Papiers in der Kirche Saint-Bernard 1996 bis hin zu den Beschlagnahmen von leerstehenden Wohnungen mit „Droit au logement“, Seite an Seite mit seinem Kumpel Professor Léon Schwartzenberg. Ich erinnere mich auch daran, dass Alain im Zentralkomitee der Ligue einer der ersten war, der 1995 den Generalstreik gegen den Juppé-Plan kommen sah und dafür einige belustigte Bemerkungen über sich ergehen lassen musste. Aber er war derjenige, der richtig gelegen hatte.
Ich erinnere mich daran, dass er, als wir 1999 im Europäischen Parlament ein kleines Team um Roseline Vachetta und Alain bildeten, nie das schlechte Gewissen in den Augen von gewissen anderen früheren führenden Gestalten des Mai 68 bemerkte, wenn wir auf den Gängen an ihnen vorbeikamen. Sie hatten seit Jahren bequeme Mandate, nachdem sie einen ganz anderen politischen Weg eingeschlagen hatten als er. Er scherte sich nicht darum, weil er sich nicht in solche Urteile hineinsteigerte. Diese Eigenschaft hat er, zusammen mit anderen, mir so gut es ging beizubringen versucht.
Es gibt tausendundeine gemeinsame Erinnerungen und ich weiß, dass Alain auch nicht gerne in Nostalgie geschwelgt hat. Ich möchte nur die immense Kraft hervorheben, die er mir während der Präsidentschaftskampagnen vererbt hat, als er versuchte, mir das Vertrauen zu geben, das ich nicht hatte, und zwar mit allen Mitteln. Vor und nach jeder Kundgebung und jeder Sendung. Ohne Herablassung, ohne Paternalismus. Mit einer unerschütterlichen Treue und einer außergewöhnlichen Freundschaft.
Alain bestand immer darauf, dass die schönste Art, das Andenken der Verstorbenen zu feiern, darin besteht, ihren Kampf fortzuführen. Daher möchte ich das Verständnis eines Engagements wie seines als Standarte bewahren. Eine schöne Standarte, auf die ich stolz bin und die ich ihm zu verdanken habe. Versehen ist sie mit einem nicht verhandelbaren Internationalismus, der ihn gegen jede Form von Imperialismus oder nationale Union immun machte. Umhüllt ist sie mit einem ebenso tief verwurzelten wie durchdachten Antifaschismus, den die Geschichte einmal mehr von uns fordert. Rot ist sie von einem lebendigen, einheitsorientierten und undogmatischen Marxismus. Geprägt ist sie von seiner revolutionären Besessenheit, eine bessere Welt schaffen zu wollen.
Du hast ganz Recht, Alain: „Es gibt heute noch mehr Gründe, zu revoltieren und Revolutionär zu sein, als gestern.“ Allerdings, ohne dich wird heute nie mehr so sein wie vorher. Meine Gedanken sind bei Michèle, Florence, Nathalie und Hubert [Alains Ehefrau, den Töchtern und dem Zwillingsbruder].
Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried
Ausgewählte aus den
zahlreichen Beiträgen, die in L’Anticapitaliste,
Nr. 607, 17. März 2022, abgedruckt sind,
https://lanticapitaliste.org/opinions/politique/hommages-alain-krivine-parus-dans-lanticapitaliste-ndeg-607
sowie aus
https://lanticapitaliste.org/actualite/politique/plus-de-150-messages-de-solidarite-venus-de-tout-le-pays-pour-alain-krivine
Viele weitere Würdigungen:
https://lanticapitaliste.org/actualite/politique/hommages-alain-krivine-de-la-part-de-differentes-organisations-de-france
https://lanticapitaliste.org/actualite/politique/messages-de-militantes-de-differents-pays-en-hommage-alain-krivine
https://fourth.international/fr/europe/429
http://www.globalecosocialistnetwork.net/2022/03/14/alain-krivine-1941-2021/