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Betrieb & Gewerkschaft

Agenda 2010: DGB ohne Gegenkonzept

Von D. Berger | 01.06.2003

Schröders Agenda 2010 ist nicht nur ein brutaler Angriff auf den Lebensstandard von Millionen Lohnabhängiger. Dieser Angriff stellt auch die bisherige Rolle der Gewerkschaften in Frage. Die Gewerkschaftsführung musste reagieren, aber die real existierende Gewerkschaftsbürokratie hat die Organisation noch gut im Griff und verhindert eine wirkungsvolle Mobilisierung. Der Druck von unten ist noch nicht groß genug.

Schröders Agenda 2010 ist nicht nur ein brutaler Angriff auf den Lebensstandard von Millionen Lohnabhängiger. Dieser Angriff stellt auch die bisherige Rolle der Gewerkschaften in Frage. Die Gewerkschaftsführung musste reagieren, aber die real existierende Gewerkschaftsbürokratie hat die Organisation noch gut im Griff und verhindert eine wirkungsvolle Mobilisierung. Der Druck von unten ist noch nicht groß genug.

Wenn die Gewerkschaftsbürokratie bisher so schwach Stellung bezieht, dann liegt das nicht nur daran, dass sie "ihren Kanzler" nicht gefährden will. Gerade in den oberen Rängen des gewerkschaftlichen Apparats herrscht die Vorstellung vor, man könne mit keynesianischer Wirtschaftspolitik die Probleme Arbeitslosigkeit und leere Kassen bei den Sozialversicherungen lösen.

Im Denken des politisch extrem schwachen DGB-Bundesvorstands spielt die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen eine vollkommen untergeordnete Rolle. Ihm geht es mehr darum, die "Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft" zu sichern. Vor allem möchten TOP-Bürokraten in der Debatte um die "notwendigen Reformen" des Sozialstaats nicht als Blockierer, als "Neinsager" und egoistischer "Besitzstandswahrer" erscheinen.

Wer nicht wirklich vom Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital ausgeht, wird immer dazu neigen, die vorgegebene Reichtums- und Einkommensverteilung als gottgegeben anzusehen. Der DGB-Vorsitzende hat das Konzept des Vorstands in einem Beitrag für Die Zeit vom 8. Mai erläutert und fasst dort das Bürokratenkonzept folgendermaßen zusammen:

"Der Deutsche Gewerkschaftsbund legt deswegen heute einen Diskussionsentwurf für eine gewerkschaftliche Reformagenda vor, die darauf abzielt, diese Schwäche unsrer Wirtschaft nachhaltig zu beseitigen. Wir setzen auf eine grundlegende Reform der Finanzpolitik, und wir setzen auf eine drastische Senkung der Sozialabgaben in einer Größenordnung von 8,5 Prozentpunkten sowie ihre Gegenfinanzierung zum Teil über die öffentlichen Haushalte."
Dreifach falsches Konzept
Die Gewerkschaftsbürokratie nimmt keinen Klassenstandpunkt ein. Sie weiß, warum. Schließlich hängt ihre privilegierte Position, ihre Macht und ihr Geld, ganz wesentlich davon ab, dass die Verhältnisse gerade nicht zum Tanzen kommen. Deshalb ist sie immer wieder um Konzepte bemüht, die sich nur in bedeutungslosen Nuancen vom theoretischen Ansatz und der praktischen Politik der Regierung (bzw. der herrschenden Ideologie) unterscheiden.

Bei der Säule "Finanzpolitik" sollen 3 Milliarden Euro "Investitionsanreize" für die Altbausanierung und 15 Mrd. Euro "Investitionszulagen" des Bundes für die Kommunen rüber geschoben werden. Der Staat ist verschuldet, aber soll das Problem lösen, indem er das Geld aus seiner einen Tasche nimmt und in die andere hineinsteckt. Hin- und herschieben, nur ja nicht bei den KapitaleignerInnen holen.

Im Gegenteil: Kern der DGB-Säule Finanzpolitik ist es, die nächste Steuerreform rückwirkend zum 1.1.03. vorzuziehen und über zusätzliche Bundeszuschüsse Unternehmen mit hohen Investitionen zu subventionieren. Wenn aber heute nicht mehr produziert wird, dann liegt dies gerade nicht an einem zu geringen Kapitalstock, sondern an den Absatzmöglichkeiten für die zu produzierenden Güter und Dienstleistungen. Der Dreh- und Angelpunkt bleibt nun mal die zu geringe kaufkräftige Nachfrage, die sich – im Kapitalismus zwangsläufig – nicht im Gleichklang mit den aufgebauten Kapazitäten entwickelt hat. Steuerreformen, die im Neoliberalismus immer das Hauptziel haben, das Kapital zu "entlasten" (oder auch Investitionszulagen) lösen keine "Arbeitsmarktprobleme", sondern verschärfen sie. Denn diese Geschenke für das Kapital werden für Rationalisierungen eingesetzt, und gerade nicht für eine Ausdehnung der Produktion und zur Einstellung von Arbeitskräften, sondern im Zweifelsfall für ihren Abbau.

Nicht besser steht es mit der zweiten Säule, der Tarifpolitik. Auch hier folgen der DGB und sein Vorsitzender Sommer der neoliberalen Schule, nach der dem Kapital bei der Zerstörung des Flächentarifvertrages entgegengekommen werden muss: "Darüber hinaus müssen wir prüfen, in welche Flächentarifverträge wir mit den Arbeitgebern Klauseln einbauen, um die Verträge für Betriebe in einer kritischen Situation auf Basis von Tarifverträgen öffnen zu können […] darüber hinaus unterstütze ich einen Vorschlag der IG Metall aus dem vergangenen Jahr, den ver.di in ähnlicher Form im Bankensektor umgesetzt hat. Es geht darum, einen Teil eines Abschlussvolumens – auf Basis einer tarifvertraglichen Regelung wohlgemerkt – in den Betrieben umzusetzen [!!…] Für ebenso unterstützenswert halte ich die Einführung von befristet niedrigeren Einstiegslöhnen für ehemalige Langzeitarbeitslose, wie dies die IG Bergbau, Chemie, Energie vereinbart hat."

Mit anderen Worten: In der Debatte um die Verteidigung des Flächentarifvertrages reiht Sommer sich in die Front derjenigen ein, die die Bedingungen für einen wirkungsvollen Abwehrkampf untergraben. Wer Tarifverträge verbetrieblicht, also die Ausgestaltung den "Betriebspartnern" überlässt, macht diese Ausgestaltung logischerweise von den betrieblichen Kräfteverhältnissen abhängig und fördert Differenzierung unter den Lohnabhängigen sowie die Drift nach unten.

Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass nicht nur die Betriebe immer kleiner werden und so die Kampfmöglichkeiten sich naturwüchsig einengen. Auch die unmittelbare Erpressbarkeit ist viel größer und das Gegeneinanderausspielen wird immer leichter.

Die DGB-Vorschläge zur Sozialpolitik sind nicht weniger gewerkschaftsfern. Sommer in der Zeit: "Um die seit Jahren von der anhaltenden Schwäche bis Rezession der Binnenwirtschaft betroffenen Unternehmen zu entlasten, gleichzeitig die sozialen Sicherungssysteme krisenfest zu machen sowie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer zu entlasten, schlagen wir vor: Die öffentlichen Haushalte sollen stärker an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligt werden. […] eine Senkung der Sozialabgaben, die heute quasi als Sondersteuer den Faktor Arbeit übermäßig belasten […] um gut 8,5 Prozentpunkte setzt allerdings Folgendes voraus …. [Sicherungssysteme effizient machen, Kreis der Beitragszahler ausdehnen, die ‚soziale Symmetrie im Steuerrecht wieder herstellen‚] …Ein solches Finanzvolumen – insgesamt geht es um eine Entlastung des Faktors Arbeit um rund 50 Mrd. Euro – lässt sich allerdings nicht in einem Schritt bewegen. Kurzfristig, um vor allem Steuererhöhungen in der jetzigen Stagnation zu vermeiden, können die Abgaben insbesondere durch Effizienzgewinne und die Finanzierung vers
icherungsfremder Leistungen über den Bundesetat um 2.5 Prozentpunkte gesenkt werden."

In der Vorstellung der Gewerkschaftsbürokratie, speziell des DGB-Bundesvorstands werden alle Probleme gelöst, wenn die Wirtschaft in Schwung kommt, und dies wird v. a. dann möglich sein, wenn das Kapital gefördert wird. So heißt es im "Hintergrundpapier für die wirtschafts- und sozialpolitische Reformagenda des DGB" (Titel: ‚Mut zum Umsteuern. Für Wachstum, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit’) vom 8. Mai auf Seite 13: "Die Stärkung der Finanzkraft der öffentlichen Haushalte, wie in Kapitel 1 beschrieben, darf nicht zur Konsolidierung eingesetzt werden, sondern um den Faktor Arbeit zu entlasten."

Unter "3.1 Gesetzliche Krankenversicherung" fordert das DGB-Programm: "Mehr Wettbewerb für niedrigere Beiträge." Wie die Folgen des Wettbewerbs aussehen, kennen wir zur Genüge: Druck auf die Arbeitsplätze und Löhne der im Gesundheitssektor Beschäftigten, Einschränkung von Leistungen der Krankenkassen usw. Der rote Faden des DGB lautet also: Entlastung des Kapitals und nochmals Entlastung des Kapitals zur Ankurbelung der Wirtschaft. Dies ist nichts als Neoliberalismus pur.
Was tut Not?

  1. Wir sind für hohe Lohnnebenkosten, weil das Kapital die Kosten tragen soll. Wir wollen die Abschaffung aller direkten Steuern für die Lohnabhängigen und die Bezahlung der Steuern durch die KapitaleignerInnen und die Reichen.

  2. Wir wollen hohe Lohnsteigerungen, nicht nur weil dies die Massenkaufkraft stärkt und somit Arbeitsplätze sichert, sondern vor allem weil wir gesellschaftlichen Reichtum in die Hände derjenigen lenken wollen, die ihn schließlich produzieren und die heute von wachsender Armut bedroht sind.

  3. Wir wollen eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und definierten Arbeitsbedingungen – so lange bis alle Arbeit haben.


In dieses Programm passt der Kampf um die 35-h-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie. Es geht hier auch und gerade um das politische Signal: Dieser Kampf ist von seiner Logik her heute in der Praxis der einzige wirkliche Kontrapunkt zur neoliberalen Offensive der Regierung und dem katastrophalen Geschwätz des DGB-Vorstands. Die Verteilung der Arbeit auf alle Hände ist aktuell die wichtigste Achse, um dem Kampf gegen die Angriffe des Kapitals eine strategische Perspektive zu weisen.

 

Zu hohe Lohnkosten?
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung  (DIW, kein gewerkschaftsnahes oder linkes Institut) schreibt in seinem Wochenbericht von Mitte Mai, dass die schwache Nachfrage die entscheidende Konjunkturbremse sei. Im Unterschied zu früheren Flauten handele es sich heute um die eines "neuen Typus nachfragebedingter Stagnation". Auch seien die "realen Lohnkosten" (also einschließlich der berühmten Lohnnebenkosten) nicht Grund für die Flaute. Die gewerkschaftliche Zurückhaltung der letzten Jahre habe sich "merklich vorteilhaft für die Unternehmen" ausgewirkt. "Insbesondere wenn man dieser Größe eine maßgebliche Rolle für die Beschäftigungsentwicklung zuschreibt, kann hierin weder der Grund für die verschlechterte Konjunktur noch für die Beschäftigungseinbußen gesehen werden."

Somit kommen auch bürgerliche Ökonomen zu dem Schluss, dass das Abwürgen der Massenkaufkraft die hohe Arbeitslosigkeit verschärft hat. Die Folgen der Agenda 2010 werden also auch auf dieser Ebene schrecklich sein.

 

 

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