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Betrieb & Gewerkschaft

ÄrztInnenstreik: Gewerkschaftliche Aktion oder Standespolitik?

Von Thadeus Pato | 01.06.2006

Einen wirklichen flächendeckenden ÄrztInnenstreik hat es in der BRD nach 1945 nie gegeben. Und so sind für die meisten BeobachterInnen die Aktionen der angestellten ÄrztInnen an den Krankenhäusern ebenso überraschend wie die Radikalität ihrer Forderungen. Dass das Medienecho insgesamt relativ positiv ist, verwirrt ebenfalls, wenn man dagegen hält, dass die teilweise seit drei Monaten durchstreikenden „sonstigen“ Beschäftigten an einigen Universitätskliniken demgegenüber eher stiefmütterlich behandelt werden.

Einen wirklichen flächendeckenden ÄrztInnenstreik hat es in der BRD nach 1945 nie gegeben. Und so sind für die meisten BeobachterInnen die Aktionen der angestellten ÄrztInnen an den Krankenhäusern ebenso überraschend wie die Radikalität ihrer Forderungen. Dass das Medienecho insgesamt relativ positiv ist, verwirrt ebenfalls, wenn man dagegen hält, dass die teilweise seit drei Monaten durchstreikenden „sonstigen“ Beschäftigten an einigen Universitätskliniken demgegenüber eher stiefmütterlich behandelt werden.

Um die neu erwachte Konfliktbereitschaft der angestellten ÄrztInnen verstehen zu können, muss man sich etwas mit der Entwicklung der letzten Jahre an den Krankenhäusern auf der einen Seite und mit der Veränderung der Situation der ÄrztInnenschaft insgesamt auseinandersetzen. Die Forderung nach 30% mehr Lohn klingt zunächst einmal völlig aus der Luft gegriffen. Aber die Rechnung, die der Marburger Bund (MB) aufstellt, ist im Wesentlichen korrekt: Zum einen wurde schon vor Jahren die Eingangsvergütung für die BerufsanfängerInnen um eine Stufe (damals von BAT II auf BAT III) abgesenkt Zum zweiten werden geleistete Überstunden in der Regel nicht bezahlt. Zum dritten ist die Arbeitsbelastung in den Kliniken immens gestiegen, weil durch die radikale Reduzierung der Bettenzahlen und die gleichzeitige Verkürzung der Verweildauern in den verbleibenden Kliniken (teilweise um die Hälfte und mehr) der Patientendurchlauf und damit die Arbeitsbelastung dramatisch angestiegen ist – mit der Folge von noch mehr unbezahlten Überstunden. (Diese Überstunden waren es übrigens, die es dem Marburger Bund ermöglichten, einen Streik ohne Streikgeld zu führen; bisher feierten offiziell die ÄrztInnen einfach ihre Überstunden ab – genehmigt von ihren Chefs, denen es relativ egal ist, wie die Sache ausgeht, wenn sie nur in Zukunft den leidigen Streit um die Überstunden vom Hals haben.)

Zusammengefasst kann man also durchaus sagen, dass die Forderung der ÄrztInnen eine reale rechnerische Grundlage hat. Hinzukommt, dass durch die Verschlechterung der Einkommensbedingungen im Bereich der niedergelassenen ÄrztInnen die frühere Perspektive „ein paar Jahre tierische Maloche im Krankenhaus, dann die dicke Kohle in der Praxis“ in dieser Form nicht mehr existiert und mehr ÄrztInnen als früher die Krankenhaustätigkeit als Lebensperspektive wählen.
Arbeitszeit bis 48 Stunden
Nun werden in den Medien immer wieder streikende ÄrztInnen interviewt, die beteuern, es ginge ihnen nicht in erster Linie ums Geld, sondern um „weniger Bürokratie“, „mehr Zeit für die Patienten“ und darum, dass „der Beruf wieder Spaß machen“ solle. Angesichts der aufgestellten Forderungen und der Verlautbarungen der Spitze des MB muss man allerdings feststellen, dass sich davon in ebendiesen nichts wieder findet. Wenn es wirklich auch um die Patienten ginge, müsste man eine Arbeitszeitverkürzung, Reduzierung von Überstunden und Nachtdiensten und einen Bürokratieabbau fordern. Verhandelt wird allerdings in Sachen Arbeitszeit das genaue Gegenteil: Arbeitszeiten bis 48 Stunden sind im Gespräch, die bei entsprechender Entlohnung auch akzeptiert würden. Was das mit dem Schutz der PatientInnen vor übermüdeten ÄrztInnenn zu tun hat, konnte Herr Montgomery bisher nicht erklären. Ob einige von den interviewten MedizinerInnen da etwas nicht begriffen haben oder ihre eigenen Forderungen nicht kennen?

Klar ist auch, dass die ÄrztInnenschaft mit ihrer Bereitschaft, erhebliche Arbeitszeitverlängerungen zu akzeptieren, dem ebenfalls – und zwar nicht per Überstundenabfeiern – streikenden nichtärztlichen Klinikpersonal in den Rücken gefallen ist, das im Kampf gegen die Abschaffung der 38,5 Stundenwoche stand. Natürlich ist die Forderungsstruktur, mit der ver.di in die Tarifrunde ging, mehr als traurig und unter diesem Blickwinkel das Ausscheren des MB im letzten Jahr aus der Tarifgemeinschaft mit ver.di in gewisser Weise verständlich. Der gerade erfolgte Abschluss von ver.di mit einem Einknicken in der Frage der Arbeitszeit belegt das zusätzlich.
Wie allerdings die ärztlichen MitarbeiterInnen an den Kliniken zu ihren Kolleginnen und Kollegen stehen, wird deutlich, wenn man sich einmal ansieht, mit welchen Argumenten die MB-Spitze die Sonderbedingungen für die ÄrztInnen begründet:

  • •    Auf den Einwand der Gegenseite, im Rahmen der Budgetierung ginge automatisch jede Sonderleistung für die ÄrztInnen zu Lasten der übrigen Beschäftigten, da das Gesamtvolumen ja gedeckelt sei, antwortete ein MB-Vertreter lapidar damit, dass „unten noch Luft drin“ sei, was nichts anderes bedeutet, als dass das restliche Klinikpersonal die Erhöhung bei den ÄrztInnenn bezahlen soll.
  • •    Im Ausland würden ÄrztInnen weit besser bezahlt. Das stimmt für einige westeuropäische Länder – allerdings trifft das nicht nur für die ÄrztInnen zu, sondern z.B. auch für das Pflegepersonal.
  • •    Und ein Argument, welches auch in den Medien breiten Raum einnahm, war das, die ÄrztInnen seien „die Leistungsträger“ in den Krankenhäusern. Dass das völliger Unsinn ist, muss wohl kaum näher erläutert werden, aber die Behauptung als solche wirft ein bezeichnendes Licht auf den Standesdünkel, mit dem hier die Extrawurst für die ÄrztInnen begründet wird.

Dass auch die Gegenseite offensichtlich der Meinung ist, ÄrztInnen seien etwas gleicher als andere Beschäftigte, zeigte sich nicht nur an den moderaten Reaktionen in den Medien auf den Streik, sondern auch konkret vor Ort: In Essen hatte das über 14 Wochen streikende Klinikpersonal außerhalb ein Streikzelt aufgebaut – die ÄrztInnen bekamen selbstverständlich ohne Probleme den Klinikhörsaal als Streiklokal gestellt. Und dass der Verhandlungsführer der Länder, Möllring, gleich am ersten Tag des ausgeweiteten Streiks zu den ÄrztInnenn reist und auf deren Kundgebung spricht, ist ebenfalls bezeichnend: Die ver.dianerInnen mussten ihn besuchen, wenn sie ihn zu sehen bekommen wollten …
Fazit
Auch wenn es zu begrüßen ist, dass sich die ÄrztInnen gegen ihre unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu wehren beginnen, so muss man doch feststellen, dass dieser Streik unter mehrerlei Gesichtspunkten eher den Charakter der Wahrung von Standesprivilegien hat als den eines emanzipatorischen Aktes. Die ÄrztInnen entsolidarisieren sich von den anderen M
itarbeiterInnen ihrer Betriebe; sie fallen ihnen in der Frage der Arbeitszeit in den Rücken und tun so, als wären sie die einzigen, die für unzureichende Bezahlung gute Arbeit leisten. Solange die ärztlichen Beschäftigten an den Krankenhäusern nicht begreifen (wollen), dass sie nur eine von vielen gleichberechtigten – und gleich wichtigen  – Medizinberufen sind, solange sie nicht so wie die bundesweit noch etwa 600 ÄrztInnen, die nicht im MB, sondern bei ver.di Mitglied sind, bereit sind, gemeinsam mit allen MitarbeiterInnen für eine Verbesserung der Verhältnisse an den Krankenhäusern für alle zu kämpfen, bleiben ihre Aktionen ständisch fixiert und damit politisch reaktionär. Dass nicht jede gewerkschaftliche Aktion eine positive Bewusstseinsentwicklung anzeigt, weiss man ja nicht erst seit den Kundgebungen des „Aktionskreises Energeie“ für den Ausbau der Kernenergie in den 70er Jahren …

 

Der Marburger Bund
1947 wurde in Marburg ein erster Entwurf einer Satzung für die örtlichen Arbeitsgemeinschaften der Jungärzte innerhalb der Landesärztekammern entwickelt. (Die Landesärztekammern stellen die gesetzlichen Selbstverwaltungsorgane der Ärzteschaft dar, die so oft zitierte Bundesärztekammer ist de jure nur ein unverbindlicher freiwilliger Zusammenschluss der Landesärztekammern.) Bei einem weiteren Treffen wurde dann die Umbenennung von Arbeitsgemeinschaft der Jungärzte in Marburger Gemeinschaft – Vereinigung angestellter Ärzte beschlossen. 1948 wurde er auf der 4. Interzonentagung die Gemeinschaft in einen tariffähigen Verband mit Einzelmitgliedschaften umgewandelt, der den Namen Marburger Bund – Vereinigung angestellter Ärzte (MB) bekam.
Der MB schloss ein Abkommen mit der Deutschen Angestelltengewerkschaft, mittels dessen er selbständig blieb, aber Sitz und Stimme in der Tarifkommission der DAG bekam. Seit 1950 hatte die DAG die Vollmacht, auf Bundesebene die Tarifverhandlungen für den MB zu führen. Nach der Fusion der DAG mit ver.di führte letztere zunächst als Rechtsnachfolgerin der DAG die Tarifgemeinschaft mit dem MB fort. Im Sommer 2005 schließlich kündigte der MB diese Gemeinschaft vorfristig auf und agiert seither selbständig. Vorsitzender ist seit 1989 der Hamburger Radiologe Frank Ulrich Montgomery. Seine beiden Vorgänger Vilmar und Hoppe bekleideten jeweils nach ihrer Zeit im MB den Posten des Präsidenten der Bundesärztekammer, Hoppe ist derzeit noch im Amt.
Derzeit organisiert der MB etwa 100 000 der 146 000 angestellten Ärzte in der BRD und ist damit der größte Ärzteverband Europas.
Im Januar äußerte der MB-Vorsitzende Montgomery öffentlich, eventuell den Marburger Bund zu einer „Gesundheitsgewerkschaft“ ausweiten zu wollen. Bei der bisherigen Politik des MB seit 1947, die Ärzte strikt gesondert zu organisieren, dürfte das aber wohl unwahrscheinlich sein.

 

 

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