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Ägyptische Revolution am Wendepunkt: 30 Jahre und drei Monate

Von Jan Weiser | 01.06.2011

„Es gab dieselben kräftigen Hochrufe wie zuvor, und die Krüge wurden bis zur Neige geleert… Und jetzt stand außer Frage, was mit den Gesichtern der Schweine passiert war. Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch, doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war.“ (George Orwell, Farm der Tiere)

„Es gab dieselben kräftigen Hochrufe wie zuvor, und die Krüge wurden bis zur Neige geleert… Und jetzt stand außer Frage, was mit den Gesichtern der Schweine passiert war. Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch, doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war.“ (George Orwell, Farm der Tiere)

Neue Herren sind an der Macht. Dieselbe revolutionäre Welle, die den verhassten Diktator Mubarak nach 30 Jahren gestürzt hat, hat sie nach oben gebracht. Und als diese Welle abebbte, blieben sie dort und bei ihnen revolutionäre Parolen, die nur noch Phrasen sind. Der 18-köpfige Rat, der am 11. Februar 2011 den Rücktritt Mubaraks erzwang, besteht aus den führenden Offizieren des Landes und gehört im Grunde zum Außendienst des US-Militärs.

Die neuen Herren begründen ihre Machtposition mit der Notwendigkeit der „Verteidigung der Revolution“, wie stets in der Geschichte. Bereits einen Tag nach dem Freudentaumel über Mubaraks Abgang wurde dem Volk bekannt gegeben, dass der regimetreue Ministerpräsident Schafiq und dessen Kabinett im Amt bleiben würden. Einen weiteren Tag darauf wurde das Parlament aufgelöst und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Doch eine neue Verfassung, wie von der Demokratiebewegung gefordert, wurde nicht vorgesehen: Die Militärführung erlaubte einer Kommission von Rechtsgelehrten, binnen zehn Tagen sechs Artikel zu überarbeiten und das Ergebnis wurde dem Volk zur Abstimmung vorgelegt.
Was ist erreicht?
Und dennoch ist Ägypten ein revolutionäres Terrain, dessen weitere Entwicklung keinesfalls feststeht. Das Land ist von Grund auf politisiert. Ein riesiges, jahrzehntelang unterdrücktes Bedürfnis nach offener politischer Diskussion bricht sich seine Bahn. In den Cafés von Kairo geht der Witz um, dass das ägyptische Volk, das vor der Revolution eine Nation von Fußball-Expert­­Innen gewesen sei, nun eine Nation von Politik-Expert­­Innen sei.

Auch der alte Ministerpräsident wurde schließlich vom nicht nachlassenden Druck der Straße gezwungen, zurückzutreten. Mubarak, dessen Frau und Söhne sowie weitere ehemalige Regierungsmitglieder sind nach Massenprotesten in Haft – wenngleich die Machthaber keinen Moment verbergen, dass ihnen eine baldige Freilassung das Liebste wäre.

Mitte März wurde der gefürchtete staatliche Sicherheitsdienst aufgelöst. Die juristische Auflösung vonseiten der Regierung war jedoch nur eine Anerkennung der Tatsache, dass überall die Gebäude von aufgebrachten Demonstrant­­Innen gestürmt und verwüstet wurden. Szenen von Geheimdienstlern, die in den letzten Momenten hektisch Akten zerschredderten, erinnern an die letzten Tage der ostdeutschen Staatssicherheit. Den Menschen, die in die Geheimdienstzentralen eindrangen, bot sich ein groteskes Bild. Neben gespenstischen Folterkammern und Verhörzimmern entdeckten sie luxuriös ausgestattete Konferenzsäle und Wohnräume (!), die eher an die Luxushotels von Dubai denken lassen, denn an miefige Stasi-Zentralen. Das Innenministerium zögerte dennoch nicht, sogleich die Gründung eines neuen Geheimdienstes anzukündigen.

Ebenso wurde die vormals 2,5 Millionen Mitglieder zählende Regierungspartei gerichtlich aufgelöst. Auch hier folgt der Urteilsspruch dem Druck der Straße und der Tatsache, dass ohnehin die Parteigebäude verwüstet wurden und so etwas wie ein Parteitag oder ein offenes Auftreten undenkbar ist. Aussagekräftiges Symbol hierfür ist die hässliche Ruine der ausgebrannten Parteizentrale am Tahrir-Platz in Kairo. Doch auch die NDP will unter neuem Namen zu den nächsten Wahlen im September antreten.
Säulen der Macht
Sowohl der Geheimdienst als auch die Staatspartei sind essenzielle Elemente des Herrschaftsmechanismus, der die Bevölkerung bislang kontrolliert hat. Und beide lassen sich weder juristisch noch auf der symbolischen Ebene besiegen. Zwar ist in einem Sinne ein Parteibürokrat von seinem Schreibtisch so abhängig wie ein Geheimagent von seiner Dienstwaffe. In einem anderen Sinne jedoch nicht, denn beide verfügen über soziale Beziehungen, Netzwerke, ausländische Kontakte und Namenslisten, die sie im Kopf haben. Sie haben feste Überzeugungen und die Fähigkeit zu einer taktischen Analyse, zur Sabotage und Manipulation. Eine Zerschlagung dieser Machtstrukturen ist deshalb nicht auf institutionellem, sondern nur auf revolutionärem Weg möglich. Und hierfür bedarf es wiederum zweierlei: erstens einer revolutionären Massenbewegung und zweitens Zeit, damit diese wirksam werden kann.
Neuwahlen und Referendum
Um diese Zeit zu gewinnen, bemüht sich die unabhängige Demokratiebewegung um eine Verschiebung der geplanten Neuwahlen. Denn Wahlen an sich bedeuten keine Demokratie. Wenn im September eine umbenannte NDP und die alten, systemtreuen Oppositionsparteien sowie gemäßigte Muslimbrüder (alles Kräfte, die auf den Demonstrationen im Februar nur eine absolut marginale Rolle gespielt haben) die Parlamentssitze und Ministerposten unter sich aufteilen, würde dies im Massenbewusstsein eine zumindest vorläufig vollendete Rückkehr zu „normalen Verhältnissen“ bedeuten. Denkbar ist, dass eine unbelastete Figur wie El-Baradei genau das leere Blatt ist, auf das sich die alten und neuen Antidemokraten, d. h. letztlich die säkulare ägyptische Großbourgeoise und das konservative Kleinbürgertum in einer „Regierung der nationalen Einheit“ (o. ä.) als ihren Repräsentanten einigen können.

Das Referendum über die kosmetischen Änderungen an der Verfassung hat nach offiziellen Angaben eine Zustimmung von 77 % erzielt. Unabhängig davon, ob diese Zahlen wie unter Mubarak üblich „nachbearbeitet“ sind, ist wohl davon auszugehen, dass sie in etwa die tatsächliche Stimmungslage widerspiegeln. Es lässt sich kaum sagen, ob die Bevölkerung das Referendum als den Betrug wahrnimmt, der es ist. Die Hälfte dieser Bevölkerung besteht aus Analphabet­­Innen, also Menschen, die bei ihrer Stimmabgabe völlig auf das vertrauen müssen, was andere ihnen sagen.

Doch was vermutlich noch stärker wiegt, ist das Bedürfnis weiter Teile der Bevölkerung, es möge endlich Ruhe einkehren. Ein großer Teil der arbeitenden Klasse ist von täglichen Löhnen abhängig; diese Menschen sind also existenziell auf ein „normales“ Geschäftsleben angewiesen, denn jeder Tag, an dem ihre Arbeitsstellen geschlossen bleiben, die Banken kein Geld auszahlen usw. bedeutet für sie einen knurrenden Magen. Die Paradoxie der
sozialen Umwälzung lautet: Die Revolution ist ein Luxusartikel.
Und dennoch haben selbst nach den offiziellen Angaben in den Megastädten Kairo und Alexandria noch über 30 % gegen die Verfassungsänderungen gestimmt, weitaus mehr als auf dem flachen Land.
Machtdemonstration
Die Repression gegen die revolutionäre Jugend und die Gewerkschaften vollzieht sich offen und brutal. Im März ließ das Militär erstmals Massendemonstrationen im Zentrum von Kairo zusammenschießen. Soldaten, die unter den Demonstrant­­Innen aufgefunden wurden, wurden an Ort und Stelle erschossen oder totgeprügelt. Im Land gibt es mittlerweile etliche Deserteure, die auf der Flucht vor ihren Einheiten sind und grausame Strafen befürchten müssen.

„Gesetz Nr. 34“ wurde am 12. April erlassen: Es beinhaltet quasi die Abschaffung des Streik- und Demonstrationsrechts. Auf streikende Arbeiter­­Innen wird scharf geschossen. Bis Mitte April sollen bereits 5000 politische Gegner­­Innen des Regimes auf Veranlassung des obersten Militärgerichts hin inhaftiert worden sein. Selbstverständlich werden die Gefangenen wie zu Mubarak-Zeiten gefoltert, was sexuelle Gewalt gegen Frauen einschließt. Das Video des gefolterten populären Revolutions-Sängers Ramy versetzte die ägyptische Freiheitsbewegung in Entsetzen. Doch jeder Zeitungsartikel über das Militär muss von oben abgesegnet werden. – All das geschieht im Namen der „Revolution“.
Gewalt und Ausschreitungen
Unter diesem Druck der Repression, der eine Artikulation der politischen und ökonomischen Interessen der Armen verhindert, entlädt sich der Volkszorn in religiösen Auseinandersetzungen. Die koptischen Christen und salafistischen Muslime, die sich im Mai blutige Straßenschlachten lieferten, sind Bewohner­­Innen der Kairoer Slums. Das sinnlose Morden von Angehörigen verschiedener Volksgruppen ist Ausdruck der absoluten Stagnation der revolutionären Bewegung. Gewaltverbrechen und Ausschreitungen nicht nur zwischen Gläubigen, sondern auch beim Fußballspiel und anderswo sind an der Tagesordnung und es gehört zur erwähnten Sabotage der Kräfte des alten Regimes (etwa Polizei, Justiz), hier tatenlos zuzusehen. Das Militärregime erhält durch all das nur zusätzliche Legitimation.

Es ist also nicht die Revolution selbst, die hier Gewalt mit sich bringt: Die Millionenmassen, die im Februar auf der Straße waren, kontrollierten die Demonstrant­­Innen auf Waffen, legten sich vor die Panzerketten und lasen noch jedes Bonbonpapier von der Straße auf. Es ist gerade das Abebben der friedlichen Massenbewegung, das zu gewaltsamen Ausschreitungen führt.
Das Gefühl betrogen worden zu sein
„Volk und Armee sind vereint“ heißt es auf einem riesigen Banner am Tahrir-Platz in der Hauptstadt, wo das Militär Blumen pflanzte und Luftballons verteilte. Doch in der Bevölkerung setzt sich mehr und mehr das Gefühl durch, betrogen worden zu sein: betrogen um ihre Revolution.

Diese Erfahrung, die bei der großen Masse zur Resignation führt, wird bei der jungen RevolutionärInnen nur noch mehr Entschlossenheit hervorrufen. Die allgemeine Desillusionierung kann, wenn die sozialen Probleme des Landes nicht gelöst werden, in eine neue revolutionäre Welle münden. Die einmal erreichten, begrenzten demokratischen Freiheiten (Organisationsfreiheit, Gewerkschaftsfreiheit usw.) müssen zur Bildung von Kampf- und Selbstschutz-Organisationen der Arbeitenden, der verarmten städtischen Massen und der revolutionären Jugend genutzt werden, bevor ihr Verfallsdatum überschritten ist.

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