TEILEN
Länder

Der Kampf gegen die Rentenreform geht weiter! Vorgezogener Ruhestand für Sarkozy, Fillon…!

Von Th. Catté und P. Vandevoorde | 01.11.2010

Seit zwei Monaten nun schon hält sich die Bewegung gegen die Rentenreform und diese einfache, aber unerwartete Tatsache gibt eine Vorstellung von der außergewöhnlichen Lage. Am Dienstag, den 19. Oktober waren zum sechsten Mal seit der Sommerpause etwa 3 Millionen Menschen auf der Straße.

Seit zwei Monaten nun schon hält sich die Bewegung gegen die Rentenreform und diese einfache, aber unerwartete Tatsache gibt eine Vorstellung von der außergewöhnlichen Lage. Am Dienstag, den 19. Oktober waren zum sechsten Mal seit der Sommerpause etwa 3 Millionen Menschen auf der Straße. Strategische Sektoren der Wirtschaft sind blockiert oder funktionieren nur noch eingeschränkt. Zwei weitere Aktionstage sind angekündigt und eine Umfrage der BVA1 vom 22. Oktober zeigt, dass 69 % der Bevölkerung die Bewegung unterstützen.

Am 23. September waren wir schon drei Millionen, die demonstriert haben. Am 2. Oktober, einem Samstag, beteiligten sich viele Familienangehörige an den Demonstrationszügen, es waren also nicht immer dieselben Menschen. Am 12. Oktober gab es wieder Riesendemonstrationen und in bestimmten Bereichen begann ein unbefristeter Streik, vor allem im Transportsektor, in der Energieversorgung und den Raffinerien, aber auch an den Gymnasien. Am Dienstag, den 19. Oktober wollte die Regierung eine Erschöpfung der Streikbewegung festgestellt haben: Sicher gab es weniger Streikende, aber immer noch waren fast 3 Millionen Menschen auf der Straße und ein Drittel der Tankstellen hatte keinen Treibstoff mehr, weil keine der 13 Raffinerien mehr funktionierte. Marseille und Le Havre, zwei der drei größten Häfen sind blockiert aufgrund eines quasi lokalen Generalstreiks; bei der Bahn wird der Notdienst nur dadurch aufrecht erhalten, dass höhere Angestellte eingesetzt werden, die inzwischen am Rande der Erschöpfung sind, in Hunderten von Städten gab es Blockaden und Demonstrationen vor den Gymnasien. Sarkozy und seinem Anhang ist es gelungen, alle gegen sich aufzubringen.

Von Demonstration zu Demonstration wurden sich die Protestierenden zunehmend ihrer Stärke bewusst. Am Anfang noch schüchtern, zögernd und den Aufrufen der Gewerkschaften folgend, fangen sie nun an, eigenständig Aktionen durchzuführen. Die Zahl der unbefristeten Streiks nahm zu und erst recht die Aufrufe an die Gewerkschaften, sich mehr in dieser Richtung zu engagieren. Auch wenn dies nicht flächendeckend gelingt, es gibt an verschiedenen Orten Streikversammlungen; die Kolleg­Innen lernen (wieder) erfinderisch zu sein, den Streik in Erwägung zu ziehen, nachzudenken. Viele Menschen, die ganz vergessen hatten, wie man kämpft, oder die niemals an so etwas gedacht haben, lernen heute, kritisch zu sein, loszuziehen mit einem Pappschild, einer Parole usw. Das wird nicht so schnell verschwinden, selbst wenn die Regierung sich morgen durchsetzen sollte.
Bremserrolle der Gewerkschaftsführungen
Die Führungen der großen Gewerkschaftsverbände, die nichts so sehr lieben wie den „sozialen Dialog“, möchten gerne verhandeln, aber die Regierung lässt ihnen dafür keinen Spielraum: Sie verweigert sogar das Gespräch mit den Gemäßigtsten unter ihnen. Gegen alle Erwartungen hält dadurch das Bündnis der Gewerkschaftsverbände. Nach jeder nationalen Aktion aber lassen sich die Gewerkschaftsführungen Zeit, die nächste Aktion anzukündigen, möglichst lange nach der letzten Aktion, sie gebärden sich als die Sprecher der Bewegung, ohne jemals die Rücknahme des Gesetzentwurfes zu fordern (im Gegensatz zur Mehrheit der gewerkschaftlichen Gliederungen an der Basis). So stimmt die CGT-Führung künftig den unbefristeten Streiks zu, „dort, wo die Kolleg­Innen dies beschließen“, aber sie ruft nicht dazu auf, gemeinsam alles zu bestreiken und zu blockieren, um die Gegenseite zum Rückzug zu zwingen. Dies wird aber nur von den Engagiertesten und Kampferprobtesten wahrgenommen und verstanden; auf Massenebene, für diejenigen, die bei einem nationalen Aktionstag streiken oder demonstrieren, ist es vor allem der gemeinsame Rahmen der Gewerkschaften, der sie ermutigt, weiterzumachen, wobei sie sich nicht der Tatsache bewusst sind, dass die Zeit gegen diejenigen arbeitet, die sich bisher am meisten engagiert haben.

Die Gymnasiast­Innen sind eine enorme Stütze. Sie waren es, die den letzten Sieg davon getragen haben und zwar anlässlich des Ersteinstellungsgesetzes.2 Diese jungen Menschen sind die Ersten, die von den Zukunftsaussichten betroffen werden, die die Rechte ihnen heute anbietet. Sie sind auch die Ersten, die über den Rahmen der Rentenreform hinaus die ganze Politik von Sarkozy in infrage stellen. Die etwas Älteren, nämlich die Studierenden, sind noch zu sehr von der schweren Niederlage geprägt, die sie vor zwei Jahren beim Kampf gegen die Autonomie der Universitäten erlitten. Vier Monate Streik ohne ein Ergebnis wiegt schwer im Gedächtnis.
PS, PCF, PG   
Auf der politischen Ebene begleitet die Sozialistische Partei die Proteste und äußert ihre Opposition sehr theatralisch, bekräftigt aber gleichzeitig, dass kein Weg an der Anhebung der Beitragsjahre vorbeigehe… Auf ihrer Linken unterstützen PCF und PG (KPF und Linkspartei) vor Ort die Bewegung, aber auf der politischen Ebene betonen sie die Notwendigkeit… eines Referendums, also eine institutionskonforme Antwort auf die Krise, weit unterhalb der Möglichkeiten, denn ähnlich wie die PS haben sie nur die Präsidentschaftswahlen von 2012 im Blick. Nur die NPA3 ruft dazu auf, die Regierung zum Teufel zu jagen, „für einen Mai 68 des 21. Jahrhunderts, der ganze Sache macht.“ Tausende und Abertausende (falscher) 500 Euro-Scheine der NPA mit (auf der Vorderseite) den Bildern von Sarko und Woerth4 und auf der Rückseite: Weg mit ihnen, weil sie gut stehlen“ (ein Wortspiel mit dem Werbeslogan des in den Spendenskandal verwickelten Kosmetikkonzerns Oréal: „weil ich es wert bin“.)5. Diese Banknotenaktion kommt ungeheuer gut an. Die Partei findet in der Mobilisierung den Sauerstoff, den sie in jedem Fall braucht, ihre politischen Vorstellungen werden von mehr Menschen aufgegriffen, ihre Handlungsvorschläge auch. Das ist die Gelegenheit, unsre Antworten auf die Krise bekannt zu machen und der politische Kontext gibt Kraft für den ersten Kongress der NPA, der Mitte Dezember stattfinden wird.
Repression
Ziel der Regierung und der Besitzenden ist es, einen entscheidenden Sieg über die Arbeiter­Innenklasse davonzutragen. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht: Die traditionellen Medien verbreiten Falschinformationen, Polizisten ermuntern Vandalierer. Sie sind das Produkt der Hoffnungslosigkeit und fehlender Zukunftsperspektiven in bestimmten Vierteln. Die Bereitschaftspolizisten (CRS) schlagen auf alle ein: Junge, Alte, sogar Feuerwehrleute sind brutal angegriffen worden. Ein junger Mann ist am Auge von einer Flashball-Kugel getroffen worden. Mehr als 1 000 Personen wurden verhaftet und ein großer Teil von ihnen wurde unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Unglaubliche Urteile wurden bereits ausgesprochen: Haftstrafen ohne Bewährung für das Anzünden einer Mülltonne!

Trotz dieser ne
uen Repressionsoffensive steht die französische Bevölkerung hinter der Bewegung und unterstützt den Streik, den andere „für sie“ führen: In die Streikkassen der Raffinerien oder der Eisenbahner wird durch Sammlungen (einzeln oder organisiert) eingezahlt sowie durch Tausende anonymer Unterstützer. Vor allem die Raffinerien wurden zu wichtigen Bezugspunkten der Bewegung. Die Schwierigkeit liegt darin, sich einerseits auf diese Kristallisationspunkte zu stützen und andererseits sich gleichzeitig für die Ausdehnung der Bewegung stark zu machen. Die Blockaden, die es ein wenig im ganzen Land gibt, werden von der Minderheit der aktiv Streikenden aller Bereiche eingerichtet. Diese Minderheit organisiert sich selbst, zumeist unterstützt von den lokalen Gewerkschaftsstrukturen. Die Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, dass Blockaden und Streiks sich gegenseitig stärken, die Schwäche liegt darin, dass es den aktiven Kräften nicht gelingt, den Generalstreik durchzusetzen. Aber die Arbeiter­Innen gewinnen allmählich Zutrauen in ihre eigene Kraft. Von Regierung und Kapital dazu getrieben sind sie zunächst nur gezwungenermaßen in den Kampf eingetreten, aber das Bewusstsein wächst, dass die kapitalistische Globalisierung kein Naturgesetz ist. Die französische Bourgeoisie hatte schon eine hohes Klassenbewusstsein. Mit dieser Bewegung entdeckt die Arbeiter­Innenklasses ihres wieder neu. Hoffen wir, dass sie den Völkern Europas Hoffnung und ein leuchtendes Beispiel gibt!
An diesem Freitag wurde mit dem gewaltsamen Angriff der Polizei auf die Streikenden der Raffinerie Grand-Puits6 und ihre Unterstützer sowie mit der Zwangsverpflichtung wie in Kriegszeiten und der Missachtung des Streikrechts eine neue Schwelle überschritten, was große Entrüstung hervorgerufen hat. Die nächste Woche wird die Reform endgültig verabschiedet und damit Gesetzeskraft haben. Wir wetten, dass einige dies zum Anlass nehmen werden, um zu versuchen, sich aus dem Kampf zu verabschieden. Ihnen sagen wir: Sarkozy und seine Mehrheit hatten doch angekündigt, die Rente mit 60 nicht anzurühren! Wer kann also Legitimität für sich in Anspruch nehmen? Es ist nicht undenkbar, dass es die Bewegung schaffen wird, die zwei-Wochen-Ferien um Allerheiligen zu überstehen, in der Hoffnung, dass die Studierenden den Stab übernehmen, mit dem Ziel, dieses höchst ungerechte Gesetz zu kippen.

*    Übers.: D. B.
1    BVA: Institut d’études de marché et d’opinion, Marktforschungs- und Meinungsforschungsinstitut
2    Es wurde im Frühjahr 2006 nach der Verabschiedung (!) aufgrund einer großen Streik- und Blockadebewegung wieder zurückgezogen. Anm. d. Red.
3    Neue Antikapitalistische Partei http://www.npa2009.org/ sowie auf deutsch: http://www.freunde-der-npa.de
4    Der in Finanzskandale verwickelte Arbeitsminister, der die Rentenreform eingebracht hat.
5    „Parce qu’ils le volent bien“ ist die Abwandlung des Werbespruchs von Oréal: „Parce que je le vaux bien.“
6    in der Nähe von Paris
 

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite