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Länder

Ein halbes Jahr rechte Regierung: Ungarns düstere Gegenwart

Von Philipp Xanthos | 01.11.2010

Die kapitalistische Transformation hat den „sozialistischen“ Staaten Mittel- und Osteuropas keine liberalen Demokratien nach westlichem Vorbild beschert. Denn den spätbürgerlichen Gesellschaften sitzen Untote auf.

Die kapitalistische Transformation hat den „sozialistischen“ Staaten Mittel- und Osteuropas keine liberalen Demokratien nach westlichem Vorbild beschert. Denn den spätbürgerlichen Gesellschaften sitzen Untote auf.

Die politischen Systeme sind in der Regel instabil und von Korruption überschattet. Alternativen jenseits von neoliberal gewendeten Stalinist­Innen einerseits und Parteien der autoritären Rechten andererseits sind rar gesät. Wechselnde Mehrheiten sind üblich. Und so war es schon eine Besonderheit, dass die Magyarisch Sozialistische Partei (MzSP) – hervorgegangen aus der früheren Staatspartei – in Ungarn 2002 und 2006 zwei Wahlen nacheinander gewinnen konnte. Ihr Fall war umso tiefer.
„Konservative Revolution“
Denn die MzSP hatte sich von 2006 bis 2009 mit Korruptions- und Lügen-Affären gründlich diskreditiert. In den Wahlen im April 2010 gewann das Bündnis aus rechts-konservativer Fidesz und katholischer KDNP unter Viktor Orbán die Zwei-Drittel-Mehrheit. Und die macht das, was Zwei-Drittel-Mehrheiten im Parlamentarismus tun: Sie baut sich den Staat um.

  • Zunächst wurden alle wichtigen Staatsämter mit Parteifreund­Innen besetzt.
  • Das Wahlgesetz wurde zulasten kleiner Parteien verändert.
  • Nationaler Chauvinismus gegenüber der Slowakei und anderen Nachbarn wird Staatsräson.
  • Die Medien wurden der Regierung unterworfen.
  • Die unzähligen Obdachlosen werden von öffentlichen Plätzen „verbannt“.
  • Ab 2011 gilt eine „flat tax“ von 16 % für alle Einkommen.
  • Das Staatssäckel wird durch Griff in die Kassen staatlicher Unternehmen aufgefüllt.

Populismus
Das Verhalten Orbáns beim Kolontár-Dammbruch Anfang Oktober, bei dem bis zu 1 Million Liter schwermetallhaltiger Schlamm des Aluminiumwerks MAL ausgelaufen war, ist bezeichnend. Öffentlich „verkündete“ er eine Woche später die Verhaftung des Vorstandchefs des Unternehmens und die Beschlagnahmung des Firmenvermögens. Zur Erinnerung: Strafverfolgung wäre nach den bürgerlichen Spielregeln Sache einer unabhängigen Staatsanwaltschaft. Auch mit den „Krisensteuern“, die Großunternehmen künftig zahlen müssen, präsentiert sich Orbán als „starker Mann“ in seiner „konservativen Revolution“.
Straßenterror
Drittgrößte Kraft knapp hinter den abgewählten Sozialisten (17,4 %) ist die faschistische Jobbik (14,8 %), was „die Rechtere“ heißt und als Wortspiel im Ungarischen ähnlich wie in der deutschen Sprache funktioniert.

Jobbik gibt sich ungeniert anti-jüdisch und anti-zigan und verbindet rechten Populismus mit terroristischem Auftreten. Ihr paramilitärischer Arm, die Neue Ungarische Garde, versucht, sich in Dörfern als Polizei zu etablieren. Die mit schwarzen Westen Uniformierten marschieren dann durch Roma-Viertel, um einzuschüchtern und gezielt Gewalt-Ausbrüche zu provozieren. Mord-Anschläge bleiben nicht aus (siehe Kasten). Die negativen Schlagzeilen fallen natürlich auf „die Zigeuner“ zurück, die als Fremdkörper in der Gesellschaft wahrgenommen werden sollen. Der offene Terror gegen „die Anderen“, Traum deutscher Faschist­Innen, ist hier Realität.
Arbeitsteilung
Und die Fidesz-Regierung gewährt Jobbik freies Geleit, die im Kommunalwahlkampf mit offen rassistischen Parolen werben durfte: Medien und Gerichte sind schließlich in Fidesz-Hand. Über „Zigeuner-Konzentrationslager“ wird heute laut und offen nachgedacht. Doch konnten die radikalen Rechten damit bei den Kommunalwahlen im Oktober nicht punkten. Ihre Stimmen fischte Orbáns „gemäßigte“ Fidesz ab, die 135 Tage nach ihrem Regierungsantritt nun haushoch die Kommunalwahlen gewann.

Offenbar funktioniert so die Arbeitsteilung zwischen Amtsstube und Straße, zwischen Rechten und „Rechteren“. In den über 3 000 ungarischen Städten und Dörfern gibt es jetzt noch 49 „sozialistische“ Bürgermeister.

So etwas wie Bundesländer gibt es in dem Acht-Millionen-Land nicht, somit ist Ungarns Rechte nun da, wo sie in anderen Ländern noch hin will: an die Macht. In der EU genießt Orbán Narrenfreiheit: Dort haben Merkel, Berlusconi und Sarkozy das Sagen. Und die Ratspräsidentschaft liegt ab 2011 bei – Ungarn.

Roma in Ungarn
Die Menschen, die vor 600 bis 1 600 Jahren von Indien nach Europa kamen, fanden ab dem 16. Jahrhundert in Ungarn staatlichen Schutz – am Rande der Gesellschaft. Tatsächliche Integrationsversuche nach 1945 waren bürokratisch-halbherzig. Die 700 000 Roma, die heute in Ungarn leben, wurden nach 1990 aus den Städten verdrängt. Sie leben in kleinen Dörfern und sind vom Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen, ebenso von Grundbesitz und Bildung. Hieraus resultiert eine gewisse Kriminalitätsrate, die von ihren Gegner­Innen aufgebauscht wird. Kontrafaktisch werden sie zudem als ethnische homogene Einheit („Zigeuner“) und als nicht sesshaft wahrgenommen.

 

Menschenjagd
„Der Mordanschlag ereignete sich Anfang der Woche in Tatárszentgyörgy, einem kleinen Dorf unweit der Hauptstadt. Das Haus einer Romafamilie am Ende der Ortschaft wurde mit Brandbomben angezündet. Der fliehende 27-jährige Vater und sein fünfjähriger Sohn wurden, als sie vor dem Feuer flüchteten, vor ihrem Haus durch Schüsse aus Jagdgewehren getötet. Die Mutter und ihre zwei weiteren Kinder entkamen, das eine schwer, das andere leichter verletzt. […] Zusätzliche Empörung kam auf, als herauskam, dass die Polizei als Todesursache zunächst Rauchvergiftungen bei den Opfern angab und den Tatort ungesichert ließ […]“
Quelle: Die ungarisch-deutsche Online-Zeitung Pester Lloyd am 1.3.2009, www.pesterlloyd.net

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