Ökosozialismus oder Sozialdarwinismus

Foto: Herr Olsen, One way... or another, CC BY-NC 2.0

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Covid-19

Ökosozialismus oder Sozialdarwinismus

Von Daniel Tanuro | 03.02.2021

Die Corona-Pandemie ist kein zufälliges Ereignis, sondern sie ist Teil der Umweltkrise. Damit bricht allerdings kein Zeitalter an, indem nur die Stärksten überleben können. Entgegen der Lehren der Sozialdarwinist*innen können wir der Klimakrise nur solidarisch begegnen, im Einklang mit der Natur.

Zoonosen sind nicht neu. Auch bei der Pest, die im Altertum und im Mittelalter wütete, handelte es sich um eine Zoonose. Neu jedoch ist, dass eine zunehmende Zahl von Infektionskrankheiten Zoonosen sind. Binnen 30 Jahren ist ihr Anteil von 50 % auf ungefähr 70 % gestiegen.[1] Drei Viertel der neuen pathogenen Keime, die die Menschen befallen, entstammen Tierarten: AIDS, Zika, Chikungunya, Ebola, H1N1, Middle East Respiratory Syndrome (MERS), H5N1, SARS, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und COVID-19 sind Zoonosen.

Zoonosen (von altgriechisch ζῶον zōon „Tier“ und νόσος nósos „Krankheit“) sind von Tier zu Mensch und von Mensch zu Tier übertragbare Infektionskrankheiten, die bei Wirbeltieren natürlicherweise vorkommen.

Für Biologen und Epidemiologen kommt der Anstieg der Zoonosen nicht überraschend. Bereits seit einigen Jahren befürchtet die WHO, dass die größte Bedrohung der menschlichen Gesundheit von einer „Krankheit X“ kommen könnte, die am wahrscheinlichsten eine Zoonose ist. Diese Prognose ist nicht vom Himmel gefallen, sondern rührt aus der Feststellung, dass die Zerstörung der Natur die Übertragung von Krankheitserregern, die bei anderen Tierarten vorkommen, auf die Spezies Mensch begünstigt.

Pandemie und Umweltkrise – fünf Faktoren

Konkret spielen fünf Faktoren der Umweltzerstörung eine Rolle.

  1. Das Verschwinden oder die Fragmentierung der natürlichen Lebensräume. Wälder werden abgeholzt und Feuchtgebiete trockengelegt; inmitten der Natur werden Verkehrsinfrastrukturen errichtet, Gruben für die Rohstoffgewinnung eröffnet: All dies verringert die Distanz zwischen Menschen und anderen Tierarten und erhöht das Risiko eines „Artensprungs“.
  2. Der Verlust der Biodiversität. Wenn Arten sterben, sind diejenigen, die überleben und sich vermehren – besonders Ratten und Fledermäuse – empfänglicher dafür, Krankheitserreger in sich zu tragen, die auf den Menschen übertragbar sind.
  3. Die Fleischindustrie. Abgesehen davon, dass sie ethisch und ökologisch bedenklich sind, bilden die riesigen industriellen Zusammenballungen ein und derselben Tierart, die eingesperrt und gemästet werden, nur um schnellstmöglich Schlachtreife zu erlangen, ein Milieu, das prädestiniert ist, Infektionen zu verbreiten und auf unsere Spezies zu übertragen.
  4. Der Klimawandel. Es gibt zwar keinen direkten Nachweis, dass dadurch Zoonosen begünstigt werden, aber dies ist durchaus vorstellbar, weil die Tiere dadurch in Richtung der Pole wandern und mit anderen in Kontakt geraten, denen sie normalerweise nicht begegnen würden. Dadurch können Krankheitserreger neue Wirte finden.

An diesen vier gesteigerten epidemiologischen Risikofaktoren ist in erster Linie die Profitgier der multinationalen Großkonzerne schuld, besonders der Rohstoff-, Energie- und agrar- sowie forstwirtschaftlichen Konzerne. Beim fünften Faktor verhält es sich ein wenig anders. Zwar geht es auch da, nämlich beim Handel mit seltenen Tierarten und „bushmeat“ oder dem Goldschürfen, um Profit, aber in der Regel handelt es sich um informelle Wirtschaftssektoren, mitunter gar um organisierte Kriminalität. Für den Gesundheitssektor sind die Folgen jedoch beträchtlich: Der Handel damit (auf dem Markt in Wuhan) ist wahrscheinlich ursächlich für die gegenwärtige Pandemie.

Für SARS-CoV2 spielt womöglich ein sechster Faktor eine Rolle, nämlich die Feinstaubbelastung. Bekanntlich steigt dadurch das Risiko für Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an denen jährlich Millionen von Menschen sterben. Insofern verwundert es kaum, dass dadurch auch die Gefährdung durch Covid-19 zunehmen könnte.[2]

Was diese Leute in Wahrheit vertreten, ist die Freiheit, reich zu sein oder reich zu werden auf Kosten anderer und des Planeten.

Düstere Aussichten

Diese sechs Faktoren werfen ein Schlaglicht auf eine Realität, die gerne unerwähnt bleibt: Die Pandemie ist kein Schicksalsschlag, sondern eine Facette der Umweltkrise. Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) nimmt kein Blatt vor den Mund: Weitere Pandemien werden kommen. Neben den vier ohnehin hochgefährlichen Risiken – Klimawandel, Verlust der Biodiversität, Eutrophierung der Gewässer und Verringerung der Bodenflächen – drohen uns also künftig auch noch weitere Epidemien.

Jedes dieser Risiken ist für sich genommen schon beängstigend. Zusammengenommen und in Kombination mit den sozialen Ungleichheiten jedoch weisen sie der Menschheit eine ganz düstere Zukunft, von der die Pandemie nur ein Vorgeschmack ist. Wenn sich nichts ändert, werden die Ärmsten, Frauen, Kinder und Alten massenhaft bedroht sein – vor allem, wenn sie Migrant*innen sind oder zu rassistisch diskriminierten Gemeinschaften gehören.

Wie sind wir soweit gekommen? Manche meinen, dass die Pandemie und die Umweltkrise ganz allgemein zeigen, dass unsere Spezies die „Tragfähigkeit“ unserer Erde überschritten hat. Nur die Stärksten könnten überleben und die anderen seien zum Untergang verurteilt, so wie es Darwin in seinem Gesetz von der natürlichen Auslese dargelegt habe.

Vor ein paar Monaten rief ein US-Politiker die älteren Menschen, die empfindlicher auf COVID reagieren, dazu auf, sich zu opfern, um „die Wirtschaft“ und „die Freiheit“ zu retten. Indem sie die Schutzmaßnahmen herunterspielen und dafür eintreten, der „kleinen Grippe“ freien Lauf zu lassen, stoßen der US-Amerikaner Trump, der Brasilianer Bolsonaro und andere ins gleiche Horn und reden dem „Sozialdarwinismus“ das Wort. Dagegen muss man sich mit aller Kraft wehren.

Ob gegenüber COVID oder der Bedrohung durch den Klimawandel präsentieren sich die Anhänger*innen des „Sozialdarwinismus“ als Verfechter*innen der Freiheit, zu leben, zu genießen, zu konsumieren und Geschäfte zu machen, ohne Einschränkungen oder Hindernisse hinnehmen zu müssen. Sie beklagen zwar oft die Machenschaften bestimmter Kapitalisten, aber das ist nur Demagogie: Den Kapitalismus als solchen kritisieren sie nie.

Im Gegenteil: Was diese Leute in Wahrheit vertreten, ist die Freiheit, reich zu sein oder reich zu werden auf Kosten anderer und des Planeten. Hinter der Maske der „Freiheit“ und der „Naturgesetze“ verbirgt sich die alte faschistische Denkweise, nämlich herrschen, ausbeuten und eliminieren. Diese Maske muss heruntergerissen werden, sonst droht der Welt der Rückfall in die Barbarei.

Unsere Argumente

Zunächst einmal ist die Behauptung, dass Darwins Theorien die Eliminierung der schwächsten Lebewesen rechtfertigen würden, völlig falsch. Darwin hat vielmehr das genaue Gegenteil geschrieben, nämlich dass die Evolutionsgesetze unter den Menschen empathische Verhaltensweisen hervorgebracht haben, die dem Kampf aller gegen alle entgegenstehen. Die natürliche Auslese hat dessen Gegenteil begünstigt, nämlich die Solidarität.[3]

Zweitens muss darauf hingewiesen werden, dass wir keine Tiere wie alle anderen sind. Wir erschaffen unsere soziale Existenz kollektiv durch Arbeit, die eine bewusste Tätigkeit ist. Die menschliche Bevölkerung ist also nicht nur von der natürlichen Produktivität abhängig, sondern auch von der sozialen Art und Weise, wie diese genutzt wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine unbegrenzte Entwicklung möglich wäre, sondern dass unsere „Tragfähigkeit“ nicht nur eine Funktion der maximalen Anzahl von Menschen ist, die eine Produktionsweise ernähren kann, sondern auch eine Funktion der minimalen Anzahl von Menschen, die für eine bestimmte Produktionsweise benötigt wird.

Marktgesetze und Raubbau

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Die Industriefischerei und die traditionelle Kleinfischerei liefern zusammen jährlich 30 Millionen Tonnen Fisch für die menschliche Ernährung. Erstere erhält dabei 25 bis 27 Milliarden Dollar an Subventionen, beschäftigt 500 000 Menschen, verbraucht 37 Millionen Tonnen Treibstoff, wirft zwischen 8 und 20 Millionen Tonnen tote Tiere wieder ins Meer zurück und verarbeitet weitere 35 Millionen Tonnen zu Öl oder Tierfutter. Die Zweitgenannte erhält bloß 5 bis 7 Milliarden Dollar an Subventionen, beschäftigt 12 Millionen Menschen, verbraucht 5 Millionen Treibstoff, wirft so gut wie keine toten Fische zurück ins Meer und erzeugt nahezu kein Öl oder Fischfutter. Wenn wir also die Effektivität dieser beiden Systeme vergleichen, dann zeigt sich, dass bei der industriellen Fischerei für den Fang von ein bis zwei Tonnen Fisch eine Tonne Treibstoff benötigt wird, wohingegen diese Menge bei der Kleinfischerei für vier bis acht Tonnen ausreicht.[4]

Dieser Vergleich spricht Bände: Die Kleinfischerei ist gut sowohl für die Arbeitsplätze und die Biodiversität als auch für das Klima, für die Gesundheit und die öffentlichen Finanzen. Warum also verdrängt die industrielle Fischerei die traditionelle? Weil die Marktgesetze die Kapitalist*innen bevorteilen, die in diese Branche investieren.

In ähnlicher Weise könnte man die Agrarindustrie mit der ökologischen Landwirtschaft vergleichen, die Fleischindustrie mit der Weidewirtschaft, die Holzindustrie mit der ökologischen Forstwirtschaft, den Rohstoff-Extraktivismus mit der maßvollen und rationellen Nutzung der mineralischen Ressourcen usw. usf. Die Schlussfolgerung ist jedes Mal dieselbe: Alle diese Tätigkeiten könnten auch in anderer Form erfolgen, eine, die gut für die Biodiversität, für das Klima, für die Arbeitsplätze, die Gesundheit und die öffentlichen Haushalte ist. Warum aber setzen sich diese Formen nicht durch? Weil die Marktgesetze die Kapitalist*innen bevorteilen, die in diese schädlichen Produktionsformen investieren.

Was dies alles mit der Pandemie und der Umweltkrise im Allgemeinen zu tun hat, lässt sich einfach beantworten: Fischerei, Forst- und Landwirtschaft, Bergbau und Viehzucht sind zentrale Tätigkeiten, die an der Grenze zwischen Menschheit und Natur stattfinden. Und die Zoonosen entstehen genau an dieser Grenze.

Unsere Utopie ist dringend notwendig und wünschenswert

Über die notwendige Impfung hinaus, die allerdings das zugrunde liegende Problem nicht löst, müssen wir die gegenwärtige Krise nutzen, um über strukturelle Lösungswege nachzudenken. Was uns die Pandemie lehrt, ist dass die Marktgesetze die Menschheit in einen zunehmend parasitäreren Umgang mit der Natur drängen und dieser Umgang wie ein Bumerang auf uns zurückfällt und daher schnellstmöglich beendet werden muss. Die zweite Lektion ist, dass wir absolut betrachtet nicht zu viele sind, sondern bloß relativ zur sozialen Organisationsform, die uns seit 200 Jahren beherrscht, nämlich dem Kapitalismus.

Dabei ist eine andere Form möglich: ein Ökosozialismus, der auf der Befriedigung der wahren menschlichen Bedürfnisse basiert, über die demokratisch und unter sorgfältiger Beachtung der Grenzen der Ökosysteme befunden wird. In einem solchen System wäre die Arbeit zwar weiter ein unumgängliches Bindeglied zwischen dem Homo sapiens und dem Rest der Natur. Aber wir bräuchten weniger davon (weil die schädlichen und überflüssigen Produktionszweige entfielen) und sie wäre für alle da und vorrangig darauf gerichtet, für die Menschen und die Ökosysteme zu sorgen. Mit anderen Worten würde die Arbeit zu einer sozialen, ökologischen und daher verantwortungsvollen Tätigkeit, wie sie sich für eine freie und insofern der Grenzen bewusste Menschheit geziemt. Utopie? Mag sein, aber es sind die Utopien, die die Welt verändern. Und sie ist nicht nur dringend notwendig, sondern auch erstrebenswert.

Dieser Artikel wird in die internationale Nr. 2/2021 abgedruckt.

Quelle: „Face à la pandémie: écosocialisme ou barbarie?“, Gauche Anticapitaliste, https://www.gaucheanticapitaliste.org/face-a-la-pandemie-ecosocialisme-ou-darwinisme-social/ (29. Dezember 2020).

Übersetzung: MiWe


[1] 60 % nach Angaben der WHO und 70 % nach einem Sonderbericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES zur Covid-19-Pandemie.

[2] Siehe hierzu Marijke Colles Artikel über die unterschätzte Verbindung von Corona, Grippe und Luftverschmutzung: https://www.gaucheanticapitaliste.org/corona-grippe-pollution-de-lair-un-lien-sous-estime/ (21.12.2020).

[3] Darwin verfasste diese These in seinem zweiten Hauptwerk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl [London 1871; dt. Stuttgart 1871], das 10 Jahre nach Die Entstehung der Arten [London 1859; dt. Stuttgart 1860] erschienen ist.

[4] Jennifer Jacquet u. Daniel Pauly, „Funding Priorities: Big Barriers to Small-Scale Fisheries“, in: Conservation Biology, Jg. 22, Nr. 4, August 2008, S. 832–835, https://jenniferjacquet.files.wordpress.com/2010/05/jacquetpauly2008_conbio.pdf.

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