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Moskau schickt einen „Mercader“: Auftragskiller unterwegs

Von Helmut Dahmer | 01.02.2011

Im Juni 2010 flog in den Vereinigten Staaten ein russischer Spionagering auf. Im Juli wurden zehn enttarnte russische Langzeit-Agenten gegen vier US-Spione ausgetauscht und nach ihrer Heimkehr nach Moskau von dem früheren KGB-Offizier und heutigen Ministerpräsidenten Putin, später dann auch vom Staatspräsidenten Medwedew geehrt.

Im Juni 2010 flog in den Vereinigten Staaten ein russischer Spionagering auf. Im Juli wurden zehn enttarnte russische Langzeit-Agenten gegen vier US-Spione ausgetauscht und nach ihrer Heimkehr nach Moskau von dem früheren KGB-Offizier und heutigen Ministerpräsidenten Putin, später dann auch vom Staatspräsidenten Medwedew geehrt.

Darüber berichtete am 11. November die regierungsnahe russische Zeitung Kommersant und fügte hinzu, der Doppelagent und vormalige Leiter des für die USA zuständigen Auslands-Spionage-Direktoriums1, Schtscherbakow, habe sich (wie auch sein Sohn) rechtzeitig in die Vereinigten Staaten abgesetzt. Putins Kommentar zur Verhaftung der russischen Agenten in den USA lautete: „Mit Verrätern nimmt es immer ein böses Ende“.2 Kommersant schrieb, der Landesverräter Schtscherbakow werde gegenwärtig von einer auf ihn angesetzten Killer-Truppe gesucht, und zitierte einen Kreml-Beamten: „Wir wissen, wer er ist und wo er ist. Sie können sicher sein, dass schon ein Mercader hinter ihm her ist.“
Mercader
Wer oder was aber ist ein „Mercader“? Die Herald Tribune erklärte es ihren Lesern: „Ein spanischer Kommunist, den Stalin aussandte, um Leo Trotzki in Mexiko zu ermorden.“ So ist es, aber der (ungenannt gebliebene) Kreml-Beamte hat mit seiner Rede vom „Mercader“, die für heutige Leser des Kommersant ebenso wenig verständlich ist wie für die große Mehrheit der Leser der Tribune, die Geheimgeschichte der Sowjetunion und des heutigen Russlands fortgeschrieben. Ramón Mercader (alias „Frank Jacson“), der 1940 von Stalin als „Held der Sowjetunion“ mit dem Leninorden ausgezeichnet wurde, nannte sich seit seiner Mordtat (am 20. August 1940 im Vorort Coyoacán der mexikanischen Hauptstadt) wieder „Jacques Mornard“. Erst 1953 konnte er anhand von Fingerabdrücken identifiziert werden. 1960 wurde er aus der Haft entlassen, starb 1978 auf Kuba und liegt auf dem Friedhof von Kunzewo3 (Moskauer Vorort) begraben. Auf dem dortigen Grabstein befindet sich ein Porträt von ihm, und darunter prangt ein weiterer falscher Name: „Lopez, Ramon Iwanowitsch“.

Mercaders Auftrag war es, den exilierten Theoretiker und Organisator der russischen Revolution und Kritiker der Stalinschen Despotie lautlos umzubringen, um anschließend unbemerkt fliehen und untertauchen zu können. Die jetzt im Zusammenhang mit dem Fall Schtscherbakow erfolgte offiziöse Nennung des richtigen Namens des Trotzki-Mörders – den schon Jorge Semprun und Peter Weiß in die Literatur eingeführt haben4 – kommt dem späten Eingeständnis eines der Stalinschen Verbrechen gleich.5 Zugleich erhält Mercader, der Polit-Gangster mit dem Lenin­orden, noch einmal höhere Weihen: Er wird nun zu einem Typus – wie die Mörder in Dostojewskis Romanen (Raskolnikow, Werchowenski, Smerdjakow). Trotzki verteidigte die Oktoberrevolution gegen die „weiße“ und später gegen die stalinistische Konterrevolution. Schtscherbakow hat mit ihm nichts gemein.

Putin wiederum ist kein Stalin oder Berija. Doch in dem Land, in dem für eine nachholende Industrialisierung 15 bis 25 Millionen Menschen geopfert wurden und in dem es bis heute keine Wahrheitskommissionen, keine Prozesse gegen KGB-Serienmörder, Lagerkommandanten und „furchtbare Juristen“ und schon gar keine „Wiedergutmachungen“ gibt, lebt die blutige Vergangenheit in der Herrschaftspraxis der Gegenwart weiter.

Ob KGB oder FSB: Wirkliche und vermeintliche „Verräter“ (wie Alexander Litwinenko) verfallen der Feme, Kritiker (wie Anna Politkowskaja) werden zum Schweigen gebracht. Die Leute, die heute im Kreml das Sagen haben (von ihren Satrapen wie Kadyrow ganz zu schweigen), identifizieren sich ohne Bedenken mit ihren Vorgängern, die vor 70 Jahren Mordkommandos nach Spanien, Frankreich und Mexiko schickten, um antistalinistische Revolutionäre umzubringen. Damals wurden in der Sowjetunion Millionen auf dem Altar des „Vaterlands der Werktätigen“ geopfert, heute geht es um „Unser Haus Russland“ oder um „Geeintes Russland“. Vom Nationalkommunismus (nämlich dem „Sozialismus in einem Lande“) blieb nur die Nation, von der Partei der Clan der Oligarchen und die Nomenklatura. Vor allem aber blieb die Tradition, Gegner, Kritiker und Abtrünnige gewaltsam aus dem Wege zu räumen. Darum stehen Schläger und Killer vom Typus Mercader hoch im Kurs. Sie werden gebraucht, damit alles so bleibt, wie es gegenwärtig ist. Und sie sind Anwärter für den Orden eines „Helden der Russischen Föderation“.

1    Diese Abteilung, die Gennadij Gudkow, ein Abgeordneter mit guten Beziehungen zum Geheimdienst, „das Allerheiligste“ im Spionage-Geschäft nennt, wird von Michail Y. Fradkow geleitet, der unter Präsident Putin Ministerpräsident war.
2    Zitiert nach Levy, Clifford J. (2010): „Turncoat helped U.S. break up spy ring, Russian paper says.“ International Herald Tribune, 12. 11. 2010, S. 3.
3    Über den Terror im Städtchen Kunzewo in den Jahren 1937/38 hat Alexander Vatlin eine (2003 auch ins Deutsche übersetzte) Untersuchung veröffentlicht (Tatort Kunzewo). Von den 40 637 Einwohnern wurden damals fast 600 verhaftet, mehr als 272 davon erschossen und die übrigen zu je 10 Jahren Arbeitslager verurteilt.
4    Semprun (1969): Der zweite Tod des Ramón Mercader. Roman. Frankfurt 1974. – Weiß [1968/69]: Trotzki im Exil. Frankfurt 1970.
5    Offenbar ist, mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Beginn der „Entstalinisierung“ von oben, die Zeit reif für neue Geständnisse und Schuldanerkenntnisse. So hat die russische Staatsduma am 26. 11. 2010 endlich auch eingeräumt, dass 22 000 gefangene polnische Offiziere auf Stalins Geheiß im Frühjahr 1940 im Wald von Katyn von KGB-Leuten erschossen wurden – nachdem das entsprechende Dokument (mit den Unterschriften Stalins, Woroschilows, Mikojans und Molotows) schon im April dieses Jahres in der internationalen Presse publiziert worden war. (Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 4. 2010, S. 1.)

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