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Länder

Revolution gegen den Neoliberalismus

Von Philipp Xanthos | 01.04.2011

Falls am Ende der Revolution in Ägypten und Tunesien eine Neuauflage des Neoliberalismus steht, werden sich Millionen von Menschen betrogen fühlen. Es waren gerade diese zwei Staaten, die bislang in der arabischen Welt eine Vorreiterrolle innehatten, was neoliberale Strukturreformen angeht.

Falls am Ende der Revolution in Ägypten und Tunesien eine Neuauflage des Neoliberalismus steht, werden sich Millionen von Menschen betrogen fühlen. Es waren gerade diese zwei Staaten, die bislang in der arabischen Welt eine Vorreiterrolle innehatten, was neoliberale Strukturreformen angeht.

Die liberale Zeitung Ahrar bezifferte nach dem Kairoer Umsturz die unterschlagenen Auslandsvermögen auf 700 Mrd. ägyptische Pfund (87,5 Mrd. €). Doch ist hiervon viel zu erhoffen? Auf den Listen der Profiteure des Mubarak-Regimes, die derzeit im Internet kursieren, stehen der Ex-Diktator und seine Söhne Gamal und Ala stets oben. Auf den obersten Plätzen rangiert auch der frühere Generalsekretär der Mubarak-Partei NDP, der gleichzeitig größter Stahl-Magnat der Region ist. Ihm folgen der frühere Tourismus-Minister, der Minister für Wohnungsbau und der Innenminister, der der Chef des Unterdrückungsapparats war. Sie alle gelten als Besitzer von „einigen wenigen“ bis Dutzenden Milliarden [!] US-$. Die Schätzungen über das Vermögen Mubaraks allein reichen bereits von 3 bis 70 Mrd. US-$. Da ein Großteil dieser Vermögen auf Konten außerhalb Ägyptens liegt, kann es keine genauen Zahlen geben. Und die Herren Milliardäre werden wohl genug Mittel und Wege kennen, um ihre Vermögen vor Beschlagnahme in Sicherheit zu bringen.

Doch auch ein Vermögen von „nur“ einer Milliarde zu besitzen, ist schon ein Verbrechen, denn 20 % der Ägypter­Innen (nach anderen Zahlen 40-50 %) leben unter der Armutsgrenze, d. h. von weniger als 2 US-$ pro Tag, was bedeutet, dass sie 70-80 % ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Allein deswegen muss der Staat in die Preisgestaltung für Lebensmittel eingreifen. Denn „freier Markt“ unter den Bedingungen existenzieller Armut würde bedeuten, dass bei jedem Anstieg der Weltmarktpreise für Lebensmittel große Bevölkerungsteile schlicht verhungern, was in anderen Ländern auch der Fall ist. Der Weg des „freien Marktes“ ist jedoch genau der, den Mubarak beschritten hat.
Spitze des Eisbergs
Denn die Korruption der obersten Eliten ist nur die auffälligste Erscheinung der strukturellen sozialen Probleme. Der klaffende Gegensatz zwischen allgemeiner Armut und persönlicher Bereicherung ist das, was bei den breiten Massen zu Recht für Empörung gesorgt hat, und was die Millionen Demonstrant­Innen, die dieses Regime in 18 Tagen gestürzt haben, angetrieben hat.

Doch die tiefer liegende, allgemeine Ursache für die Ungleichheit war nicht der ordinäre Griff in die Staatskasse, sondern eine Jahrzehnte währende neoliberale Politik. Begonnen wurde diese bereits 1970 nach dem Tod Nassers, jedoch wurde sie erst nach dem Zerfall des Realsozialismus 1991 – unter der Präsidentschaft Mubaraks – intensiviert. Zu diesem Zeitpunkt legten Weltbank und Internationaler Währungsfonds ein Programm zur Liberalisierung der Märkte in Ägypten auf. Die neoliberale Politik bedeutete jedoch zunächst nicht, dass die Rhetorik der Regierung in gleicher Weise mitverändert wurde. Ab 2004 setzte der Neoliberalismus dann vollends ein mit der Ernennung von Ahmed Nazif zum Premierminister.
Neoliberale Politik
Kernstück der Umsetzung neoliberaler Politik waren zahlreiche Privatisierungen. Es muss aber nicht nur gefragt werden, was privatisiert wurde, sondern für wen, bzw. wer sich das staatliche Eigentum privatisiert hat. Privatisierung der Stahlindustrie etwa bedeutete, dass der erwähnte Stahl-Magnat, NDP-Generalsekretär Ahmad Ezz, die landesweite Stahlproduktion in seinen Händen konzentrierte. Dies ging einher mit staatlichen Bauaufträgen im großen Stil. Der Aufbau des privaten Stahl-Monopols war gleichzeitig der Abbau der öffentlichen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Ein weiteres Beispiel liefert der frühere Parlaments-Minister Talaal Mustafa: Dieser hat sich zahlreiche Baugrundstücke „privatisiert“ und gleichzeitig gefördert durch staatliche Wohnungsbauprogramme und öffentlichen Straßenbau Kasse gemacht. Gleiches gilt für die Zementindustrie, die Tourismusindustrie…

Ist dies nur in Ägypten so? Es muss hier nicht an die Bush-Minister Rumsfeld und Cheney erinnert werden, die im Rüstungsgeschäft und in der Ölwirtschaft tätig waren, damit deutlich wird, dass es sich bei der personellen Verbindung von Staat und Wirtschaft nicht um ein besonderes „orientalisches“ Phänomen handelt, sondern um ein typisches Phänomen des Kapitalismus und ganz besonders des Neoliberalismus. So hatte auch der Finanzminister Clintons, Lawrence Summers seinerzeit an der Deregulierung der Finanzmärkte mitgewirkt, um von genau diesen Gesetzen in seiner Funktion als „Berater“ eines Finanzdienstleisters zu profitieren. Summers wurde nach der Ära Bush von Präsident Obama wieder in die Regierung aufgenommen. Der Neoliberalismus fordert – in seiner Funktion als Doktrin – nicht einfach nur, dass grundlegende menschliche Bedürfnisse den Gesetzen des „freien Marktes“ unterworfen werden, sondern dass der Staat – weit entfernt sich nur „herauszuhalten“ – gerade diese Märkte herstellt und deren „Funktionieren“ gewährleistet.
Armut und Revolution
Dieser Mechanismus führte denn dazu, dass – wie das Zentrum für Sozialistische Studien Ägypten nach dem Sturz Mubaraks erklärte – in Ägypten 100 Familien über 90 % des Reichtums verfügen. Neben der Privatisierung bedeutete der ägyptische Neoliberalismus eine Öffnung der Wirtschaft für ausländisches Kapital, die Beschneidung der öffentlichen Dienstleistungen und einen Abbau des Einflusses des Staates auf die Preisgestaltung. Gleichzeitig stieg die Erwerbslosigkeit und sank die Massenkaufkraft, bis es 2011 zum sozialen Ausbruch kam.

Jedoch: Das Verhältnis von Armut und Revolution ist im Allgemeinen komplex und einen Automatismus gibt es hier nicht. Es sind gerade nicht die Ärmsten der Armen, die eine Revolution beginnen.

Anfang Februar hat die liberale Neue Zürcher Zeitung deutlich gemacht, dass Demonstrieren für all diejenigen Ägypter­Innen ein Luxus ist, für die ein fehlender Tageslohn gleichbedeutend ist mit einem leeren Magen und hungrigen Kindern. Die neoliberale Verarmungspolitik führt daher nicht von selbst dazu, dass eine Revolution der verarmten Massen heraufbeschworen wird (siehe Kasten). Wie der Marxist Kautsky bereits 1901 auf dem Lübecker SPD-Parteitag ausführte: „Wie steht es denn mit der Verelendungstheorie? Sie sagt, dass es immer schlechter werden muss, ehe es besser werden kann, dass das Proletariat immer mehr und mehr in Elend versinkt, bis es ganz widerstandslos geworden ist, und dass dann erst der große Tag der Befreiung hereinbricht. Genossen, ist diese Verelen
dungstheorie jemals in der Partei von irgendjemand, der auf Bedeutung Anspruch macht, geteilt worden? Sicher nicht.“ Auf Deutschland übertragen deckt sich dies mit der Beobachtung, dass die sozialen Proteste gegen „Hartz IV“ gerade dann fast verschwanden, als „Hartz IV“ eingeführt war. Die Menschen, die nun ihren Alltag zu bewältigen hatten, waren weg von den Straßen – und sind es größtenteils bis heute.
Chance für Linke
Der Kampf gegen den Neoliberalismus, der in Ägypten und Tunesien breiten Auftrieb durch die Beteiligung der Massen erhalten hat, birgt in sich ein enormes Potenzial für die weltweite revolutionäre Linke. Denn erst wenn der existenzbedrohenden Verarmung breiter Schichten ein ausreichender Widerstand entgegengesetzt wird, eröffnet sich überhaupt die Möglichkeit für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Der Flucht Ben Alis wie dem erzwungenen Rücktritt Mubaraks gingen politische Generalstreiks einer unabhängigen Arbeiter­Innenbewegung voraus. Diese kämpferischen Gewerkschaften sind die Speerspitze des Kampfes gegen den Neoliberalismus, während die große Masse der Bevölkerung zunächst bloß gegen die ungeheure Korruption und ihre elende Lebenslage aufgestanden ist. Erst mit diesem subjektiven Faktor lassen sich die revolutionären Kämpfe der Zukunft austragen.

 

Armut und Revolution
Marx machte bereits 1858 in einem Artikel mit dem Titel „Die steigende Anzahl der Geisteskranken in England“ auf das Problem der gescheiterten Existenzen im Kapitalismus aufmerksam. Woran die so genannten „Geistesgestörten und Idioten“, für die die „staatlichen Anstalten“ nicht ausreichten, diagnostisch gesehen tatsächlich litten, wissen wir nicht und Marx‘ medizinischer Sachverstand war begrenzt. Dass ihnen beim damaligen Stand der Psychiatrie geholfen wurde, ist unwahrscheinlich. Viele von ihnen wurden schlicht in Arbeitshäuser gesperrt und als billige Sklaven benutzt. Wir können einfach davon ausgehen, dass es sich um Menschen handelte, die mit der Organisation des eigenen Lebens überfordert waren. Und die Zahl dieser verarmten „Irren“ wuchs schneller als die Bevölkerung, schneller als der Reichtum und sogar schneller als die Zahl der Armen überhaupt.
Politisch bedeutet das, dass es mit steigender Armut nicht mehr Revolutionär­Innen gibt, sondern zunächst immer mehr Menschen, die vom Alltag erdrückt werden und damit auch mehr Menschen, die überhaupt nicht in der Lage sind, das Zeitgeschehen kritisch aufzuarbeiten und die – statt anderen helfen zu können – selbst hilfsbedürftig sind.

 

 

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