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Länder

Stammeskrieg oder sozialer Aufstand?

01.04.2011

Es gibt Libyen: Der Staat ist samt Grenzen international anerkannt. Aber im Grunde ist er ein Kunstgebilde wie die meisten postkolonialen Regimes der Region. Will man die derzeitige Lage verstehen, muss man in der Betrachtung hinter die Zeit des Ghaddafi-Regimes zurückgehen.

Es gibt Libyen: Der Staat ist samt Grenzen international anerkannt. Aber im Grunde ist er ein Kunstgebilde wie die meisten postkolonialen Regimes der Region. Will man die derzeitige Lage verstehen, muss man in der Betrachtung hinter die Zeit des Ghaddafi-Regimes zurückgehen.

Die Senussi-Monarchie, die in der Revolution von 1969 unter der Führung von Ghaddafi gestürzt wurde, löste 1951 die UN-Verwaltung ab, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg regiert hatte. In seiner gesamten Geschichte war die heute Libyen genannte Region Gegenstand von Kolonisierung, Besetzung und den entsprechenden Kriegen: Die Griechen gründeten bereits im 7. Jahrhundert vor unsrer Zeitrechnung an der Küste Kolonien, gleichzeitig kam die Kyrenaika unter die Herrschaft Ägyptens, die westlichen Gebiete wiederum rissen sich die Phönizier als „Tripolitanien“ unter den Nagel. Das Römische Reich brachte mit der Zerstörung Karthagos zunächst Tripolitanien, dann auch die Kyrenaika unter seine Herrschaft, im 5. Jahrhundert nach unsrer Zeitrechnung eroberten es dann die Vandalen, die dann von Ostrom vertrieben wurden. Ab 641 kamen dann die Araber und „bekehrten“ die ansässigen Berber zum Islam. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren es dann die Spanier, die Tripolitanien eroberten und das Land an die Johanniter abtraten, kurz darauf, 1551, folgten die Osmanen, nach dem italienisch-türkischen Krieg 1911-1912 annektierte Italien das Land. Widerstand, bereits gegen die Osmanen,  leistete die Senussi-Bruderschaft, die nach der Niederlage der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg und der Interimsherrschaft der UN dann mit Idris I. 1951 den König stellte.
Bevölkerung
Wie bei vielen postkolonialen Ländern sind die Grenzen des Staates Libyen künstlich gesetzt und entsprechen keiner kulturellen oder ethnischen Grenze. Nach der Unabhängigkeit dauerte es lange, bis die drei weitgehend autonomen Landesteile Kyrenaika, Tripolitanien und Fessan zu einer Einheit verschmolzen wurden, eigentlich erst seit 1963.

Die Zahl der Stämme in Libyen ist umstritten, die Angaben schwanken zwischen 100 und 140, wobei es  Stammesverbände gibt, die in der derzeitigen Revolution eine wichtige Rolle spielen, so in Westlibyen die Warfallah (mit 1 Million Menschen der größte Stamm), im Osten die Az-Zuwaya und die Misurata, in Zentrallibyen die Al-Magarha und auch die Quadafah, die zwar nur 126 000 Personen zählen, aber Ghaddafis Stamm sind und im Militär die Luftwaffe kontrollieren.

Im Süden wiederum leben die Toubou (oder Tebou), und dieser Stamm insbesondere zeigt, dass Libyen ein Kunstgebilde ist: Seine Mitglieder leben in Libyen, im Tschad, im Sudan und im Niger und kümmern sich ebenso wie die Tuareg nicht um die offiziellen Grenzen. Sie sind dunkelhäutiger als der Rest der Libyer und Ghaddafi deportierte in den letzten Jahren eine ganze Anzahl in den Tschad, mit der Behauptung, es handele sich nicht um Libyer.
Die Folgen
Da auch heute noch die regionalen Stammesstrukturen eine hohe Wichtigkeit haben, standen und fielen sowohl die Regimes von Idris I. wie das von Ghaddafi mit dem Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Stämmen und Landesteilen. Und da ist festzustellen, dass nach anfänglichen sozialen Fortschritten nach der Revolution von 1969 (Gesundheitsversorgung, Bildung) eine Klientelpolitik Platz griff, die zu erheblichen Ungleichheiten in der Ressourcenverteilung führte. Obwohl Libyen vom Pro-Kopf-Einkommen her das reichste Land Afrikas ist, liegt die Analphabetenrate der Frauen noch bei 29 %, die der Männer bei 8 %, und was den Korruptionsindex betrifft, so steht Libyen auf gleicher Stufe mit der Elfenbeinküste (Rang 146 von 178).

Trotz der von regionalen Stammesstrukturen geprägten Realität ist der Aufstand kein „Stammeskrieg“, wie es einige Kommentatoren sehen wollen – es ist ein sozialer Aufstand gegen die Vorenthaltung demokratischer Rechte, gegen die offenkundige soziale Ungleichheit, die sich in einem Nord-Süd- und einem West-Ost-Gefälle ausdrückt, und nicht zuletzt die hohe Arbeitslosigkeit.

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