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Länder

„Der Graben zwischen der Bevölkerung und dem Regime wird größer werden.“

Von Interview: Jakob Schäfer | 01.04.2011

Ende Februar führte Jakob Schäfer das folgende Interview mit dem marokkanischen Genossen Ziyad. In Al Mounadil-a arbeiten die Genoss­Innen der marokkanischen Sektion der IV. Internationale.

Ende Februar führte Jakob Schäfer das folgende Interview mit dem marokkanischen Genossen Ziyad. In Al Mounadil-a arbeiten die Genoss­Innen der marokkanischen Sektion der IV. Internationale.

Avanti: Verglichen mit den Regimen in den Nachbarländern erscheint die marokkanische Monarchie relativ stabil. Wie kommt das?

Ziyad: Das stimmt und es ist nicht nur ein Eindruck, den ihr im Ausland habt. Die tiefere Ursache für diese Erscheinung ist der Konsens, der in gewisser Weise im Land besteht. Denn im Gegensatz zum Regime seines Vaters, also vor 1999, ist die Herrschaft des Königs Mohammed VI nicht mehr so stark auf Repression aufgebaut. Das heutige Regime ist viel flexibler und erscheint geschmeidiger. Mit den bürokratisierten Gewerkschaften und den Oppositionsparteien hat man einen Konsens etabliert.

Das Motiv des Königs war und ist klar: Es ging darum, im Land eine gewisse Stabilität zu erzeugen, um nicht in eine Lage wie in Algerien zu geraten (also in einen Bürgerkrieg mit fundamentalis­tischen Kräften). In dieser Situation wird die Monarchie relativ gut als Garantin gegen den Aufstieg des Fundamentalismus akzeptiert und auch vom Imperialismus unterstützt. Und vor diesem Hintergrund wurde auch die Frage der Westsahara benutzt, um einen Konsens um die Monarchie herum zu etablieren.

Avanti: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften?

Ziyad: Es gibt drei Gewerkschaftsverbände: Die UMT (Union marocaine du travail, marok. Gewerkschaftsverband), deren Bürokratie direkt mit der Monar­chie verbunden ist; dieser Verband ist hauptsächlich im privaten Sektor verankert. Sodann die CDT (Confédération démocratique du travail, Demokratischer Gewerkschaftsverband), die mit der liberalen Partei verbunden ist. Und schließlich gibt es noch die UGTM (Union générale des travailleurs du Maroc, Allgemeine Arbeiterunion Marokkos). Der heutige Ministerpräsident gehört derselben Partei an, wie die Führer der UGTM. Al Mounadil-a arbeitet hauptsächlich in der UMT, aber auch in den anderen Gewerkschaften.
Generell verfolgen die Bürokratien all dieser Gewerkschaften die folgende Politik: Man akzeptiert die Opfer, die der Arbeiter­­Innenklasse auferlegt werden, um damit Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist ihrer Ansicht nach der einzige Weg, den Lebensstandard zu halten und langfristig zu verbessern.

Avanti: Und die Parteien?

Ziyad: Es gibt eine islamistische Partei, die PJD (Parti de la justice et du développement, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die versucht hat, einen Teil der Fundamentalisten zu gewinnen und in die Monarchie zu integrieren. Dies offenbart die bedeutende Rolle der Monarchie in diesem Land. Die Monarchie hat deswegen ein so hohes Ansehen im Land, weil sie an der Spitze der Befreiungsbewegung gegen den französischen Kolonialismus stand, der von 1912 bis 1956 das Land beherrschte. Die Monarchie profitiert also von einer relativ großen Akzeptanz in der Bevölkerung.

Avanti: Und die Zivilgesellschaft?

Ziyad: Die große Mehrheit der Nichtregierungsorganisationen (NRO) ist politisch verkommen, vor allem aufgrund der Finanzierung durch das Regime. Sie haben viele Aufgaben des Öffentlichen Dienstes übernommen und helfen dem Staat, zu funktionieren und den Öffentlichen Dienst aufrecht zu erhalten. Auch hier ist der Unterschied zum Regime des Vaters deutlich: Der aktuelle Konsens ist in der Gesellschaft (noch) vorherrschend, weil der König den NRO Lizenzen verleiht und Zugeständnisse macht. Die einzige größere NRO, die nicht korrumpiert ist, ist Attac Marokko. Diese Organisation ist nicht gekauft, aber sie ist illegal und arbeitet in gewisser Weise halb-legal. Wir arbeiten in Attac und unterstützen auch die AMDH (Association marocaine des droits humains; Marokkanische Menschenrechtsvereinigung).

Der König hat in den vergangenen Jahren gewisse Reformen durchgeführt: Das Familienrecht wurde reformiert; vorher konnte der Mann vier Frauen heiraten; die Scheidung wurde erleichtert. Das Erbrecht wurde ein wenig reformiert, aber natürlich kann immer noch der Mann das meiste beanspruchen, weil er „derjenige ist, der die Familie ernährt“. Auch im Fürsorgerecht für die Kinder gibt es einige Änderungen.
Der König hat auch der Meinungsfreiheit gewisse Zugeständnisse gemacht. Auf diesem Gebiet ist der Unterschied zwischen der „schwarzen Phase“ seines Vaters und seinem eigenen Regime am größten.

Avanti: Wie haben die Arbeiter­­Innenklasse und die Jugend auf die Ereignisse in Tunesien reagiert?

Ziyad: Die jungen Menschen verfolgen die Entwicklung sehr aufmerksam. Sie hatten schon die ANDCM (Association nationale des diplômés chômeurs du Maroc, Nationale Vereinigung erwerbsloser Hochschulabsolventen Marokkos) gegründet, die übrigens seit 1991 existiert. Die ANDCM hat einen großen Teil der Jugendlichen mobilisiert und andere Sektoren ermuntert. Sie ist im ganzen Land vertreten, in allen Städten gibt es entsprechende Gruppen. Und die Studierendenbewegung beteiligt sich an außeruniversitären Mobilisierungen. In der letzten Zeit nimmt die Aktivität unter jungen Menschen deutlich zu.

Avanti: Und die Islamisten?

Ziyad: Die Islamisten sind zahlreich und gut organisiert. Sie beteiligen sich an den aktuellen Mobilisierungen, aber die Linie ihrer Intervention ist noch nicht sehr klar. Traditionellerweise haben sie keine sozialen Forderungen, aber sie wollen nicht den Fehler der tunesischen Islamisten wiederholen, die sehr lange gewartet haben, bevor sie sich an den Mobilisierungen und Protestaktionen beteiligt haben. Im Unterschied dazu hatten sie anlässlich des Gazakriegs [2008/2009] sofort gegen die israelische Aggression mobilisiert.
Die Islamisten haben immer noch einen großen Einfluss in religiösen Angelegenheit. Aber wenn es zu sozialen Mobilisierungen kommt, können sie nicht viel davon profitieren. Im Wesentlichen geht das an ihnen vorbei.

Im Gegensatz dazu können wir sehr wohl während solcher Mobilisierungen an Einfluss gewinnen. Und wir können auch feststellen: Heute haben die Menschen sehr viel weniger Angst vor den Fundamentalisten.

Avanti: Wie wird sich die Oppositionsbewegung gegen das Regime entwickeln?

Ziyad: Die imperialistische Politik Frankreichs und anderer Länder hat bedeutsame Auswirkungen auf die Lebenslage der Menschen, vor allem was die Erwerbslosigkeit angeht, die weiter zunehmen wird. Dies wird dazu führen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung nicht mehr mit der Politik des Regimes einverstanden ist. Der Konsens wird also kleiner werden, und die Repression
wird zunehmen.
Aufgrund des Konsenses sind die offiziellen Parteien sehr stark diskreditiert. In einer angespannten Lage werden sie also keine abfedernde Funktion übernehmen können. Der Graben zwischen der Bevölkerung und dem Regime wird größer werden. Heute schon beginnt die Bevölkerung zu demonstrieren, auch wenn es noch nicht so massenhaft ist wie in Tunesien und Ägypten. Was ihr an sozialem Gegensatz in Tunesien und Ägypten sehen könnt, gibt es auch bei uns, und die Voraussetzungen für eine breitere Bewegung sind auch hier gegeben. Es kann also auch bei uns große Demon­strationen mit Zehntausenden von Teilnehmenden geben. Die Monarchie ist sich dessen sehr wohl bewusst (sie hat wirklich Angst vor einer Massenmobilisierung) und hat deswegen einige materielle Erleichterungen verfügt, beschränkt zwar, aber doch klar erkennbar als Reaktion auf die Ereignisse in den Nachbarländern. Die Regierung hat auch endlich Tarifverträge unterzeichnet, für die die Gewerkschaften jahrelang gekämpft haben und wo die Regierung sich überhaupt nicht bewegt hatte.

Avanti: Was sind die wichtigsten Punkte für die Unzufriedenheit der Bevölkerung?

Ziyad: Das ist ohne Zweifel vor allem die Erwerbslosigkeit, besonders bei den jungen Menschen, und hier vor allem bei denen mit einem höherem Schulabschluss oder Hochschulabschluss. Sodann sind es die in den letzten Jahren gestiegenen Lebensmittelpreise. Hier hat der König jetzt größere Subventionen dekretiert, aber das wird nicht reichen, um die Unzufriedenheit zu legen, denn der Effekt wird zeitlich sehr begrenzt sein. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Analphabetenrate liegt bei 57-60 % für die Gesamtbevölkerung und bei 78 % bei den Frauen. Der Lebensstandard ist also insgesamt sehr niedrig, selbst verglichen mit den anderen Ländern des Maghreb. Man kann sagen, dass der Konsens bis jetzt mehr oder weniger gut funktioniert hat, aber er zerbröckelt gerade, erst recht wenn die Menschen sich durch die Ereignisse in den Nachbarländern ermutigt fühlen werden.

Avanti: Wie steht es mit der Bevölkerung in der Westsahara?

Ziyad: Dort sind die Menschen ein wenig zwischen dem Regime und der Polisario hin- und hergerissen. Die Polisario ist in der Krise, weil erstens die Monarchie keine Mauer zwischen der Westsahara und Marokko gebaut hat. Das Gebiet ist nicht abgeschottet, und viele junge Menschen haben sich im Norden integriert. Zweitens kann die Polisario die Menschen nicht in den Zeltstädten halten. Und drittens hat die Regierung Integrationsprogramme umgesetzt. Die Polisario verhält sich hier etwas ambivalent.

Wir selbst kämpfen für einen vereinigten, sozialistischen und unabhängigen Maghreb. Heute denken wir darüber nach, eine legale Partei zu gründen, die besser in der Lage wäre, die sich öffnende Bresche zu nutzen. Das ist noch nicht ohne Gefahren, aber es gibt gewisse Chancen, die wir nicht verpassen wollen.

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