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Wisconsin: „Kill the Bill!“

Von Harry Tuttle | 01.05.2011

Zehntausende protestierten im US-Bundesstaat Wisconsin gegen die Einschränkung der Gewerkschaftsrechte. Der Konflikt ist für alle Lohnabhängigen in den USA und auch für die globale Arbeiter­­Innenbewegung von Bedeutung.

Zehntausende protestierten im US-Bundesstaat Wisconsin gegen die Einschränkung der Gewerkschaftsrechte. Der Konflikt ist für alle Lohnabhängigen in den USA und auch für die globale Arbeiter­­Innenbewegung von Bedeutung.

Ein Gewerkschaftsmitglied zu sein, bedeutet mehr, als für höhere Löhne zu kämpfen. Es bedeutet, für Menschenrechte zu kämpfen“, sagte Bobby Staples. Der Krankenpfleger nahm in Milwaukee an einer Kundgebung zum Gedenken an Martin Luther King teil, der am 4.April 1968 ermordet wurde. Nach Angaben des Gewerkschaftsverbands AFL-CIO fanden in den USA mehr als 1000 solcher Gedenkveranstaltungen zum Martin-Luther-King-Day statt.

King war nicht nur Bürgerrechtler im klassisch-liberalen Sinn, er setzte sich auch für die Rechte der Arbeiter­Innen ein. Er war nach Memphis gereist, um einen Streik von Beschäftigten der Stadtreinigung zu unterstützen, der gerichtlich verboten worden war, als er einem Attentat zu Opfer fiel. In Madison beteiligten sich auch zwei der damals Streikenden an der Kundgebung.

Im Wisconsin fanden Veranstaltungen selbst in Orten wie Oconto Falls statt, das mit knapp 3000 Einwohner­Innen kaum mehr als ein Dorf ist. Denn in diesem Bundesstaat wird eine Auseinandersetzung über Gewerkschaftsrechte geführt, die nicht nur für die Beschäftigten im dortigen öffentlichen Dienst, sondern für alle Lohnabhängigen in den USA und auch für die globale Arbeiter­Innenbewegung von Bedeutung ist.
„43 Jahre nach der Ermordung von Dr. King sind arbeitende Männer und Frauen mit politisch motivierten Angriffen konfrontiert, die darauf zielen, ihnen ihre Stimmen und ihre Rechte zu nehmen“, sagte Clay Christenson, Feuerwehrmann der Gewerkschaftssektion IAFF Local 311, bei der Kundgebung in Madison, der Hauptstadt von Wisconsin. Das zuvor als etwas verschlafen betrachtete Madison war der wichtigste Schauplatz einer Protestbewegung gegen die Versuche des Gouverneurs Scott Walker, die Gewerkschaftsrechte einzuschränken.

Der Republikaner Walker war im November vorigen Jahres mit Unterstützung der rechten Tea-Party-Bewegung gewählt worden. Kaum im Amt, legte er einen Gesetzentwurf vor, der eine Kürzung der Löhne, der Pensionen sowie des Arbeitgeberanteils an der Krankenversicherung für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst vorsah. Das wäre Anlass genug für Proteste gewesen, doch Walker wollte den Gewerkschaften auch das Recht nehmen, verbindliche Tarifverhandlungen für ihre Mitglieder zu führen.

Mitte Februar begannen Proteste, die mehrere Wochen lang anhielten. Zu den Demonstrationen kamen 70 000 bis 80 000 Menschen, eine beachtliche Zahl für einen landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat, dessen Hauptstadt kaum mehr als 200 000 Einwohner­Innen hat. Nicht nur vor dem Capitol, dem Sitz des Parlaments, wurde demonstriert, mehrere Hundert Protestierende hielten das Gebäude besetzt. „Kill the Bill“ war die Hauptparole, die Bewegung erregte Aufmerksamkeit in den gesamten USA, aber auch in anderen Teilen der Welt. Solidaritätserklärungen wurden unter anderem von der polnischen Solidarnosc und vom neu gegründeten unabhängigen Gewerkschaftsverband Ägyptens übermittelt.
Senatoren auf der Flucht
Auch Parlamentarier der Demokratischen Partei beteiligten sich an den Protesten. Um das Gesetz verabschieden zu können, musste Walker ein Quorum von 75 Prozent der Mandatsträger im Parlament versammeln. Doch 14 Senatoren flohen in den Nachbarstaat Illinois. In diesem Bundesstaat hatte einst ein später berühmt gewordener Abgeordneter sich dieser etwas seltsam anmutenden, aber in den USA nicht unüblichen Taktik bedient. Weil er eingesperrt worden war, um seine Beteiligung an einer Abstimmung sicherzustellen, sprang Abraham Lincoln 1840 aus einem Fenster im zweiten Stock und flüchtete in den Wald.

Walker hätte die 14 Abtrünnigen gerne von der Polizei vorführen lassen, doch deren Befugnisse enden an der Grenze Wisconsins. Der Gouverneur griff zu einem legislativen Trick. Die gewerkschaftsfeindlichen Regelungen wurden für „nicht fiskalisch“ erklärt, damit entfiel nach Walkers Ansicht die Notwendigkeit, ein Quorum im Parlament festzustellen. Phil Neuenfeldt, der Präsident des AFL-CIO, nannte dies die „nukleare Option“ beim „Angriff auf die arbeitenden Familien in Wisconsin“. Das Gesetz wird nun juristisch angefochten. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist unklar, ein Gericht stoppte die Anwendung des Gesetzes, wurde jedoch Mitte April von einer höheren Instanz für nicht zuständig befunden.

Die Protestwelle ist vorerst abgeebbt, doch zweifellos wird der Konflikt weitergehen. Bereits jetzt hat die Bewegung von Wisconsin immense Bedeutung für die gesamten USA, denn es handelte sich um die erste große Mobilisierung der Arbeiter­Innenbewegung und der Linken seit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten und dem Siegeszug der Tea-Party-Bewegung. Das vergangene Jahr war geprägt von den Demonstrationen dieser rechten Sammlungsbewegung, und bei den Kongresswahlen siegten zahlreiche Republikaner, die von der Tea Party unterstützt wurden.

Die Tea-Party-Bewegung ist heterogen, einig ist man sich jedoch in der Ablehnung des Sozialstaats und höherer Steuern für die Reichen. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Schulden der USA wie auch der einzelnen Bundesstaaten gewachsen. Die Lösung der Republikaner, die auch bei den Budgetverhandlungen mit Obama vehement vertreten wurde, ist einfach: Stellenabbau sowie Kürzung der Löhne und der Sozialleistungen im öffentlichen Dienst, radikale Kürzung der Sozialausgaben.
Die letzte große Bastion
Unvermeidlich ist dies auch im kapitalistischen Rahmen nicht. Walker etwa hatte sofort nach seiner Amtsübernahme die Unternehmenssteuern drastisch gesenkt und so die Budgetprobleme verschärft. Die Privatunternehmen tragen weniger als zehn Prozent zum Gesamtsteueraufkommen der USA bei. Viel wäre schon gewonnen, wenn sie wenigstens die Körperschaftssteuer von 35 Prozent tatsächlich entrichten würden, doch bewusst nicht geschlossene Gesetzeslücken ermöglichen es ihnen, mit durchschnittlich 15 Prozent davonzukommen. Die Einkommenssteuer für Reiche wurde unter Präsident George W. Bush befristet um drei Prozent gesenkt, allein diese Regelung kostet den Staat jährlich 100 Milliarden Dollar.

Der Verlängerung der Steuersenkung für Reiche hat Obama im vergangenen Jahr zugestimmt, dies war nur einer von zahlreichen Kompromissen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, dass die Demokraten ein zuverlässiger Bündnispartner für die Arbeiter­Innenbewegung sind. An den Protesten in Wisconsin beteiligten sich auch sozialistische Gruppen und radikale Gewerkschafter­Innen wie die Wobblies. Doch in dem derzeitigen politischen Kräfteverhältnis ist eine unabhängige Bewegung der radikalen Linken k
aum möglich.

Demokratische Partei und Gewerkschaftsbürokratie sind eng miteinander verbunden, unter anderem finanzieren Gewerkschaften den Wahlkampf vieler demokratischer Kandidaten. Die Führung des AFL-CIO ist nicht weniger kompromissbereit als die Bürokratie des DGB. Doch von „Sozialpartnerschaft“ wollen die rechten Republikaner nichts wissen. Sie wollen die Gewerkschaften beseitigen, und sie sind diesem Ziel nähergekommen, seit Präsident Ronald Reagan in den achtziger Jahren begann, die Rechte der Lohnabhängigen einzuschränken.
Nur noch 14 Prozent der Lohnabhängigen werden von einer Gewerkschaft repräsentiert. Vor allem bei den Privatunternehmen sieht es schlecht aus, hier liegt der Organisationsgrad bei sieben Prozent. Mittlerweile sind ganze Bundesstaaten vor allem im Süden der USA fast gewerkschaftsfrei, hier lassen viele ausländische Konzerne, unter anderem VW, BMW und Daimler, gerne produzieren. Im öffentlichen Dienst hingegen sind immerhin noch etwa 25 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Von wenigen Konzernen mit einem noch hohen Organisationsgrad abgesehen, ist der öffentliche Dienst deshalb die letzte große Bastion der Gewerkschaftsbewegung.
Baseballschläger im Büro
Auf beiden Seiten geht es im Konflikt in Wisconsin daher nicht allein um Geld. Rechte Republikaner und Tea-Party-Bewegung vertreten ein ideologisches Programm. Es sieht vor, dass die Amerikaner sowohl individuell für ihre soziale Absicherung verantwortlich sein als auch allein auf sich gestellt über Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln sollen. Dieses Programm wird von zahlreichen Unternehmern und Konzernen unterstützt. Das wurde noch einmal durch das Protokoll eines fingierten Telefonanrufs verdeutlicht, bei dem sich ein Radiomoderator bei Walker als David Koch vorgestellt hatte. Koch ist Milliardär und einer der bekanntesten Gewerkschaftsfeinde der USA. Wie ein devoter Untergebener erstattete Walker ihm Bericht über seine Bemühungen, und auf den Vorschlag, die geflohenen Abgeordneten mit dem Baseballschläger zurückzutreiben, antwortete er: „Ich habe einen in meinem Büro. Der würde ihnen gefallen.“

In mehreren Bundesstaaten der USA sind gewerkschaftsfeindliche Gesetze nach dem Vorbild Wisconsins geplant. Eine ähnliche Entwicklung droht jedoch auch in Europa. Die EU hat im März eine „Überprüfung der Lohnbildungsregelungen“ beschlossen, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ der europäischen Staaten zu stärken. Überprüft werden soll „unter gleichzeitiger Wahrung der Autonomie der Sozialpartner bei den Tarifverhandlungen“, doch ist zu befürchten, dass die Sparpolitik mit gewerkschaftsfeindlichen Regelungen durchgesetzt werden soll. Bereits jetzt bestimmt die von Deutschland geführte EU, wie viel Geld eine Krankenschwester in Athen verdient, und mit dem geplanten Aufbau einer EU-„Wirtschaftsregierung“ dürften die autoritären Tendenzen gestärkt werden. Es ist daher keineswegs übertrieben, wenn Bobby Staples sagt, dass der Kampf der Gewerkschaften ein Kampf für Menschenrechte ist.

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