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Spanien / Katalonien: Empört Euch!

Von Josep Maria Antentas/Esther Vivas | 01.07.2011

Im Folgenden dokumentieren wir in der Art einer Chronik Auszüge aus den Berichten und Artikeln der Aktivist­Innen Esther Vivas und Josep Maria Antentas aus Barcelona. Sie waren und sind bei der Besetzung der Plaza Catalunya in Barcelona und den vielfältigen Protestaktionen der „Indignados“ (die Empörten) von Anfang an dabei.

Im Folgenden dokumentieren wir in der Art einer Chronik Auszüge aus den Berichten und Artikeln der Aktivist­Innen Esther Vivas und Josep Maria Antentas aus Barcelona. Sie waren und sind bei der Besetzung der Plaza Catalunya in Barcelona und den vielfältigen Protestaktionen der „Indignados“ (die Empörten) von Anfang an dabei.

Samstag, 28.5.2011: Die Bewegung hat die erste Repressionswelle zurückgeschlagen. Der Versuch am 27. Mai, das Camp auf der Plaza Catalunya in Barcelona, das zweitgrößte von den vielen, die es inzwischen in ganz Spanien gibt, aufzulösen, schlug auf ganzer Linie fehl.
Eine Woche nachdem die Bewegung das Verbot der zentralen Wahlbehörde, am Tag vor der Wahl, dem 21. Mai, und am Wahltag, den 22. Mai,  Demonstrationen abzuhalten, politisch ausgehebelt hatte, versuchte die katalonische Polizei in den Morgenstunden, das Camp auf der Plaza Catalunya aufzulösen. Es wurde ein geradezu lächerlicher und unglaubwürdiger Vorwand benutzt: Die Reinigung des Platzes solle erleichtert werden.

Alle Zugänge zum Platz wurden durch ein massives Polizeiaufgebot geschlossen, 300 Personen verblieben auf dem Platz. In Solidarität mit den Eingeschlossenen eroberten über 1000 Menschen den Platz zurück und zwangen die Polizei zum Rückzug, die mit massiver Brutalität vorging: mehr als 100 Verletzte, einige davon sehr schwer, waren das Resultat.

Polizeiprovokation? Haben sie sich verrechnet? Wie dem auch sei, die Bewegung hat einen sehr wichtigen politischen Sieg errungen. Sie hat die mediale Aufmerksamkeit zurückgewonnen, nachdem diese sich auf die Regional- und Kommunalwahlen verlagert hatte.(…)
Mensch kann unmöglich sagen, wie lange die Camps und Versammlungen auf den Plätzen noch andauern werden, aber dies ist keine konjunkturelle oder isolierte Bewegung. Das ist die Spitze des Eisbergs aus aufgestauter Erbitterung über die soziale Lage, die sich jetzt in eine Bewegung transformiert. (…)

Die Platzbesetzungen sind kein Selbstzweck. Sie fungieren aktuell gleichzeitig als Symbol wie als Operationsbasis. Während der letzten Woche haben verschiedene im Kampf befindliche Sektoren an den Aktivitäten auf unserem „Tahrir-Platz“ in Barcelona teilgenommen, darunter Kollektive, die für das Recht auf eine angemessene Wohnung kämpfen, Familien, die von Räumung bedroht sind, Arbeiter­Innen von Telefonica, die gegen die Entlassung von 6000 Beschäftigten kämpfen, und Student­Innen und Beschäftigte der Universitäten, die gegen die Verschlechterungen im Bildungsbereich protestieren. (…)

Der heutige Tag war entscheidend, um neue Energie zu gewinnen, neue Solidarität aufzubauen und die Motivation der „Empörten“ zu verdoppeln. Und jetzt muss kollektiv und strategisch über den nächsten Schritt nachgedacht werden.

Sonntag, 12.6.2011: Vier Wochen sind vergangen, vier Wochen, die politische und soziale Landschaft von ganz Spanien durch den Ausbruch einer Bewegung verändert haben, die niemand erwartet hatte und die bereits ihre ersten Siege errungen hat. Vor allem aber hat sie der Passivität und Resignation angesichts der Angriffe auf die sozialen Rechte ein Ende gesetzt. Nach intensiven Tagen der Aktivität macht sich eine gewisse Ermüdung und Erschöpfung breit. Die Zeit der Camps neigt sich dem Ende zu. Camps und Platzbesetzungen sind kein Selbstzweck. Sie stellten gleichzeitig Bezugspunkt und Operationsbasis dar. (…)

Die Herausforderung besteht jetzt darin, in eine neue Phase einzutreten und den Schwung der Camps für den nächsten Schritt zu nutzen. Das Zentrum der Aktivitäten muss sich verschieben. Der erste Schritt waren die Mobilisierungen vom 11. Juni in vielen Städten anlässlich der Wahlen und die vom 9. Juni in Valencia gegen die neue autonome Rechtsregierung. (…)

Zentral wichtig sind zweitens die Aufrufe, am 14. und 15. Juni anlässlich der Sitzung des neugewählten Regionalparlamentes eine Blockade durchzuführen. Dort soll im Plenum über den Haushalt diskutiert werden. Das kann eine entscheidender Moment für den Kampf gegen die sozialen Kürzungen, insbesondere im Bereich Gesundheit und Bildung, werden und gleichzeitig ein Bezugspunkt für zukünftige Mobilisierungen in anderen autonomen Regionen, in denen auch schon Kürzungen für den kommenden Herbst angekündigt wurden.

Und drittens ist es notwendig, die spanienweiten Demonstrationen am 19. Juni vorzubereiten, deren zentrales Motto, vorgeschlagen vom Camp in Barcelona, lautet: „Die Straße gehört uns: Wir zahlen nicht für Eure Krise!“ Die Herausforderung wird sein, zeigen zu können, dass sich die Bewegung sozial und politisch  im Vergleich zum 15. Mai verbreitert hat. (…)

Aber über die unmittelbaren Mobilisierungen der nächsten Woche hinaus muss ein Plan für die nächste Etappe festgelegt werden. (…)
Was in den nächsten Monaten geschehen muss, ist klar:

Die Verwurzelung der Bewegung muss in der Fläche verbreitert werden, die lokalen Versammlungen müssen gestärkt und stabile Koordinationsmechanismen etabliert werden. Es müssen Formen gesucht werden, um lokale Verankerung und einheitliche Aktionen zu kombinieren, ohne sich in der Zielbestimmung zu verzetteln. Der Vorschlag eines „sozialen Ratschlags“, der von Aktivist­Innen der Plaza Catalunya ins Spiel gebracht wurde, könnte, neben anderen Initiativen, dazu dienen.

Zweitens muss der Schulterschluss mit den Arbeiter­Innen, mit den kämpfenden Sektoren und den kämpferischen Gewerkschaftsgliederungen gesucht und auf diese Weise der Druck auf die großen Gewerkschaften aufrechterhalten werden, die durch einen Wandel des politischen und sozialen Panoramas, den sie nicht vorhersahen, völlig desorientiert sind. Die Herausforderung besteht darin, die Empörung in die Arbeitsstellen zu tragen, wo derzeit noch Furcht und Resignation vorherrschen.

Drittens muss der Protesttag am 15. Oktober vorbereitet werden, als einigendes Datum für die Mobilisierungen, und gleichzeitig muss versucht werden, ihn in einen globalen Aktionstag zu verwandeln und damit in ein Moment der Internationalisierung der Bewegung.
Und viertens muss der Aufbau einer „generalistischen“ Bewegung, der „Bewegung der Empörten“, die eine umfassende Kritik am aktuellen ökonomischen und politischen Modell übt, verbunden werden mit konkreten Aktionen gegen die sozialen Kürzungen und gegen eine Politik, die die Kosten der Krise auf die Arbeiter­Innen abwälzen will.

Eine Etappe ist vorbei, eine neue beginnt. Ohne dass wir es wahrgenommen haben, haben wir eine Bewegung vor uns, deren Möglichkeiten wir gerade erst entdecken.

Mittwoch, 15.6.2011: Der 15. Ju
ni war einer von den Tagen, die mehr als andere bedeuten. Er markiert zweifellos einen Wendepunkt der Bewegung, die am 15. Mai begann, mit unvorhersehbarem Ausgang. (…)

An diesem 15. Juni beschloss die Bewegung, Gas zu geben. Das Resultat war eine massive Aktion zivilen Ungehorsams, wie es sie in Barcelona nie gegeben hatte. Die Bilanz der Mobilisierung ließ keine Zweifel offen: Das Thema des Tages konnte über eine Blockade bestimmen werden. So verschafften sich die Protestierenden Gehör.  Der Ciutadella-Park, wo das katalanische Parlament seinen Sitz hat, wurde von der Regierung für zwei Tage geschlossen. Die Parlamentssitzung wurde substantiell beeinflusst. Der Präsident der Autonomieregierung musste nach mehreren gescheiterten Versuchen, im Auto hinzugelangen, im Helikopter einfliegen, ebenso wie einige andere Abgeordnete. Die Sitzung begann spät und änderte die Tagesordnung. Eine große Gruppe von Parlamentariern musste, weil sie nicht durchkamen, in einem Polizeitransporter zum Parlament gebracht werden, und zwar durch den Zoo, der neben dem Parlament liegt – was für eine Metapher! (…)

Die Grünen und Izquierda Unida (Vereinigte Linke – von der KP Spaniens dominiertes Wahlbündnis) spielten eine erbärmliche Rolle. Sie kritisierten die Bewegung scharf und unterzeichneten ein Allparteienstatement der Abgeordneten gegen die Demonstrant­Innen. Der spanische Ministerpräsident Zapatero und der katalanische Regierungschef kritisierten die Bewegung ebenfalls scharf. (…)
Diese Angriffe vermischten mehr oder weniger absichtlich zwei Argumente: Die Mobilisierung sei illegitim und sei undemokratisch, und sie sei von gewalttätigem Charakter. Beide Argumente sind schwach.

Das demagogische Argument, dass der Protest ein „Kidnapping des Parlaments“ und eine „Attacke gegen die Demokratie“ darstelle, ist unakzeptabel. Es sind nicht die Demonstrant­Innen, die das Parlament „gekidnappt“ haben, sondern die ökonomisch und finanziell Mächtigen: Es sind die Interessen des big business, die dazu geführt haben. Und es muss gesagt werden: dies geschah ohne wesentlichen Widerstand seitens der „ehrenwerten“ Parlamentsmitglieder. Sie sind Gefangene und leiden offensichtlich an einem „Stockholm-Syndrom“ im Verhältnis zu den ökonomisch Mächtigen. (…)

Und was die Gewalt betrifft, so waren die Proteste, abgesehen von einigen isolierten Randerscheinungen, entgegen den Darstellungen in den Medien von wenig Gewalt geprägt. Die erheblich schlimmere Gewalt ging von der Polizei aus und hinterließ 40 Verletzte, von den Verhaftungen und Drohungen nicht zu reden. (…)
„Normalität“ war der Fetisch, den die Gegner­Innen der Mobilisierung hochhielten: „Wir müssen die demokratische Normalität wiederherstellen“, schrien die Autoritäten und die Medien unisono. Welche „Normalität“, möchten wir fragen? Die von fünf Millionen Arbeitslosen? Von Tausenden von Entlassungen monatlich? Die der Immunität korrupter Politiker­Innen? Die der neoliberalen Dampfwalze, die Krise als Vorwand für die  die Unterminierung der sozialen Rechte nutzt? Es ist exakt diese falsche „Normalität“, die die Bewegung des 15. Mai in Frage stellt.

Sonntag, 19.6.2011: Der 19. Juni war der entscheidende Test für die Bewegung, die am 15. Mai begonnen hatte. Das erste Ziel war es, die Sympathie der Bevölkerung, die die Bewegung in den letzten Wochen genoss, in die Mobilisierung auf der Straße zu übersetzen. Nach der Aktion vor dem katalanischen Parlament am 15. Juni handelte es sich bei der Aktion am 19.6. zweifellos um eine Kraftprobe mit den Feinden der Bewegung. Nach dem 15. Juni sah diese sich in einen Streit um ihre Legitimität verstrickt und musste Muskeln zeigen, mittels einer Massenmobilisierung, die alle Zweifel beseitigen sollte.

Das Ergebnis bedarf keiner Kommentierung. Man braucht sich nicht um Zahlen zu streiten – am 19. Juni gingen Hunderttausende auf die Straße. 150 000 waren es in Madrid, 275 000 in Barcelona, die das Zentrum der Stadt kollabieren ließen. Und so war es in mehr als 50 spanischen Städten.

Der Ton und das Klima der Kundgebungen war geprägt durch eine Mischung aus festlicher und fröhlicher Atmosphäre und Radikalität der Forderungen. „Die Straße gehört uns“, „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ waren das Motto in Barcelona, gefolgt von drei weiteren Slogans: „Schluss mit den Kürzungen“, „Felip Puig (Innenminister von Katalonien) – Rücktritt“ und „Für einen Generalstreik aller all überall“. (…)
Der 19. Juni bedeutete die quantitative wie qualitative Ausweitung der Bewegung im Vergleich zum 15. Mai. In einem Monat hat sich die Basis verbreitert, sozial und altersmäßig diversifiziert und sozial und flächenmäßig verankert.  (…)

Wenn in Katalonien nach dem 15. Juni, unter dem Feuer der Medien, einige soziale Sektoren, die mit der Bewegung sympathisierten, vielleicht meinten, dass sie „zu weit gegangen“ seien und man „das so nicht tun solle“, so schloss sich die Mehrheit davon doch erneut in den folgenden Tagen der Bewegung an. Es ist offensichtlich, dass sich die konservative katalanische Regierung erneut schwer verkalkuliert hat mit ihrer Taktik, und die brutalen Attacken gegen die Bewegung von einem großen Teil der öffentlichen Meinung als exzessiv wahrgenommen wurde. (…)
In diesem Szenario begann ein Teil der gemäßigten katalanischen Linken, die am 15. Juni eine beklagenswerte Rolle gespielt hatte, als sie sich gegen die Bewegung stellte und mit der Rechten paktierte, zu verstehen, dass es bei den Aktionen am 19. Juni nicht nur um die Glaubwürdigkeit und die Zukunft der Bewegung ging. Bei einem Fehlschlag wäre zwar die parlamentarische Linke eine ihr unbequeme Bewegung losgeworden, aber zugunsten der Rechtsregierung. Folglich zeigten plötzlich Parteien wie die katalanischen Grünen in diskreter Form ihre Unterstützung und ebenso taten es in indirekter Form einige der der parlamentarischen Linken nahestehenden Medien. Auch die ­großen Gewerkschaften – Comisiones Obreras (CCOO) und Union General de Trabajadores (UGT) riefen zur Teilnahme an den Aktionen auf. (…)

Wie weiter? Die Bewegung ist aufgerufen, ihre Wurzeln auszubreiten, lokale Versammlungen zu etablieren und stärkere organisatorische Mechanismen zu schaffen. Sie braucht außerdem Verbindungen mit der Arbeiter­Innenklasse, mit im Kampf befindlichen Sektoren und aktiven Gewerkschafter­Innen, und sie muss den Druck auf die großen Gewerkschaften aufrechterhalten, die von einem Wandel der sozialen und politischen Situation überrascht wurden, den sie nicht vorausgesehen hatten. Und es müssen konkrete Siege erzielt werden. Die Verhinderung einiger Zwangsräumungen, wie klein und defensiv auch diese Erfolge sein mögen, zeigt den Weg und bringt neue Energie. Es steht, allgemeiner gesagt, die Bewegung vor der Herausforderung, ihren Charakter, ihre Kritik an dem derzeitigen globalen Wirtschaftsmodell und der politischen Klasse mit der Stärkung konkreter Kämpfe gegen die Kürzungen und gegen eine Politik, die die Kosten der Krise auf die abwälzt, die sich das am Wenigsten leisten können, zu verbinden.

Übersetzung und Bearbeitung: Thadeus Pato

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