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Länder

Massenhafter Widerstand auf dem Syntagma-Platz

Von Andreas Kloke | 01.07.2011

Der soziale Widerstand gegen die Politik des „Memorandums“ in Griechenland ist in eine neue, möglicherweise entscheidende Phase getreten.

Der soziale Widerstand gegen die Politik des „Memorandums“ in Griechenland ist in eine neue, möglicherweise entscheidende Phase getreten.

Das „Memorandum“ wurde dem Land seit Beginn des letzten Jahres von der „Troika“ aufgezwungen – einer Art Komitee der herrschenden Klassen der wichtigsten Staaten der EU und der USA, vertreten durch die Brüsseler Kommission, die EZB und den IWF, im Zusammenwirken mit der „sozialistischen“ PASOK-Regierung. Es bedeutet nichts anderes als die rücksichtslose Ausplünderung der arbeitenden Bevölkerung und ihre beispiellose Degradierung, vor allem der jungen Menschen, der berufstätigen Frauen und aller anderen sozial benachteiligten Schichten, zugunsten der Rettung der horrenden Profite griechischer, deutscher, französischer und anderer Banken. Es wird aber von den Regierungen und den einschlägigen Massenmedien propagandistisch als „Rettung Griechenlands“ durch die „Gewährung großzügiger Kredite“ verkauft.
Gleichzeitig ist allerdings klar geworden, dass als Folgeerscheinung des verheerenden Bankrotts des weltweiten Banken- und Kreditsystems 2008, das von den Regierungen Nordamerikas und Westeuropas mit 15 Billionen Dollar „gestützt“ werden musste, das Funktionieren der Finanzierungsmechanismen in der EU auf dem Spiel steht. Denn diese Maßnahmen, die einer weltweiten und historisch einmaligen Umverteilung von unten nach oben gleichkommen, haben eine Staatsschuldenkrise der Länder der europäischen Peripherie (Island, Irland, Portugal, Spanien und vor allem Griechenland) ausgelöst und damit die Stabilität und sogar die Existenz des Euro akut gefährdet. Dies bedroht auch den Dollar, der von der Überbewertung des Euros abhängig ist.

Es kann daher nicht verwundern, dass Präsident Obama bei seinem jüngsten Treffen mit Frau Merkel besonders auf die drohenden Gefahren eines möglichen griechischen „Staatsbankrotts“ hingewiesen hat. Er würde nämlich bedeuten, dass sich Griechenland außerstande sähe oder eventuell auch weigern (!) würde, seine Auslandsschulden weiter abzuzahlen. Obama bezeichnete die Schulden Griechenlands als „schwerwiegend“ und betonte, sicher zu Recht, die besondere Rolle Deutschlands bei der europäisch-internationalen „Hilfe zur Herausbildung eines vorwärts gerichteten Prozesses“, der es Griechenland ermöglichen soll, „ein Wachstum zu erzielen und sein Schuldenproblem besser in den Griff zu bekommen“.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass die Gewährung der internationalen „Rettungspakete“ zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit Griechenlands in diametralem Gegensatz zur Wahrung einer halbwegs menschenwürdigen Existenz für die arbeitende und große Masse der griechischen Bevölkerung steht. Anders gesagt: Die Kredite der Troika sind an Bedingungen geknüpft, die zu einem gnadenlosen Aderlass zulasten von rund 85 % der Bevölkerung und zu einem dramatischen Absturz der allgemeinen Lebensverhältnisse führen und keinerlei Aussicht darauf eröffnen, dass sich die Situation in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wieder verbessern könnte. Z. B. wird Griechenland niemals in der Lage sein, die Zinsen und Zinseszinsen für die erhaltenen Kredite zurückzuzahlen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich diese Konstellation und alle ihre klar absehbaren Folgen trotz aller propagandistischen Verdrehungen, Drohungen und Einschüchterungs- und Erpressungsmanöver seitens der Herrschenden, ihrer Regierungen und der dazugehörigen Massenmedien nicht mehr verbergen lassen. Die Zustimmung der betroffenen Menschen zu der betriebenen Politik ist auf einen einmaligen und ungeahnten Tiefpunkt gesunken. Da nützt es auch nichts mehr, wenn Frau Merkel für den Fall eines griechischen Staatsbankrotts den deutschen Aufschwung gefährdet sieht und CDU-Mann Kauder mehr Opfer von der griechischen Bevölkerung fordert (siehe Spiegel-Online vom 11.6.).

In der Erkenntnis, dass es in Wirklichkeit kaum noch etwas oder nichts mehr zu verlieren gibt – und inspiriert von der erfolgreichen ersten Etappe der ägyptischen Revolution, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz von Kairo, und zuletzt den Besetzungen zentraler Plätze in Madrid und Barcelona durch revoltierende junge Leute –, hat der massenhafte Widerstand in Griechenland einen neuen Aufschwung erfahren. Es kam zu einer Dauerbesetzung des Syntagma-Platzes von Athen, direkt dem Parlament gegenüber sowie Besetzungen von zentralen Plätzen in Saloniki und vielen anderen griechischen Städten, womit eine neue Qualität erreicht wurde. Dies war nach vielen verschiedenen Anläufen in den vergangenen 18 Monaten, einer Reihe von Generalstreiks und vielen hartnäckigen Streiks in vielen betroffenen Bereichen, wie den öffentlichen Verkehrsmitteln, dringend erforderlich. Im vergangenen und in diesem Jahr hatten die Streiks zwar das Ansehen der Regierung gegen null tendieren lassen, aber Regierung und Troika nicht zum Rückzug zwingen können.

Vorboten dieser neuen Welle von Massenradikalisierung waren u. a. ein monatelanger regelrechter Aufstand in Keratea, einer Kleinstadt südöstlich von Athen, gegen die Einrichtung einer Mülldeponie, der auch vom Massenaufgebot von Polizei-Sonderkommandos und deren brutalen Knüppeleinsätzen nicht gebrochen werden konnte, und ein erfolgreicher Hungerstreik von 300 „illegalen“ Immigranten aus Nordafrika im März und April, der zwar marginalisiert blieb, aber dennoch zeigte, dass es auch gegen die Diktate des Memorandums geeignete Kampfmaßnahmen gibt.
Eine neue Dimension des Widerstands
Kennzeichnend für diese neue Form des Massenwiderstands ist, dass Hunderttausende von Menschen, die bisher nicht bereit waren, sich an Kampfaktionen zu beteiligen, nun aufgewacht sind und die Besetzungen aktiv unterstützen und damit ihre Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, die Regierung und die Politik des Memorandums zu Fall zu bringen. Bis dahin waren diese Menschen größtenteils von den verschiedenen Parteien oder Bündnisformationen der reformistischen (KKE, SYN/SYRIZA) oder antikapitalistisch-revolutionären Linken (vor allem ANTARSYA) aus verschiedenen und zumindest teilweise verständlichen Gründen kaum zu erreichen gewesen.

Hauptlosungen der neuen Bewegung sind die Ersetzung der vorherrschenden Pseudo- oder betrügerischen Demokratie durch eine wahre, direkte Demokratie, in der die betroffene Mehrheit der Bevölkerung ihre Forderungen und Bedürfnisse vorbringen und umsetzen kann.
Dies grenzt sich schroff vom praktizierten politischen Modell ab, wo die Macht im Namen des Volkes, aber ohne dessen Einverständnis oder Beteiligung ausgeübt wird. Parallel dazu bewegen sich die Umfragewerte für die regierende PASOK, aber auch die rechtsbürgerliche Nea Dimokratia (ND) immer weiter nach unten. Es schwindet damit zunehmend die Legitimierung der bisherigen Träger der bürgerlichen Demokratie des Landes. Der bislang begrenzte, aber klare und unmissverständliche Inhalt der Forderungen wi
rd in der Formel auf den Punkt gebracht: „Wir schulden nichts, wir verkaufen nicht, wir bezahlen nicht!“
Bewegung auf dem Syntagma-Platz
Die Bewegung begann mit der Besetzung des Syntagma-Platzes am 25. Mai und erreichte am 5. Juni mit der Beteiligung von geschätzten 500 000 Protestierenden einen ersten Höhepunkt. Aufgrund der Breite der Bewegung sind eine gewisse Heterogenität sowie eine ideologische und politische Unbestimmtheit vorläufig unvermeidlich. Die Teilnehmer/innen wandten sich von Beginn an gegen das Auftreten von Parteien, politischen Organisationen und Gewerkschaften und bestanden auf dem Prinzip, dass jede/r nur sich selbst repräsentiert. Darin kommt ein starkes Misstrauen gegenüber den Parteiführungen auch der beiden linken Parteien, dem immer noch vorherrschenden Sektierertum der linksradikalen Organisationen und eine klare Ablehnung der hoffnungslosen Bürokratisierung der meisten Gewerkschaften vor allem durch PASOK-Funktionäre zum Ausdruck. Vereinzelt tragen Protestierende auf dem „oberen“ Teil des Platzes auch griechische Nationalfahnen, wodurch sie ihre Auffassung von nationaler Souveränität vorzubringen versuchen. Der „obere Teil“ ist generell der weniger „politisierte“, von der Linken am wenigsten beeinflusste, in dem sich offenbar meist erstmals Protestierende zusammenfinden.

Der politisch „härtere Kern“ der Bewegung hat sich mit Zelten auf dem unteren Teil des Platzes dauerhaft eingerichtet und ist der eigentliche Motor der Proteste. Jeden Abend gegen 21 Uhr finden dort „Volksversammlungen“ statt, in denen alle wichtigen Themen, Forderungen, inhaltlichen und organisatorischen Vorschläge, Stellungnahmen und Aufrufe diskutiert und teilweise abgestimmt werden. Alle Beschlüsse werden dann auf der entsprechenden Website veröffentlicht. Zusammenfassend programmatischen Charakter hat der Beschluss vom 2. Juni. 
An diesen Versammlungen nehmen rund 3000 junge Menschen teil, die meisten von ihnen wohl Studierende. Gestützt wird diese Form der Organisierung durch verschiedene Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen wie Arbeitslosigkeit, Erziehung, Schulen und Kultur sowie durch Foren und öffentliche Podiumsdiskussionen z. B. zum Thema Schuldenkrise und mögliche Auswege aus ihr. Die jungen Teilnehmer/innen sind teilweise Mitglieder des Spektrums fast aller linker Parteien und Organisationen mit Ausnahme der griechischen KP, die sich grundsätzlich nur an Aktionen beteiligt, die von der Parteiführung direkt kontrolliert werden. Die meisten jungen Protestierenden sind aber vermutlich unorganisiert.

Einige Stellungnahmen von Kommentatoren auch aus den Reihen der antikapitalistischen und revolutionären Linken über den Charakter der neuen Bewegung, ihre Chancen und teilweise offenkundigen Schwächen und ihre Perspektiven liegen bereits vor. Allgemein besteht Übereinstimmung darin, dass es sich um eine historisch einmalige Gelegenheit handelt, der Politik des Memorandums, der Regierung und dem Terror der herrschenden Klassen einen schweren, womöglich entscheidenden Schlag zu versetzen. Einigkeit besteht auch darin, dass sich Griechenland kurz vor einer sozialen Explosion befindet. Wenn als Kriterium dafür gilt, was ein Revolutionär des vorigen Jahrhunderts so formuliert hat, dass „die Herrschenden nicht mehr weiter regieren können wie bisher und die Beherrschten nicht mehr weiter so regiert werden wollen“, dann ist das eine zutreffende Beschreibung der in Griechenland entstandenen Situation.
Vor entscheidenden Kraftproben
Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass die Bewegung noch einige Entwicklungsphasen zu durchlaufen hat, um zu voller Wirksamkeit zu gelangen. Der Kampf muss in alle zentralen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens getragen werden, in die Betriebe, die Büros der öffentlichen Verwaltung, die Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, die von dem schändlichen „Mittelfristigen Programm“, dem Memorandum Nr. 2, das am Mittwoch, dem 15.6., nach dem Willen der Troika im Parlament abzusegnen war, am stärksten betroffen sein werden.

Der systematische Abbau von Arbeitsplätzen, die Auflösung der Tarifverträge, die Annullierung der Errungenschaften eines Jahrhunderts der Kämpfe der Arbeiter/innen-Bewegung, der Privatisierungswahn und der Ausverkauf des Staatseigentums müssen gestoppt werden. Notwendig ist vor allem eine inhaltlich-programmatische Präzisierung der Zielsetzung der Bewegung, was nur im Rahmen einer Übergangsprogrammatik zur Überwindung der Herrschaft des Finanz- und Großkapitals möglich sein wird. Hier spielt die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung der Banken unter Arbeiter/innen-Kontrolle eine Schlüsselrolle.

All dies wird sich nur durch eine Verbindung der neuen Bewegung mit der gewerkschaftlichen Basisbewegung der letzten 18 Monate herauskristallisieren können. Die Bewegung braucht eine klare antikapitalistische Perspektive und auch eine Strategie, um siegen zu können. Auch die Machtfrage stellt sich. Wie soll es weitergehen, sollte die Regierung tatsächlich zum Rücktritt gezwungen werden?
In diesen Tagen stehen allerdings die unmittelbare Kampfperspektive, die Verhinderung und die Rücknahme des „Mittelfristigen Programms“, im Vordergrund. Am Mittwoch, den 15.6., ist Generalstreik und die „Volksversammlung“ des Syntagma-Platzes vom 11.6. hat dazu aufgerufen, den ganzen Tag lang die Zufahrtswege zum Parlament zu blockieren.

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich Griechenland in einer kritischen Phase des Klassenkriegs befindet, der der arbeitenden Bevölkerung und allen Benachteiligten und Unterdrückten letztes Jahr mit dem „Memorandum Nr.1“ erklärt worden ist.
Es ist klar, dass dieser Kampf die bestmögliche Unterstützung und Solidarität der ganzen Welt, besonders aber Europas und vor allem Deutschlands, braucht. Gerade die Herrschenden in Deutschland, ihre Regierung und die bekannten Massenmedien haben dabei die schlimmste – auch ausgesprochen rassistische – Rolle gespielt, die griechische Bevölkerung für die Schuldenkrise und die Krise des Euro verantwortlich zu machen. Noch kürzlich meinte sich Frau Merkel in der deutschen Provinz damit hervortun zu müssen, von den griechischen Arbeitenden weniger Ferien und mehr Arbeitsjahre zu fordern.

Alle fortschrittlichen Menschen in Deutschland und Europa, alle, für die Freiheit, Gleichheit, die sozialen Rechte und Solidarität keine leeren Worthülsen darstellen, für die die Wahrung und Herstellung einer menschenwürdigen Existenz für alle in ganz Europa und letztlich weltweit eine notwendige Zielsetzung darstellen, sind aufgerufen, den Kampf der griechischen Bevölkerung solidarisch zu unterstützen. Unser Kampf hier in Griechenland ist ein Kampf auch für die sozialen Rechte, Gleichheit, Gerechtigkeit und wahre Demokratie in ganz Europa, auch in Deutschland!

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