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Länder

Griechenland: Generalstreik und Belagerung des Parlaments

Von Andreas Kloke | 01.07.2011

Wenige Tage vor dem 15.6. wurde bekannt, dass die Regierung die Abstimmung über das „Mittelfristige Programm“, das Memorandum Nr. 2, auf den 28. Juni verschoben hat. Daraufhin beschlossen die Protestierenden des Syntagma-Platzes, den 15. zu einer „Generalprobe“ für den 28. zu erklären und zu einer ersten Abriegelung des Parlaments aufzurufen.

Wenige Tage vor dem 15.6. wurde bekannt, dass die Regierung die Abstimmung über das „Mittelfristige Programm“, das Memorandum Nr. 2, auf den 28. Juni verschoben hat. Daraufhin beschlossen die Protestierenden des Syntagma-Platzes, den 15. zu einer „Generalprobe“ für den 28. zu erklären und zu einer ersten Abriegelung des Parlaments aufzurufen.

Am frühen Morgen begannen die Protestierenden, sich an den vereinbarten drei Punkten rund um das griechische Parlament zu versammeln, Zehntausende von ihnen auf dem Syntagma-Platz, einige Hunderte an der U-Bahn-Station „Evangelismos“ und eine größere Anzahl entlang der am Panathinaikos-Stadion vorbeiführende Straße. Dort wurde aber auch ein Großteil der 12 000 eingesetzten Polizisten aufgeboten, um die Zufahrt zum Parlament aus dieser Richtung frei zu halten. Zwar erhöhte sich im Laufe des Vormittags die Zahl der Demonstrierenden an diesem Punkt ständig, aber die Polizei ging von Beginn an zu Verhaftungen über. Durch das massive Polizeiaufgebot konnte das erklärte Ziel, das Parlament von allen Seiten abzuriegeln, nicht verwirklicht werden.

Gleichzeitig starteten anlässlich des Generalstreiks an anderen Plätzen der Stadt – am Aris-Feld, am Nationalmuseum und am Omonia-Platz – die Demonstrationszüge der drei politisch getrennten Gewerkschaftsabteilungen. Der erste war von den offiziellen Verbänden GSEE/ADEDY, der zweite von den sich von der PASOK-Bürokratie abgrenzenden Basisverbänden der radikalen Linken und der dritte, wie üblich von PAME organisiert, der von der KKE (der Kommunistischen Partei Griechenlands) gesteuerten Bündnisformation. Alle drei Blocks waren massenhaft, was insofern überraschte, als der GSEE/ADEDY-Block zum ersten Mal seit Jahren eine bedeutende Zahl von TeilnehmerInnen mobilisierte. Die Demonstrationszüge zogen zum Syntagma-Platz, der von PAME stellte sich allerdings in einer gewissen Entfernung vom Platz auf, um sich – wie immer – von allen anderen Demonstrierenden fernzuhalten.

Der Syntagma-Platz und die umlegenden Straßen füllten sich so mit mehr als hunderttausend Menschen. Auch in allen anderen größeren Städten entwickelten sich massenhafte Protestzüge und Aktionen. Es war damit der vielleicht größte, aber in jedem Fall der wichtigste Protesttag der letzten Jahre. Wie ein Bericht der Zeitung Eleftherotypia anmerkt, hatten seit 11 Uhr „Ströme von Wut das Athener Zentrum überflutet.“ Die Aktionen verliefen seitens der Protestierenden absolut friedlich, bis kurz nach 13.00 Uhr, dem gleichen Bericht zufolge, „die Sonderkommandos der Polizei (MAT) es in schönster Zusammenarbeit mit einigen Hundert Unruhestiftern, den bekannten Kapuzenträgern, schafften, den größten Teil der Protestaktion auf dem Syntagma-Platz durch gewaltsame Zusammenstöße, Straßenkämpfe und den wahllosen Einsatz von Tränengas-Chemiekeulen vorläufig aufzulösen.“ Ob es sich bei den Randalierern um völlig fehlgeleitete Mitglieder schwarzer Blocks oder bezahlte Polizeispitzel handelte, ist eher zweitrangig, da das Resultat auf dasselbe hinausläuft. Den Knüppelgarden der Polizei wurde der Vorwand geliefert, den Syntagma-Platz sozusagen auszuräuchern und die Protestierenden Schritt für Schritt zu vertreiben. Der erste Block, der sich auflöste und von der Bildfläche verschwand, als die ersten Knallgeräusche zu hören waren, war der von PAME.

Die Polizeitaktik beschränkt sich allerdings nicht nur auf Einschüchterung und selektiv-wahllose und oft brutale Festnahmen und Verhaftungen – an diesem Tag insgesamt 40 –, sondern es ist tatsächlich nicht mehr möglich, auf dem Platz ohne Gasmaske zu atmen. Auf diese Weise werden seit vielen Jahren Zigtausende von Menschen davon abgehalten, an Demonstrationen teilzunehmen. Damit schien, wie üblich, die Taktik von Regierung und Polizei aufgegangen und nebenbei auch, durch die Zerstörung der Zelte der DauerbesetzerInnen, die Räumung des Syntagma-Platzes erreicht worden zu sein.

Diesmal aber kam es anders: Nachdem sich die ersten Rauchschwaden verzogen hatten, kehrten die Protestierenden am Nachmittag zu Zehntausenden auf den Platz zurück, säuberten ihn von den abgeschossenen Chemiepatronen und den herumliegenden Trümmern und feierten die Rückeroberung des Platzes mit einem spontan organisierten Konzert, an dem viele bekannte Musiker teilnahmen. Insgesamt hatte die Widerstandsbewegung damit einen symbolischen, aber psychologisch wichtigen Sieg errungen. Es ist damit klar, dass die Auseinandersetzung in die nächste Runde geht, bis am 28. Juni über das „Mittelfristige Programm“ abgestimmt werden soll.
Ein vorübergehend verwirrter Regierungschef
Der 15. 6. war für die Regierung und alle UnterstützerInnen und Sachwalter der Memorandum-Politik kein guter Tag. Schon am Tag zuvor hatte sich ein PASOK-Abgeordneter von der Regierungspolitik distanziert und war aus der Parlamentsfraktion ausgetreten. Die Mehrheit der Regierungspartei beginnt damit, bedrohlich zu schrumpfen. Auch für die Abgeordneten wird das Leben langsam ungemütlich, da sich niemand von ihnen mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen kann, ohne wütende Reaktionen und eventuell physische Attacken zu provozieren.
Nicht vorherzusehen war aber die Panik, von der Premierminister G. Papandreou selbst ergriffen wurde. Offenbar stand er ganz unter dem Eindruck der Proteste und der schwierigen Situation in den Reihen der PASOK-Abgeordneten, ganz abgesehen von der unvermeidlichen Erkenntnis, dass die seit 18 Monaten betriebene Politik des Memorandums sogar im Sinn der von ihr gesetzten Zielvorgaben total gescheitert ist, da Griechenland nicht nur sozial und ökonomisch ruiniert wird (und teilweise schon ist), sondern sich auch das Schuldenproblem selbst als unlösbar herausgestellt hat.

PASOK ist bei den Wahlen von 2009 mit den Slogans „Geld ist genug vorhanden“ und „Für ein grünes Entwicklungsmodell“ an die Macht gekommen, die sich nur wenige Wochen nach dem Wahlsieg als kompletter Betrug herausstellten. In Wirklichkeit waren schon vor den Wahlen, im Sommer 2009, von den Spitzenpolitikern der damals noch regierenden „Nea Dimokratia“ (ND), aber auch von PASOK mit den EU-Verantwortlichen und dem IWF Verhandlungen über die Modalitäten der Anfang 2010 verkündeten Politik des Memorandums geführt worden.

Der Wahlkampf war offenbar ein abgekartetes Spiel mit dem Ziel, PASOK an die Macht zu bringen, da nur die Gewerkschaftsbürokraten von PASOK über den nötigen Einfluss in der Arbeiterbewegung verfügen, um die zu erwartenden Reaktionen und Streiks im Zaum zu halten und in geeigneter Weise zu kanalisieren. ND war in zahlreiche Skandale verwickelt und hatte in den Augen der großen Mehrheit der Bevölkerung abgewirtschaftet, auch wenn noch nicht bekannt war, dass in ihrer Regierungs
zeit (2004-09) das Land finanziell bereits endgültig und (dem Anschein nach unrettbar) in den Abgrund gestürzt war. Obwohl zu berücksichtigen ist, dass die Politik der vorhergehenden PASOK-Regierungen unter Simitis (1996-2004) sowie vor allem der offene Ausbruch der weltweiten kapitalistischen Krise von 2007-8 in die gleiche Richtung wirkten, bleibt festzuhalten, dass die ökonomische Bilanz der Regierungsjahre von ND im Wortsinn katastrophal war.

Papandreou war jedenfalls in der Mittagszeit des 15.6. zur Einschätzung gelangt, dass es so nicht mehr weitergehen kann, und rief den derzeitigen ND-Vorsitzenden Samaras an, um ihm eine Koalitionsregierung der beiden (bisher) großen Parteien anzubieten, wobei ein geeigneter Kandidat Premierminister werden sollte, er selbst also zurückträte. Samaras ging auch gleich auf dieses Angebot ein, und es fehlte nicht an dramatischen Wortkaskaden wie „notwendiger nationaler Konsens“, „extrem schwierige Situation, in der alle verantwortlichen demokratischen Kräfte zusammenstehen müssen“, „Zeit für einen Neubeginn über die Parteigrenzen hinweg“ usw. Auch der Vorsitzende der rechtsextremen LAOS-Partei von Karatzaferis und die ND-Abtrünnige D. Bakoyianni äußerten sich bereitwillig in diesem Sinn. Natürlich würde es jedem Regierungschef zur Ehre gereichen, würde er das Scheitern seiner Politik anerkennen, zurücktreten und z. B. Neuwahlen ausrufen. Ganz unerfindlich ist aber bei dieser von Papandreou vorgeschlagenen Lösung, was sich für das griechische Volk bei einer Koalition der beiden politisch bankrotten Parteien, die ihre Unfähigkeit, das Land aus der Krise zu führen, in der Praxis unter Beweis gestellt haben und es immer tiefer in sie hineingesteuert haben, zum Besseren wenden sollte. Zumal die bis dato betriebene Politik des Memorandums in jedem Fall auch die zukünftige sein soll.

Die Politposse fand damit ihr vorläufiges Ende, dass Papandreou es sich bis zum Abend anders überlegte und eine Erklärung abgab, in der er eine Kabinettsumbildung ankündigte, die am 17.6. durch die Vereidigung der neuen Minister umgesetzt wurde. Der Kernpunkt war, dass der bisherige Finanzminister, G. Papakonstantinou, der bislang „meistgehasste Mann Griechenlands“, zum Umweltminister (!) ernannt wurde und der bisherige Verteidigungsminister und frühere Rivale Papandreous um den PASOK-Parteivorsitz, V. Venizelos, den Schleudersitz des Finanzministers übernommen hat.

Man braucht kein großer Prophet zu sein, um dieser Regierung eine sehr kurze Amtszeit vorauszusagen. Wahrscheinlich wird es noch in diesem Jahr zu Neuwahlen und danach möglicherweise zu der jetzt noch vermiedenen Koalitionsregierung von PASOK und ND kommen. In keinem Fall wird sich an der derzeitigen Politik irgendetwas Grundsätzliches ändern. Olli Rehn von der EU-Kommission hat schon erklärt, Griechenland könne die nächste Tranche von 12 Mrd. Euro erhalten, falls das „Mittelfristige Programm“ im Athener Parlament befürwortet wird, und auch Sarkozy und Merkel scheinen sich in diesem Sinn verständigt zu haben. Die wirklich offene Frage bleibt nur, wie die derzeitige und alle zukünftigen griechischen Regierungen gegen den klaren Willen der eigenen Bevölkerungsmehrheit regieren können …
Die Linke und der soziale Widerstand
Aber auch die Widerstandsbewegung gegen die Memorandum-Politik steht trotz ihrer jüngsten und vielversprechenden Erfolge vor großen Problemen. Vor allem bleibt die Arbeiter/innen-Bewegung trotz der häufigen Generalstreiks gespalten und ist bislang zu schwach, um die Regierungspolitik zu Fall zu bringen. Das kann sich allerdings in relativ kurzer Zeit ändern und die Bewegung der Platzbesetzungen kann dabei eine wesentliche Hilfestellung leisten. Der größte Schwachpunkt ist die einfallslose und lahme Haltung der Führungen der beiden im Parlament vertretenen Linksparteien, von KKE (KPG) und Synaspismos (SYN). Beide sind zwar untereinander verfeindet –woran die KKE-Führung die Hauptschuld trägt – rufen aber zu Neuwahlen auf. Tatsächlich ist es kein Zufall, dass sich die hundertprozentig legalistische, auf den bürgerlichen Parlamentarismus fixierte Orientierung dieser beiden Parteien in dieser Forderung zusammenfassen lässt. Es ist ihre strategische Perspektive, auf mögliche Erfolge bei Wahlen zu spekulieren und darauf zu hoffen, sich irgendwann an Regierungskoalitionen beteiligen zu können, die als irgendwie „links“ dargestellt werden könnten.

Die KKE-Führung kaschiert ihre zutiefst reformistische Linie gewöhnlich mit links klingenden Phrasen. Die Parteivorsitzende Papariga erklärte am 16.6., Wahlen könnten einen „Riss im reaktionären und bürgerlichen politischen System hervorrufen“ und zu einer „schwachen Regierung“ führen. Gleichzeitig diffamierte sie in bewährter Manier die Bewegung der Platzbesetzungen, die „keine wirkliche Bewegung“ sei, da sich auf den Plätzen „nicht nur sozial Benachteiligte“, sondern auch andere befänden, die als Mitglieder von NGOs und möglicherweise in Zusammenarbeit mit der PASOK-Führung Scheinalternativen vorbereiteten, die der Verewigung der bestehenden Ordnung dienen könnten.
Die SYN-Führung dagegen nimmt die Bewegung der Platzbesetzungen als eine Art Hilfstruppe wahr, die beim Kampf für „Demokratie, soziale und politische Rechte und die Beendigung der derzeit verfolgten Politik“ die Rolle eines „Katalysators“ spielen könnte. Die SYN-Führung besteht aber darauf, dass „die Antwort durch die Bildung einer neuen Regierung und einer neuen Mehrheit, deren Kern die Kräfte der Linken darstellen, gegeben werden kann, damit sich das Land vom Memorandum befreien kann.“ (alle Zitate nach „Eleftherotypia“ vom 17.6.) Mit anderen Worten, das Ziel ist eine künftige Linksregierung, für die einige Kräfte, die sich derzeit von PASOK abwenden, und letztlich auch KKE, die unter dem Druck der Entwicklungen einen politischen Schwenk vollziehen müsste, gewonnen werden müssten. Dies alles vollzieht sich im parlamentarischen Rahmen und zu einer Zeit, in der immer breitere Schichten ihre Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus verlieren, was in den Entscheidungen der Volksversammlungen des Syntagma-Platzes und vieler anderer Plätze in Griechenland zum Ausdruck kommt.
In Wirklichkeit kommt es darauf an, den Aufschwung der Protestbewegung und den Generalstreik vom 15.6. dazu zu nutzen, um den sozialen Widerstand zu verbreitern und zu vertiefen. Ein eintägiger Generalstreik reicht aber nicht aus. Für die Tage vor dem 28.6. müsste zu einem Dauerstreik aufgerufen werden. Die antikapitalistische und revolutionäre Linke sowie die Basisgewerkschaften könnten hierbei eine wichtige Rolle spielen.

In der Entscheidung der Volksversammlung des Syntagma-Platzes vom 15.6. heißt es treffend: „Selbstverständlich bleiben wir auf den Plätzen, bis alle, die die gegenwärtige Sackgasse erzeugt haben, abtreten und nicht mit irgendeinem anderen Personal zurückkehren: IWF, Memoranden, Troika, EU, Regierungen, Banken und alle unsere Ausbeuter. (…) Die Manöver des politischen Systems und der Regierung können uns nicht täuschen. Wir führen keine Verhandlungen. Das Vertrauensvotum für die Regierung bedeutet Zustimmung zum Memorandum und zum ‚Mittelfristigen Programm‘. Für den Vortag des Vertr
auensvotums für die Regierung fordert die Volksversammlung des Syntagma-Platzes alle Einzelgewerkschaften, alle lokalen Gewerkschaftszentralen und die Gewerkschaftsverbände GSEE und ADEDY auf, für den Tag des Vertrauensvotums den Generalstreik zu erklären, mit allen arbeitenden Menschen das Parlament abzuriegeln und den Sturz der Regierung zu fordern. Wir alle müssen an diesem Tag auf die Straße gehen, um sie zu Fall zu bringen. Wir fordern alle Einzelgewerkschaften auf, zu wiederholten Streiks überzugehen. Jeden Tag zum Syntagma-Platz, jeden Abend zur Versammlung und am Sonntag, den 19.6., alle auf die Straße! – Solidarität mit den Verletzten und den Festgenommenen, deren sofortige Freilassung wir fordern!“

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