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Innenpolitik

Kapitalismus: Nicht kreditwürdig

Von Jakob Schäfer | 01.09.2011

Seit Anfang 2010 wollen uns die Herrschenden weismachen, die Eurokrise sei denjenigen geschuldet, die „über ihre Verhältnisse gelebt haben“. Jetzt müsse mensch sich der Spekulation gegen den Euro erwehren und vor allem die „Transfer­union“ verhindern.

Seit Anfang 2010 wollen uns die Herrschenden weismachen, die Eurokrise sei denjenigen geschuldet, die „über ihre Verhältnisse gelebt haben“. Jetzt müsse mensch sich der Spekulation gegen den Euro erwehren und vor allem die „Transfer­union“ verhindern.

Dabei wird mit jedem weiteren Land, das von der Staatsschuldenkrise gebeutelt wird, immer deutlicher, dass sich zurzeit die strukturelle Krise des Kapitalismus gravierend verschärft.

Dass die herrschenden Parteien und die Medien sich in Endlosschleifen darüber auslassen, mit welchen Krediten der griechische Staat vor dem Bankrott bewahrt werden soll, darf uns nicht den Blick auf die Ursache der Krise versperren. Sie liegt weder in der Faulheit der einen noch in der Spekulationsfreude der anderen. Sie ist vielmehr unvermeidliches Resultat der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
„Über die Verhältnisse“?
Aus mehreren Gründen muss die Propaganda der Herrschenden von der mangelnden Haushaltsdisziplin der hoch verschuldeten Länder zurückgewiesen werden. Nehmen wir nur den Fall Griechenland: Die dortige Wirtschaft ist Opfer des sich ständig vergrößernden Konkurrenzvorteils der deutschen Industrie, was im Wesentlichen zwei Ursachen hat: zum einen den technologischen Vorsprung, der aufgrund höherer Kapitalkonzentration eine bedeutend kostengünstigere Produktion ermöglicht; zum anderen die seit Jahren in Deutschland stagnierenden (im Schnitt sogar sinkenden) Reallöhne. Das schafft so große Handelsüberschüsse der deutschen Wirtschaft innerhalb des Euroraums (nicht zuletzt gegenüber Griechenland, Portugal und Spanien), dass diese Länder ihre Außenschuld mit ständig wachsenden Kreditaufnahmen begleichen müssen. Eine Abwertung der eigenen Währung ist seit der Bindung an den Euro ausgeschlossen. Die Zinszahlungen an die Banken erhöhen aber ständig die Gesamtschuld. Ein zwangsläufiger Teufelskreis.

Zum Zweiten ist die dramatische Zuspitzung der Haushaltskrise in diesen Ländern eine direkte Folge der Bankenrettungspolitik der Jahre 2008-2009. So hat z. B. der irische Staat der Anglo Irish Bank 23,3 Mrd. € gepumpt, im Jahr 2010 waren es 50 Mrd., das ist 1/3 des irischen BIP. In der EU wurden 230 Mrd. € zur Rekapitalisierung der Banken ausgegeben, das sind immerhin satte 2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In den USA kostete allein das Troubled Asset Relief Programme (TARP) 700 Mrd. $. Parallel dazu hat die US-Notenbank („Fed.“) 2500 Mrd. $ zu 0 % Zinsen (!) an die Banken verliehen.

So wurden nicht die Verursacher­Innen der Krise und die Profiteur­Innen der neoliberalen Politik zur Kasse gebeten, sondern die Staatshaushalte. Deren Defizite machten in der Folge einen gewaltigen Sprung. Damit einhergehend stieg dann auch die Gesamtverschuldung dieser Staaten (siehe Grafiken).

Seit Anfang 2011 ist Japan mit 229 % des BIP verschuldet und nur deswegen nicht im Fokus der internationalen Krisenpolitik, weil die Gläubiger­Innen hauptsächlich inländische Banken sind. Bei den USA ist es das etwas anders: Fast ein Drittel der US-Staatsschulden wird im Ausland gehalten (Hauptgläubiger ist China).

Seit dem Frühjahr 2011 ist es für die USA dramatisch geworden: Mitte Mai betrug die Verschuldung 14,294 Billionen $ (96 %  des BIP), mit den Beschlüssen vom 2. August wird sie auf 98 % des BIP von 2010 steigen und 2012 laut IWF auf 103 % (2007 waren es mit den Haushalten der Einzelstaaten zusammengenommen noch 64,4 %). Und nehmen wir auch für die BRD die Schulden von Ländern und Gemeinden hinzu, dann kommen wir für Mitte 2011 auf 83 % des BIP (Spiegel 32/2011, S. 71).

Wenn in Deutschland die Reallöhne seit Jahren sinken, der Sozialabbau voranschreitet und die deutschen Forderungen an das Ausland die Verbindlichkeiten um 700 Mrd. € übersteigen, dann kann auch der Anstieg der hiesigen Staatsschulden nichts mit „über den Verhältnissen gelebt“ zu tun haben.

Grundsätzlich müssen wir festhalten: Diesen gewaltigen Staatsschulden stehen entsprechende Guthaben bei den Banken, Versicherungen, Fonds, Vermögensverwaltungen und Privatanleger­Innen gegenüber. Mit anderen Worten: Die entsprechenden Einlagen in diesen Banken halten im Wesentlichen die Reichen, also diejenigen, denen die neoliberale Politik in den vergangenen Jahren zu einer beträchtlichen Vermehrung ihres Vermögens – und die Bewahrung desselben in der Krise – gebracht hat, während in der gleichen Zeit das Reinvermögen des Staates schrumpfte, und zwar in Deutschland von 800 Mrd. € Anfang der 1990er Jahre auf 192 Mrd.€ im Jahr 2009. Das Reinvermögen der Banken stieg in dieser Zeit von 150 Mrd. € auf 450 Mrd. €, das der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften um 50 % auf heute 1,5 Billionen €. Das Vermögen der privaten Besitzer stieg von 4 Billionen € (1990) auf 8,5 Billionen (das entspricht einer jährlichen Verzinsung von 4 %). Dies müssen wir noch präzisieren: Die oberen 20 % der Privathaushalte besitzen 80 % dieses Vermögens, die oberen 10 % besitzen über 60 %.
Staatsanleihen aufkaufen ist für die Besitzenden ein lukratives Geschäft. Sie erhalten (je nach Zinssatz) jährlich 60 – 70 Mrd. € dazu (das waren in 20 Jahren satte 1,3 Billionen €), und wenn der Zinssatz steigt, werden es jährlich 100 Mrd. € sein.
Kaskade unlösbarer Probleme
Eine neue Zuspitzung hat die Krise mit den Ereignissen vom 21. Juli und vom 2. August erfahren: Am 21. Juli wurde auf Ministerebene zum ersten Mal ein Staatsbankrott eines EU-Mitglieds für möglich erklärt, und am 2. August konnten die Herrschenden in den USA das wochenlange Tauziehen zwischen Präsident und Kongress nur mit einer weiteren Anhebung der Staatsschulden vorläufig beenden.

Die EU-Regierungschefs sind zwar nicht bereit, ihre grundsätzliche Politik zu ändern (warum sollten sie auch, sie dient schließlich der Vermögenssicherung der Reichen), aber sie haben mit dem drohenden Staatsbankrott Griechenlands doch ein gewisses Problem: Es wäre nicht nur das Eingeständnis, dass die gesamte Krisenpolitik der letzten anderthalb Jahre gescheitert ist. Unweigerlich würde ein Bankrott die Zuspitzung der Krise vor allem in Spanien und Italien beschleunigen und dann wäre in kürzester Zeit der Euro kaum noch zu retten. Allein Italien wiegt doppelt so schwer wie Griechenland, Portugal und Irland zusammen. Ein solcher Zusammenbruch (Scheitern des Euro) brächte vor allem der deutschen Industrie gewaltige Nachteile. Ohne den Euro müsste die deutsche Währung um mindestens 30 % aufgewertet werden, was die hiesigen Exporte beträchtlich dezimieren würde, die Gewinne würden ganz gewaltig einbrechen bzw. unmöglich werden.
Die EZB stützt mit dem Anka
uf von Staatsanleihen die Anleihekurse von 5 Euro-Ländern. Sie nutzt zurzeit gerade die Gelegenheit und fordert für weitere Stützungsmaßnahmen zugunsten Italiens Reformen am dortigen Arbeitsmarkt, bei den Renten und im Gesundheitssektor.

 

Schlusslicht Deutschland
Die deutsche Wirtschaft kommt regelmäßig zu einem Außenhandelsüberschuss von 150 – 185 Mrd. € (2007: 184,9 Mrd., 2010: 152,4 Mrd.). Allein im ersten Quartal 2011waren es 41 Mrd. €. […] So schrieb das DGB-Organ Einblick schon 2005: „Schlusslicht Deutschland: In den letzten zehn Jahren sind die Einkommen der abhängig Beschäftigten in den 15 alten EU-Ländern real um 7,4 Prozent gestiegen, in den USA um 19,6 Prozent, in Großbritannien und Schweden sogar um etwas über 25 Prozent. In Deutschland sind die Einkommen nach Berechnungen des WSI-Tarifarchivs im gleichen Zeitraum [1995 – 2004] hingegen um 0,9 Prozent gesunken.“
Seitdem ist es aber nur schlimmer geworden. Laut Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2011 sind in den Jahren 2000 bis 2010 die realen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um 3,9 % zurückgegangen.
Avanti Juni 2011

 

 

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