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Innenpolitik

Die Kaskade der Krisenmomente

Von Jakob Schäfer | 01.09.2011

Die tieferen Ursachen der Krise müssen in den wachsenden Schwierigkeiten der Kapitalverwertung gesucht werden. Diese wirken wie eine Kaskade von unlösbaren Problemen, die sich seit ca. 15 Jahren zuspitzen und die mit allen Hilfsprogrammen der kapitalistischen Regierungen immer nur notdürftig bzw. vorübergehend gelöst wurden – im Wesentlichen über brutale Umverteilungsprogramme.

Die tieferen Ursachen der Krise müssen in den wachsenden Schwierigkeiten der Kapitalverwertung gesucht werden. Diese wirken wie eine Kaskade von unlösbaren Problemen, die sich seit ca. 15 Jahren zuspitzen und die mit allen Hilfsprogrammen der kapitalistischen Regierungen immer nur notdürftig bzw. vorübergehend gelöst wurden – im Wesentlichen über brutale Umverteilungsprogramme.

Inzwischen schlägt die Kaskade der Krisenmomente und ihrer Auswirkungen bis nach unten durch, will heißen: Sie kann nicht mehr weiter mit neuen Kreditaufnahmen verdeckt werden. Die kapitalistische Krisenbewältigungspolitik stößt an ihre Grenzen. Auch in Deutschland wird das nicht mehr lange zu kaschieren sein. Hier die wichtigsten Elemente dieser Kaskade:
Ausgangspunkt
Ausgangspunkt aller weiteren Entwicklungen ist die auf das Gesamtkapital bezogene sinkende Profitrate. Sie ist zwar in einigen Sektoren heute noch extrem hoch (Pharmaindustrie, Teile der Rüs­tungsindustrie), aber die hohen Profitraten etwa der Erdölindustrie werden angesichts des nahenden Peak Oil in wenigen Jahren höchstwahrscheinlich deutlich sinken.

Die sinkende Profitrate darf nicht mit einer sinkenden Masse an Profiten verwechselt werden. Gewaltige Kapitalsummen sind angehäuft, die auch bei geringen Profitraten von 3 oder 4 Prozent noch gewaltige Gewinne ermöglichen. Aber bei einer steigenden Inflationsrate, wie sie vor allem in den USA, China, Japan und auch dem Euro-Raum drohen, können niedrige Profitraten bald an die Grenzen der „Renditefähigkeit“ geraten und die Substanz vieler Einzelkapitale bedrohen.

In Deutschland haben wir zurzeit noch eine durchschnittliche Profitrate von über 10 %. Aber sie wird (wie in den anderen Ländern) nur gehalten aufgrund einer fortgesetzten Umverteilungspolitik und dem Ausgleich verlustbringender Kapitalgeschäfte durch die kapitalistische Regierungspolitik (Bankenrettungsfonds usw.). Der Handlungsspielraum der Regierung(en) wird aber zusehends enger.
Anlageverschiebungen
Anlageverschiebungen waren über mehr als drei Jahrzehnte das wichtigste Mittel, die Profitraten zu halten bzw. sie auch zu steigern. Mit Abstand die besten Möglichkeiten bot die Liberalisierung der Finanzmärkte. Von 2000 – 2007 betrug das jährliche Wachstum des Bankensektors: in Deutschland 4,1 %, in den USA 8,5 %, in Großbritannien 11,6 %. Das Geschäftsvolumen der Großbanken wuchs dabei doppelt so schnell wie das der Gesamtbranche (in GB im Jahr 2008: +20 %, 2009: + 6 %, das war jeweils 4-mal so viel wie das Wachstum des BIP!).

2000-2007 haben sich die Bilanzsummen der Big Player in Deutschland auf das Fünffache des allgemeinen Wirtschaftswachstums aufgebläht (junge Welt 11.8.11). Bisher sind die deutschen Banken „größer aus der Krise herausgekommen, als [sie] hineingegangen sind.“ Das liegt vor allem daran, dass die Verluste in Finanzgeschäften im Wesentlichen bei den großen Banken anfielen, und die werden nicht fallen gelassen (siehe IKB, Hypo Real Estate, Bayrische Landesbank usw.), weil die Herrschenden ihnen „systemische Bedeutung“ beimessen, d. h. als „too big to fail“ erklären. Dieses Profitieren von der unausgesprochenen Staatsgarantie (zur Rettung aus der „Schieflage“) stößt aber jetzt an seine Grenzen, weil inzwischen aufgrund der gewaltigen Verlustausgleiche der Jahre 2008-2010 die Staatshaushalte der meisten betroffenen Staaten zu große Löcher gerissen haben. Nur noch 5 der G 20 Staaten haben in Sachen Kreditwürdigkeit noch die Bestnote AAA (Australien, Kanada, Deutschland, Brasilien und Großbritannien). Und selbst Deutschland, das bisher als der wichtigste Rettungsanker des Euro angesehen wird, ist nicht ungefährdet, erst recht dann nicht, wenn für die bisher beschlossenen Hilfspakete für Griechenland und Portugal wirklich größere Summen gebraucht und abgerufen werden, was mehr als wahrscheinlich ist.

Nur zur Erinnerung: Im Finanzsektor werden keine Werte geschaffen, sondern nur anderweitig erzeugter gesellschaftlicher Reichtum abgeschöpft. Letztlich ist dieser Bereich davon abhängig, dass die Gesamtwirtschaft ausreichend Profite abwirft bzw. der Staat die Umverteilung und den Verlustausgleich sicherstellt.

Und eine weitere Blase (infolge von Anlageverschiebungen) ist 2007 in den USA und im Anschluss daran in Irland und Spanien geplatzt: die Immobilienblase. Diese erfasste zunächst die Bauindustrie  und später Millionen von Hauseigentümern, die ihre Kredite nicht mehr bezahlen konnten und zu Hunderttausenden zwangsgeräumt wurden.
Ausdehnung des Marktes
Ausdehnung des Marktes und der Anlagemöglichkeiten in China war vor allem in den letzten 10 Jahren von Bedeutung. Aber auch das stößt an seine Grenzen. Zum einen wird der chinesische Markt in Zukunft mehr von der einheimischen Industrie abgedeckt, und zum anderen droht dort das Platzen einer bedeutsamen Blase, vor allem im Immobiliensektor. Hier hat der Staat zwar in letzter Zeit eifrig gegengesteuert, doch ob das ausreichen wird, ist mehr als ungewiss. Die Inflationsrate beträgt dort zurzeit 6,5 %, keine Kleinigkeit.
Kaufkraftabschöpfung
Kaufkraftabschöpfung ist für die führenden Wirtschaftsmächte heute ein gewaltiges Problem. Die Bankenrettungen wie auch die Konjunkturprogramme der Jahre 2008-2011 haben so viel Geld gekostet, dass der Staat keine weiteren Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft ergreifen kann. In Japan laufen diese Programme im Grunde seit 1991, ohne dass damit die Profitraten saniert wurden. Hinzu kommt, dass die Stagnation der Reallöhne (in Deutschland der Reallohnverlust) und die Sozialabbaumaßnahmen keine Ausdehnung des inneren Marktes erlauben. Hierfür nur ein paar Beispiele:
In Griechenland sank aufgrund der dortigen Sparpolitik (beginnend schon kurz nach Papandreous Wahlsieg vom Oktober 2009, also noch bevor IWF, EU und EZB eine Verschärfung forderten) das Bruttoinlandsprodukt 2010 um 4,5 %, 2011 um 4 %. Insgesamt sank die Kaufkraft aufgrund von Kürzungen und Steuererhöhungen um 30 Mrd. €, die Reallöhne lagen im I. Quartal 2011 um 17,2 % unter dem Niveau von 2009. Der Einzelhandelsumsatz ging im April 2011 (gegenüber März 2008) um 27,7 % zurück. Die Warenproduktion der Industrie sank im April 2011 gegenüber dem Vorjahr um 11 % und gegenüber Juli 2008 um 47 %. 60 000 Kleinunternehmen und 64 000 Geschäfte sind inzwischen bankrott. Seit praktisch 2,5 Jahren ist das Land in der Rezession. Das Staatsdefizit nahm allein von Januar bis April 2011 um 82 % zu (=11,5 Mrd. €); die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 42,5 % (April 2010: 20 %).

Auch in Portugal ist eine dramatische Schrumpfung der Wirtschaft zu beob­achten: Allein dieses Jahr schrumpfte die Binnennachfrage bereits um 5,6 %. Für 2012 wird ein Minus von 4,4 % erwartet. Selbst die Befürworter des „Rettungsprogramms“ für Portugal gehen von einem weiteren Schrumpfen der Wirtschaft aus.

Und auch die USA haben unter derselben Krise zu leiden und schlittern gerade in eine neue Rezession (die letzte von 2007-2009 ist im Grunde noch nicht wirklich überwunden, deshalb spricht mensch von einem „double dip“). 2008 hatte der Staat 1,5876 Billionen $ in die Wirtschaft gepumpt (Gehälter im Öffentlichen Dienst, Transferzahlungen, Steuersenkungen usw.), 2009 waren es sogar 2,172 Billionen $, plus 584,4 Mrd. $ direkt an die Industrie. Faktisch hat sich der Staat mit der gewaltig steigenden Verschuldung nur Zeit gekauft.

Die neueste (und früher oder später unvermeidbare) Wende kam im Frühjahr 2011, als die Staatsausgaben einbrachen: -133 Mrd. $. Die öffentlichen Ausgaben gingen im ersten Quartal um 5,9 % zurück, im zweiten nochmals um 1,1 %. Dieser Rückgang wurde nicht von privaten Ausgabensteigerungen (und v.a. Investitionen) ausgeglichen. Aufgrund der unsicheren Lage halten die Menschen ihr Geld zusammen, zu viele sind in den Jahren 2007-2009 z. B. zwangsgeräumt worden.

Inzwischen hat sich die herrschende Klasse in den USA auf eine Beschleunigung der Inflation verlegt. Seit 2008 wurden mit dem „quantitative easing“ („Gelddrucken“) 2,8 Billionen frische Dollars gedruckt. Die Geldentwertung wird sich in den kommenden Monaten und Jahren kräftig auswirken und vor allem natürlich diejenigen treffen, die keine Sachwerte haben, also Menschen, die für ihren Lebensunterhalt ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder die auf Transferzahlungen angewiesen sind.

Es muss nicht extra betont werden, dass diese Entwicklung der Kaufkraftabschöpfung im Wesentlichen die lohnabhängige Klasse und vor allem die Hilfsbedürftigen trifft, also die Erwerbslosen, Kranke, alte Menschen usw. In Deutschland trifft es nach unsren Berechnungen seit einigen Jahren auf die eine oder andere Weise etwa 40 % der Bevölkerung, Tendenz steigend.
Fazit
Das Fazit ist für die Verteidiger des herrschenden Wirtschaftssystems im Grunde niederschmetternd, für die lohnabhängige Bevölkerung bedeutet es die Ankündigung äußerst schwerer Zeiten: Das kapitalistische System kann die von ihm aufgehäuften Probleme der öffentlichen Verschuldung und des Abstürzens immer größerer Teile der Menschheit ins Elend nicht lösen, ganz zu schweigen von den Problemen des Klimawandels, der Nahrungsknappheit für mindestens eine Milliarde Menschen, der Verseuchung der Umwelt und vieler anderer Probleme. Selbst für das Kapital sind Reallohnsenkungen und Sozialabbau keine durchgreifende Lösung. Sie verschieben nur die Probleme, denn die Katze beißt sich damit in den Schwanz. Deshalb sind größere Zusammenbrüche und tief greifende Rezessionen viel wahrscheinlicher als eine schmerzlose Erholung der Wirtschaft.

Die Propagierung der Systemalternative wird immer dringlicher. Dazu braucht es auch und gerade die Stärkung der Gegenwehr, als ersten Schritt zur Überwindung des kapitalistischen Systems.

Zu den allgemeineren Krisenursachen und zum Umschlag des längerfristigen Akkumulationstyps siehe:
Guenther Sandleben, Jakob Schäfer: „Die kapitalistische Krise und was wir ihr entgegensetzen“, die internationale theorie, Nr. 35

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