Seit Juli diesen Jahres kampieren insbesondere junge Leute in den Straßen von Jerusa-lem, Tel Aviv und anderen Orten in Israel. Sie sind nicht zum Vergnügen dort, sondern artikulieren ihren Unwillen und ihre Ablehnung der Politik der Herrschenden „im Ge-lobten Land“. Ihre Zahl hat sich inzwischen auf weit über 300 000 Unterstützer_innen vergrößert. Wie das Ganze ausgehen wird, ist noch offen.
Deutlich geworden ist aber bereits jetzt die Orientierung dieser Menschen an den Massenbewegungen in den arabischen Staaten und in Spanien, einschließlich der Nutzung sozialer Medien wie Facebook. Sie kamen mit ihren Zelten, sie trieb größtenteils moralische Empörung auf die Straße und sie waren zunächst politisch nicht festgelegt. Das dürfte sich mit zuneh-mender Dauer dieser Kampagne und ihrer Politisierung ändern.
Zuerst waren es Studierende, die gegen hohe Mietpreise protestierten. Anschließend kamen auch Ärzte, Lehrer, Taxifahrer, Alleinerziehende und jüdische Einwanderer aus Asien und Afrika sowie Arbeits-Migrant_innen. Auch die von der Regierung gehätschelten Siedler sind anwesend; das sind die, die nach Angaben von „Peace Now“ über 15 % aller öffentlichen Wohnungsbauinvestitionen im Jahre 2009 erhalten haben, während ihr Anteil an der Gesamt-bevölkerung von Israel weniger als 4 % ausmacht.
Auch Soldaten haben teilgenommen Nur die Reichen sind dort nicht vertreten. Getragen wurden israelische, palästinensische und rote Fahnen!
Forderungen
Der Protest richtet sich gegen zu hohe Mieten, zu hohe Kosten für Benzin, Kindergärten, Vernachlässigung des Gesundheits- und Erziehungswesen sowie gegen die hohe Steuerbelastung. Die neoliberale Politik der Regierung Netanyahu wurde zunächst als solche nicht kritisiert; vorgebracht wird die Forderung nach Abschaffung „belastender Lebensumstände“. Das hat sich aber im Laufe des anhaltenden Politisierungsprozesses während der wochenlangen Auseinandersetzungen geändert.
Eine solche Situation ist natürlich die Stunde der Linken und der Gewerkschaften. Es gibt kleine, fortschrittliche Organisationen, unter anderem „Hithabrut“, die hier eingreifen; ihr Einfluss aber ist (noch) relativ gering.
Die staatliche Gewerkschaft Hístadrut führt diesen sozialen Kampf nicht an; sie stellte viel-mehr klar, dass – wenn der Protest sich gegen die Regierung Netanyahu richtet – sie sich nicht daran beteiligen werde. „Wir sind ein demokratisches Land, wir sind nicht Ägypten oder Syrien“, sagte ihr Generalsekretär Eini.
Diese Organisation muss um ihren Einfluss und ihre Bedeutung fürchten, da die relativ neuen radikalen Arbeiterorganisationen Koach Laovdim („Arbeiter an die Macht“) und „Maan“ die Interessen der Arbeitenden vertreten, wohingegen die Histadrut sowohl mit der Regierung als auch mit den „Arbeitgebern“ kungelt.
Die Regierung tut sich schwer, mit den Forderungen umzugehen. Sie hat in ihrer ungeheuren Dreistigkeit den Bau von 1600 Wohnungen in Ostjerusalem, d. h. auf palästinensischem Ge-biet, angekündigt. Sie glaubt, so dem Protest Wind aus den Segeln nehmen zu können, indem sie auf diese Weise der Forderung nach billigem Wohnraum nachkommt. Doch das ist nicht das, was der übergroßen Mehrheit der Protestierenden vorschwebt.
Die palästinensische Frage
Die Proteste in Israel sind insofern etwas Besonderes, als dort die soziale Frage mit dem Ko-lonialisierungsprozess Palästinas im Zusammenhang steht. Die Regierung hat mit dem angekündigten Wohnungsbau in Ostjerusalem auf ihre Weise die „Palästina-Frage“ ganz direkt ins Spiel gebracht. Sie hat die Chuzpe, die Wohnungsnot vieler Israelis mit der weiteren Judaisierung Ostjerusalems zu lösen. Vermutlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Palästina-Frage als solche in die politische Diskussion über die Forderungen der Protestierenden einbezogen wird.
Zu hoffen ist, dass der friedensstiftenden Orientierung Vorrang gegeben wird. Die weitere Besiedlung Palästinas durch israelische Bürger_innen gehört jedenfalls nicht dazu. Wenn der israelischen Bevölkerung in breitem Umfang die Kosten der Besatzung erklärt würden, könnten sie die Umleitung dieser Gelder in den Sozialbereich fordern. Damit stünden ca. 9 % seines jährlichen Staatshaushaltes, die Israel für sein Kolonialprojekt ausgibt, zur Verfügung. Den Umfang dieser Kosten (siehe Kasten) ahnt zumindest ein Teil der Protestierenden, aber die wenigsten wissen was Genaues. Die Umleitung der Gelder wäre ein Schritt in Richtung Frieden für beide Völker. Hier liegt die politische Bedeutung, die weit über die soziale Frage hinausgeht.
Doch dazu bedarf es umfangreicherer Information und Agitation seitens der fortschrittlichen Kräfte in Israel gegen die zionistische Propaganda und die verlogene Behauptung, der Kampf gegen die palästinensische Bevölkerung diene der Sicherheit Israels.
Friedliches Ende?
Wenn es den Protestierenden gelänge, die Regierung Netanjahu in Bedrängnis zu bringen, könnte diese den Ausweg in einer militärischen Aktion suchen. Verbunden mit dem üblichen Appell an die „nationale Einheit“ würde ein großer Teil der Protestierenden, vielleicht sogar der größte, diese für wichtiger erachten als eine Sozialpolitik, die ihre tägliche Lebenssituation nachhaltig verbessert, und die Aktionen abbrechen. Ein solcher Reflex erscheint bei der täglich verabreichten Dosis Zionismus nicht unwahrscheinlich.
Das Drehbuch für eine militärische Intervention liegt bereits in der Schublade: Der Antrag der Palästinenser_innen auf Aufnahme in die UNO wird gewiss von Demos in der Westbank und im Gazastreifen und vielleicht auch in Israel begleitet werden. Aber vielleicht spielt sich ja schon vorher etwas in Ostjerusalem ab! Es ist vorstellbar, dass die Regierungs-Provokation in Ostjerusalem verständliche Gegenreaktionen hervorrufen wird.
Auch wenn die israelischen Protestaktionen mit einem solchen Desaster enden würden, könnte das Kolonialisierungsprojekt Palästina endlich im öffentlichen Raum in einem anderen Zusammenhang als mit vermeintlicher Sicherheit und religiös legitimiertem Landraub diskutiert werden. In diese Diskussionen müssten die Palästinenser_innen einbezogen werden. Ein langer Weg?
Die israelischen DemonstrantInnen sangen „Die Menschen fordern soziale Gerechtigkeit“ nach einer Melodie, mit der die arabischen Völker „Die Menschen fordern den Sturz des Regimes“ forderten. E
s ist deutlich: Die arabischen und israelischen Menschen haben mehr Gemeinsamkeit, als es den Herrschenden lieb ist.
Wir Beobachter_innen von außen sollten den Kämpfenden in Israel und Palästina die Unterstützung zukommen lassen, um die sie uns bitten.
1. Einkommen aus der Besatzung: 39,64 Milliarden NIS (nach Abzug der Transferleistungen an die palästinensische Zentralbehörde)
2. Siedlerunterstützungen: 104,46 Milliarden NIS
3. Sicherheitskosten: 316,21 Milliarden NIS
4. Gesamt Netto-Kosten: 381,02 Milliarden NIS
D. h., dass die israelische Regierung etwa 9 % ihres jährlichen Budgets, ca. 7 Milliarden $ pro Jahr, für die Kolonisation und die Sicherung ihrer Kontrolle über das palästinensische Territorium ausgibt.
Es sei darauf hingewiesen, dass sich jeder Siedler an Regierungsinvestitionen erfreut, die um 135 % höher sind als bei anderen israelischen Bürgern.
(Bethlehem 2009), Übersetzung: W. Wiese
2 5,4 NIS sind etwa 1 €, Anm. d. Red.
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