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Innenpolitik

Programmentwurf mit reformistischen Widersprüchen

Von B. B. | 01.12.2011

Die Kritik des neuen Programms der Linkspartei kann nicht in dem Vorwurf gipfeln, es sei nicht links genug. Eine reformistische Partei kann kein revolutionäres Programm haben. Deshalb sind auch die Jubeltöne vom linken Flügel der Linkspartei verfehlt, die das neue Programm als „Linksentwicklung“ abfeiern.

Die Kritik des neuen Programms der Linkspartei kann nicht in dem Vorwurf gipfeln, es sei nicht links genug. Eine reformistische Partei kann kein revolutionäres Programm haben. Deshalb sind auch die Jubeltöne vom linken Flügel der Linkspartei verfehlt, die das neue Programm als „Linksentwicklung“ abfeiern.

Auch wenn der eigene Maßstab nur die eigene revolutionäre programmatische Tradition sein kann, sollte es die Kritik am in Erfurt verabschiedeten Grundsatzprogramm vermeiden, den darin aufgestellten Forderungen ihre radikale Variante entgegenzuhalten. Vielmehr gilt es in erster Linie die innere Widersprüchlichkeit des neuen Programms aufzuzeigen, was hier nur ansatzweise versucht werden kann.
Tatsächlich verschiebt das neue Programm die Akzente etwas nach links. Dies gilt besonders für den Absatz, wo zum ersten Mal die Realität „Deutschland – eine Klassengesellschaft“ zur Kenntnis genommen wird. Die Vorläuferprogramme hatten sie ignoriert. Bleibt zu hoffen, dass dies zur Bewusstwerdung derer dient, die die Klassenstruktur bisher übersahen oder als „veraltet“ geleugnet hatten.

Die linke Akzentverschiebung war nicht zu vermeiden, ist da doch der ostdeutsche Minister­Innenflügel aus fast allen Regierungsbeteilungen herausgeflogen und geht selbst die gemäßigte Strömung „Sozialistische Linke“ analytisch von einer Klassengesellschaft aus. Es muss vielmehr angesichts der konstatierten „schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit 1929“ verwundern, wie seicht die programmatische „Linksentwicklung“ in Erfurt ausfiel. Sogar die Tiefe der Krise konnte die Partei nicht dazu bewegen, aus der Feststellung der Existenz von Klassen die Notwendigkeit des Klassenkampfes abzuleiten – womit die Grenzen des Reformismus nicht unbedingt hätten überschritten werden müssen. So hinterlässt die programmatische „Linksentwicklung“ selbst dort einen halbherzigen Eindruck, wo sie wirklich stattgefunden hat.
Klassengesellschaft ohne Klassenkampf
Die Auslassung ist kein Zufall. Der Klassenkampf passt nicht in das strategische Schema, das zwar nirgendwo im Programm ausführlich dargelegt wird, aber doch vorhanden ist und sich wie folgt zusammenfassen lässt:
Der Linkspartei nach ist die Klasse der Kapitalist­Innen gespalten. Auf der einen Seite stehen die globalen Herrschaftseliten, die großen Kapitalbesitzer, Finanzmagnaten, Vermögensbesitzer, Spekulanten, Konzerne und Banken, die für die Spekulations- und Finanzblase und für die Finanzkrise mit ihren Folgen der Privatisierung und Liberalisierung, für den repressiven Überwachungsstaat und die „Krise der Demokratie“ verantwortlich sind und/oder im Exportsektor tätig sind.

Auf der anderen Seite befinden sich viele kleine und mittlere Unternehmer, die die „Realwirtschaft“ repräsentieren und für den inländischen Bedarf produzieren. Weil sie „unter der Übermacht des großen Kapitals“ leiden, vom Finanzkapital unterschiedliche Interessen, sowie Gemeinsamkeiten mit der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung haben, ergibt sich die strategische Schlussfolgerung für die Linkspartei wie von selbst: Die Lohnabhängigen müssen in Zusammenarbeit mit dem kleinen und mittleren produktiven Kapital die Macht der multinationalen Konzerne begrenzen, einschränken und brechen.

Da sich aber der Klassenkampf gegen die ganze und nicht die halbe Klasse der Kapitaleigner­Innen, die produktiven wie die spekulativen Kapitalist­Innen, gegen die großen und kleinen und mittleren Unternehmer richtet und nicht zwischen dem Konzern als Feind und dem mittleren Unternehmen als vermeintlichen Bündnispartner unterscheidet, so findet er im Programm der Linkspartei keinen Platz. Und daran gibt es wenig zu kritisieren. Denn in einem solchen Programm hat er auch nichts zu suchen.
Die bittere Konsequenz, vor der alle reformistischen Parteien stehen, wenn ihr Programm Wirklichkeit würde, wäre spalterisch. Sie bestände in dem fortwährenden Appell an die Arbeiterbewegung, doch bitte nicht durch zu radikale Forderungen den vermeintlichen Bündnispartner, die kleinen und mittleren Kapitaleigner­Innen, zu erschrecken und abzustoßen.
Verzicht auf Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie
Eigentlich müsste die Linkspartei, deren ostdeutscher Teil behauptet, mit dem Stalinismus gebrochen zu haben, und zu derem westdeutschen Part mindestens drei trotzkistische Organisationen gehören, über eine fundierte Kritik der Arbeiter­Innen- und Gewerkschaftsbürokratie verfügen. Doch für das Programm der Linkspartei existiert die soziale Schicht der „Bürokratie“ nicht. Zwar wird der Stalinismus abgelehnt, werden Willkür, eingeschränkte Freiheiten, der staatliche Überwachungsapparat gegen die eigene Bevölkerung und die bürokratisierte Form der Planung und Leitung der DDR kritisiert, aber als Ursache nicht die Interessen einer sozialen Schicht verantwortlich gemacht.

Wie für die Geschichte Ostdeutschlands, so für die Gegenwart Ost- und Westdeutschlands. Dass für „Hartz IV“, Agenda 2010, Erwerbslosigkeit, Privatisierungen, befristete Arbeitsplätze, Leiharbeit, Minijobs, Niedriglohnsektor und prekäre Arbeit die Kapitalist­Innen und ihre Regierung verantwortlich sind, kann natürlich kein linkes Programm übersehen.

Aber haben nicht die Gewerkschaften durch ihre Passivität die massiven Verschlechterungen auf Kosten der Lohnabhängigen mit zu verantworten? Und wer ist innerhalb der Gewerkschaften für die Politik der Anpassung an das System, des Nationalismus und der Standortlogik, der Sozialpartnerschaft und des Zurückweichens vor dem Kapital und seiner Regierung verantwortlich? Ist es denn nicht eine bürokratische, privilegierte Schicht, die die Gewerkschaften beherrscht?

Weil aber der linke Flügel der Gewerkschaftsbürokratie in der Linkspartei seine Partei sieht und dort viele „linke“ Hauptamtliche wichtige Funktionen besetzen, darf das Programm der Linkspartei keine Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie enthalten. Indem sie damit der Bürokratie „ihre“ Gewerkschaften überlässt, erhofft sich die Linkspartei die Neutralität der Gewerkschaften in der Parteipolitik. Den Status quo versucht sie auch in der sozialen Bewegung durchzusetzen, wenn auf deren Konferenzen hauptamtliche „linke“ Gewerkschafter­Innen gegen die Enteignung der Banken Stellung nehmen, weil das den Bündnispartner Gewerkschaften abschrecken könnte, aber auf dem Erfurter Programmparteitag der Linkspartei für die Forderung der Vergesellschaftung stimmen.
Der Schein des angefaulten Systems
Es wäre verfehlt, einer reformis­tischen Partei vorzuwerfen, sie wolle die Parlamente st&
auml;rken – sind diese doch ihr hauptsächliches Terrain. Es ist vielmehr die Linkspartei, die sich zu dem Vorwurf an den Kapitalismus versteigt, dass er die „Grundlagen der Demokratie als Herrschaft des Volkes“ untergrabe. Dass ausgerechnet die beabsichtigte „Stärkung aller Vertretungskörperschaften – von der Gemeindevertretung bis zum Europäischen Parlament – als demokratische Entscheidungsgremien“ zu wirklich demokratischen Entscheidungen des „Volkes“ (?) führt, wird kaum diejenigen für den bürgerlichen Parlamentarismus zurückgewinnen helfen, die sich längst angewidert von ihm abgewandt haben.
Das Ideal der über den Klassen schwebenden „Demokratie“, die es zu erreichen gilt, zieht sich wie ein Faden durch das Programm der Linkspartei: Wirtschaftsdemokratie, paritätische Mitbestimmung in den Betrieben, geeignete Rechtsformen, Berufung auf das Grundgesetz, Gemeinwohl, Demokratisierung der Gesellschaft, Erneuerung als demokratischer und sozialer Rechtsstaat, demokratische Kommunen, Selbstverwaltung der Gerichte und Staatsanwaltschaften – in der tiefsten Krise des Kapitalismus sucht die Linkspartei ausgerechnet dort festen Halt, wo er nicht zu finden ist: im demokratisch-parlamentarischen Schein eines angefaulten Systems.

 

Revolutionäre Strategie und Programmatik
„Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“, sagte einst Thomas Morus. Zu den Flammen revolutionärer Programmatik, Strategie und Taktik zählen:
Das „Kommunistische Manifest“ (1848) von Marx und Engels als erstes wissenschaftlich fundiertes Programm, das sich wie eine aktuelle Kritik der Globalisierung liest; Marx`„Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ (1875) und Engels „Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs (1891), in dem er das erste marxistische Programm der SPD kritisierte.
Auf den bewaffneten Aufstand zielte das von Rosa Luxemburg geschriebene „Programm des Spartakusbundes“ (1918), dem sie ihre Rede „Unser Programm und die politische Situation“ widmete. In der frühen kommunis­tischen Bewegung galt Bucharins / Preobraschenskis „ABC des Kommunismus“ als populäres Programm. 1928 setzte sich Trotzki in seiner „Kritik des Programms der Kommunistischen Internationale“ auch mit deren Strategie auseinander. Dem folgte im Exil 1934 das „Aktionsprogramm für Frankreich“ und 1938 für den Gründungskongress der IV. Internationale „Das Übergangsprogramm“.
Meilensteine revolutionärer Strategie waren die zur Zeit der russischen Revolution von 1905 geschriebenen Broschüren Lenins „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, Rosa Luxemburgs „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ und Trotzkis „Ergebnisse und Perspektiven“, in der er die Theorie der permanenten Revolution entwickelte, die er  1929 in seiner Schrift „Die Permanente Revolution“ ausweitete. 1918 wurde Lenins „Staat und Revolution“ veröffentlicht, der sich vom reformistischen Staats- und Demokratieverständnis abgrenzte.
Zu den „Flammen“ zählen auch die Resolutionen der ersten vier Weltkongresse der III. Internationale zur Rolle der revolutionären Partei, der Nationalitäten- und Kolonialfrage, zur Agrarfrage, zur Arbeit in Parlamenten, Gewerkschaften und Genossenschaften, zur Taktik der Einheitsfront und zur Bildung von Räten; später folgten Trotzkis „Krieg und die IV. Internationale“ (1934) und das „Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution“ (1940).
Der Kritik am stalinis­tischen Aufbau der Sowjet­union und Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ diente die „Plattform der Vereinigten Linken Opposition“ um Sinowjew-Kamenew-Trotzki von 1927. Trotzkis Buch „Die verratene Revolution“ aktualisierte 1936 die Kritik am Stalinismus.
Die revolutionäre Programmatik und Strategie im vielfältigen revolutionären Marxismus konnte die IV. Internationale mit ihren Resolutionen „Sozialistische Revolution und der Kampf für Frauenbefreiung“ (1979), „Für Rätedemokratie und Arbeiterselbstverwaltung“ (1985), „Ökologie und Sozialismus“ (2003) und „Kapitalistische Klimaveränderung und unsere Aufgaben“ (2010); in kleinerem Maße die LCR  mit „Der Sozialismus, den wir wollen“ (1974) und die GIM mit der Broschüre „Im Kapitalismus sind alle Arbeiter Fremdarbeiter“ (1982) bereichern.

 

 

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