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Länder

Auf dem Weg zum europaweiten Generalstreik?

Von B. B. | 07.01.2012

Der Widerstand in Europa gegen die Kürzungsprogramme der Regierungen wächst. In Großbritannien, Belgien, Italien und Portugal kam es zu Massenstreiks.

Der Widerstand in Europa gegen die Kürzungsprogramme der Regierungen wächst. In Großbritannien, Belgien, Italien und Portugal kam es zu Massenstreiks.

Die Antwort der verschiedenen Regierungen auf die Krise ist überall gleich, egal ob sie von dem „parteilosen“ Regierungschef Italiens, dem früheren EU-Kommissar für Wettbewerb, Mario Monti, dem Konservativen Cameron in Großbritannien, oder dem Sozialisten Elio Di Rupo in Belgien gegeben wird. Sie lautet: Die Lohnabhängigen sollen für die Krise zahlen.
Kürzungen international
Belgien ist wirtschaftlich und politisch angeschlagen. Kürzlich ging die Dexia-Banque pleite und wurde verstaatlicht. Der Staat zahlte vier Milliarden Euro, garantierte risikoreiche Wertpapiere für weitere 54 Milliarden Euro, und Giftpapiere für 90 Milliarden Euro wurden in einer Bad Bank ausgegliedert. Hinzu kam die schleichende politische Krise. Belgien hatte anderthalb Jahre lang keine Regierung. Doch nachdem die Ratingagentur Standard & Poor’s Belgiens Kreditwürdigkeit von AA+ auf AA herabgestuft und die EU Belgien aufgefordert hatte, die Neuverschuldung unter 3 Prozent zu senken, einigten sich Sozialdemokrat­Innen, Liberale und Konservative binnen kurzum auf eine Koalitionsregierung um den „Sozialisten“ Di Rupo, um für das Jahr 2012 Kürzungen in Höhe von 11,3 Milliarden Euro zu beschließen. Das Eintrittsalter in den Vorruhestand wird von 60 auf 62 Jahre angehoben, die Arbeitslosenhilfe gekürzt.

In England dient ebenfalls das Defizit des Staatshaushalts als Argument für die konservative Regierung, um auf Jahre hinaus eine Senkung des sozialen Standards der Lohnabhängigen in Angriff zu nehmen. Zunächst sollen das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre und die Rentenbeiträge erhöht sowie die Renten gekürzt werden. Eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst ist ebenfalls geplant.

In Italien ist die Staatsverschuldung auf 1,9 Billionen Euro angewachsen (120 % des BIP). Die EU verlangte Kürzungen von 20 Mrd. Euro im Staatshaushalt. Montis Sparprogramm addiert sich sogar auf 30 Milliarden Euro. Zusammen mit den von der Regierung Berlusconi beschlossenen Maßnahmen belaufen sich die Einsparungen für die nächsten zwei Jahre auf insgesamt ca. 90 Mrd. Euro. Der Schwerpunkt liegt bei den Rentner­Innen. Der Inflationsausgleich für Renten ab 960 Euro im Monat wird gestrichen. Ab 2012 steigt das Mindest­eintrittsalter bei Renten für Männer auf 66 Jahre und für Frauen auf 62 Jahre und ab 2016 ebenfalls auf 66 Jahre. Weil die Lohnabhängigen mindestens 42 Jahre einzahlen müssen, um eine volle Rente zu erhalten, ist die beabsichtigte Folge, dass zukünftig junge Menschen, die heutzutage mit etwa dreißig Jahren ins Berufsleben eintreten, erst mit über 70 Jahren eine volle Rente beziehen sollen. Über die Hälfte der Rentner­Innen gilt heute bereits als arm. Zudem will die Regierung Monti die Mehrwertsteuer um 2 Prozent anheben, die Mineralölsteuer erhöhen und wieder eine Immobiliensteuer einführen. Auch das trifft einen Großteil der Bevölkerung, weil 72 % der Italiener­Innen ein Haus oder eine Eigentumswohnung besitzen. Dagegen erhalten Unternehmen Steuererleichterungen. Auf eine Vermögenssteuer wird verzichtet, nur Jachten und Privatflieger werden zusätzlich besteuert.

Portugal ist dem Diktat des Internationalen Währungsfonds unterworfen, der für Kredite über 78 Milliarden Euro drastische Sparmaßnahmen verlangt. Die Beamt­Innen sollen auf zwei von vierzehn Monatsgehältern verzichten, die Lohnabhängigen in der privaten Wirtschaft täglich eine halbe Stunde länger arbeiten. Die Ratingagentur Fitch stufte Portugal trotz des Sparprogramms von BBB- auf BB+ herab.
In Spanien sind zunächst die Bildung und das Gesundheitswesen stark von Kürzungen betroffen. So werden z. B. Stellen für Lehrer­Innen gestrichen und Bibliotheken geschlossen.
Streiks gegen Sparprogramme
Die Antwort der Gewerkschaften ließ nicht auf sich warten. In Belgien streik­ten ca. 700 000 Arbeiter­Innen, Angestellte und Beamt­Innen im Öffentlichen Dienst gegen die Kürzungen der Regierung Di Rupo. In Brüssel protestierten 80 000 Lohnabhängige und auch in anderen Städten fanden Demonstrationen statt. Der Eisenbahn- und Nahverkehr ruhte, sind doch die Eisenbahner­Innen von allen Lohnabhängigen die kämpferischsten.

Die Arbeiter­Innenbewegung in England scheint endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht zu sein. Etwa 2,5 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst legten aus Protest gegen das Sparprogramm der Regierung Cameron für einen Tag die Arbeit nieder. Das war der größte Streik seit drei Jahrzehnten.

Auch in Italien reagierte die Arbeiter­Innenklasse auf das Sparpaket der Regierung Monti mit Streiks. Die Gewerkschaft der Metallarbeiter­Innen FIOM hatte einen achtstündigen Ausstand beschlossen, der z. B. in der Automobilindustrie befolgt wurde. An der allgemeinen dreistündigen Arbeitsniederlegung, zu der die großen Gewerkschaftsverbände aufgerufen hatten, beteiligten sich verschiedene Berufsgruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, wie die Angestellten der Privatwirtschaft, die Eisenbahner­Innen im Fern- und Nahverkehr, Postbeamt­Innen und Lehrer­Innen, Hafenarbeiter­Innen, Drucker­Innen und Bankangestellte.

In Spanien protestierten Tausende Schüler­Innen in 35 Städten gegen die Kürzungen im Bildungswesen. Aufgerufen hatte die Gewerkschaft der Gymnasiast­Innen. Lehrer­Innen, Eltern und Schüler­Innen gingen gemeinsam auf die Straßen.
„Griechisch“ reden
In Portugal fand ein Generalstreik gegen das Sparprogramm der konservativ-liberalen Regierung Coelho statt, an dem sich etwa drei Millionen Lohnabhängige beteiligten. Die massive Mobilisierung kam zustande, weil die politisch konkurrierenden kommunistischen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsdachverbände CGTP und UGT gemeinsam zu einer eintägigen Arbeitsniederlegung aufgerufen hatten, was in der Vergangenheit Seltenheitswert hatte. Zehntausende demonstrierten in Lissabon und riefen „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“, was an eine der zentralen Losungen der Nelkenrevolution von 1974/75 anknüpfte. Tage zuvor hatten sich Tausende Mitglieder von Offiziers- und Soldatenverbänden mit dem angekündigten Generalstreik solidarisiert. In Italien hatten die verschiedenartigen Gewerkschaftsverbände zum ersten Mal seit längerer Zeit gemeinsam zum Streik aufgerufen. In Belgien wurde in den Gewerkschaften über die Notwendigkeit eines Generalstreiks diskutiert.

Will die Arbeiter­Innenbewegung bei der Abwehr der massiven Angriffe überhaupt eine Erfolgschance haben, dann kann sie diese nur wahrnehmen, wenn das politisch Trennende die gemeinsame Aktion nicht verhindert. Unter dem Druck der Konterreformen entsteht ein funda
mentales Bedürfnis nach Einheit, wie es sich in Portugal und Italien Geltung verschafft. Die großen, gemeinsamen Mobilisierungen entwickeln wiederum eine Dynamik hin zum Generalstreik, denn nur mit einer entschiedenen Kraftanstrengung der gesamten Arbeiter­Innenklasse kann das Sparpaket gekippt oder mindestens abgeschwächt werden. Die Arbeiter­Innenbewegung in Griechenland führte lange einsam und allein ihren schweren Kampf, nicht nur gegen die eigene Bourgeoisie, die EU, den IWF, sondern auch gegen die Hetze der herrschenden Klasse in ganz Europa. Nun endlich schlagen ihre Klassengenoss­Innen in Portugal, Italien und Belgien den Weg ein, den die griechischen Kolleg­Innen vorangegangen sind. Der Fortschritt besteht in Massenstreiks in mehreren Ländern, der auf die ganze Arbeiter­Innenbewegung Europas ansteckend wirken kann.

So begrüßenswert diese Streiks für alle sind, die Widerstand leisten wollen, so liegt ihre Begrenztheit darin, dass die Arbeiter­Innenbewegung national­staatlich getrennt den zentralisierten EU-Institutionen gegenübersteht, die die Sparmaßnahmen den einzelnen Staaten und Regierungen (in gegenseitigem Einvernehmen natürlich!) vorschreiben. Wenn im spanischen Staat die Schüler­Innen und Lehrer­Innen am 22. Oktober auf die Straße gehen, in Portugal am 24. November ­gestreikt wird, in England am 30. November und in Belgien am 22. Dezember, dann sind diese Streiks richtig und notwendig, können aber das jeweilige Sparprogramm „ihrer“ Regierung kaum kippen. Der Kampf gegen die europäische Zentralgewalt und ihre Kürzungsprogramme beginnt zwar auf nationalem Boden, ist aber im nationalen Rahmen nicht zu gewinnen.
Die Entwicklung fördern
Ein Generalstreik, und ein europaweiter dazu, kann nicht beliebig ausgerufen werden, zumal in keinem Land Europas eine einflussreiche, revolutionäre Massenpartei besteht. Doch die Verhältnisse für einen europaweiten Generalstreik sind reif, auch wenn in Griechenland alles, in Italien, Portugal und Belgien vieles und in Deutschland (noch) nichts darauf hinweist. Es gilt an dem Bewusstsein anzuknüpfen, dass die Arbeiter­Innenklasse und die soziale Bewegung international und gemeinsam die Sparprogramme, die EU und die nationalen Regierungen bekämpfen muss. Es ist Aufgabe der revolutionären Marxist­Innen, diese Entwicklung zu fördern.

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