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Länder

Arabische Welt: Die bleierne Zeit ist vorbei

Von Harry Tuttle | 14.05.2012

Nach den ersten schnellen Erfolgen der arabischen Revolten hat ein zäher Machtkampf begonnen. Doch ungeachtet mancher Rückschläge und Gefahren – eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen wird es nicht geben.

Nach den ersten schnellen Erfolgen der arabischen Revolten hat ein zäher Machtkampf begonnen. Doch ungeachtet mancher Rückschläge und Gefahren – eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen wird es nicht geben.

Die Mauer muss weg. Das ist das Ziel der ägyptischen Demokratiebewegung, deren Aktivist­Innen immer wieder versuchen, die in der Innenstadt von Kairo zur Kontrolle von Massendemonstrationen errichteten Mauern abzutragen. Dann tanzen die grünen Punkte der Laser-Pointer auf den Körpern der Protestierenden. Die Soldaten haben sie im Visier. Manchmal bleibt es bei der Einschüchterung, manchmal wird geschossen. Doch auch wenn die Protestierenden wieder einmal Tote und Verwundete davontragen müssen, ist sicher: Sie werden wiederkommen.

Knapp eineinhalb Jahre nachdem mit Protestdemonstrationen in Tunesien der „arabische Frühling“ begann, ist nicht nur in Ägypten die Euphorie verflogen. Ein zäher Machtkampf hat begonnen. Damals wurden die Herrschenden von der rasanten Entwicklung der Massenbewegung überrascht, doch nun haben die Feinde der Revolution, die Anhänger der alten Ordnung und die Islamisten, ihre Kräfte gesammelt, und sie haben mächtige Verbündete. Die Golfmonarchien unterstützen ihre islamistischen Verbündeten mit Geld und in manchen Ländern auch mit Waffen, eine Politik, die von den westlichen Staaten offenbar gebilligt, wahrscheinlich auch mitgetragen wird.

Doch der Kampf geht weiter. So wurde an einem gewöhnlichen Dienstag im März an Arbeiter­Innenprotesten in Ägypten registriert: Ein Sit-in von Petrojet-Beschäftigten vor dem Parlament für die Wiedereinstellung von Entlassenen; ein Sit-in von Steuerbeamten vor dem Finanzministerium, das die Entlassung korrupter Vorgesetzter bewirken soll; Kundgebungen von Kommunalangestellten in 23 Städten für höhere Löhne; eine Eisenbahnblockade von Textilarbeiter­Innen in Minya aus Protest gegen die Nichtauszahlung von Löhnen, ein Streik der Kanalarbeiter in Daqahlia für höhere Löhne; Proteste der Postangestellten von Giza für bessere Arbeitsbedingungen und Kundgebungen von Angestellten des Bildungsministeriums, die fordern, dass weiterhin ein Zuschuss für den Schulbesuch ihrer Kinder gezahlt wird.
„Vor uns liegt noch ein langer Kampf“
Dies ist umso bemerkenswerter, als fast alle Proteste dieser Art illegal sind. Bemerkenswert ist jedoch auch, dass das Militär es nicht wagt, konsequent durchzugreifen. Immer wieder werden Gewerkschafter inhaftiert, doch die meisten Streikenden bleiben unbehelligt, oft können sie zumindest einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen.

Als exemplarisch kann wohl der Arbeitskampf bei der Delta Bus Company im Februar und März gelten. Am ersten Tag des Streiks wurden die Beschäftigten der East Delta Bus Company vom Militär bedroht. Als sie sich nicht einschüchtern ließen, ließen die Offiziere Militärbusse fahren, um den Streik zu brechen. Diese Maßnahme führte dazu, dass die Fahrer in den anderen Regionen des Landes ebenfalls in den Ausstand traten. Nach knapp zwei Wochen erhielten die Streikenden die Zusage, dass ihre Löhne erhöht werden und die Delta Bus Company, wie von ihnen gefordert, dem Transportministerium mit seinen besseren tariflichen Regelungen unterstellt wird. „Wir kämpfen weiter für die Entfernung korrupter Manager, sie müssen sich für finanzielle Unregelmäßigkeiten verantworten. Vor uns liegt noch ein langer Kampf“, kommentierte der Gewerkschafter Abdel Rahman das vorläufige Ende des Streiks.

Auch im Kampf gegen die Demokratiebewegung setzt das Militärregime eher auf eine Strategie der Spannung als auf umfassende Unterdrückung. Der staatliche Propagandaapparat stellt Protes­tierende als vom Ausland – in der Regel von Israel und den USA – gelenkte Verschwörer dar. Das wirkt zuweilen skurril, so behaupteten die staatlichen Medien, Tausende Freimaurer planten eine gottlose Zeremonie vor den Pyramiden. Doch zum Glück werde das Militär dies verhindern. Tausende Soldaten „schützten“ dann die Pyramiden vor der frei erfundenen Veranstaltung. Weniger komisch ist der Einsatz von Schlägertrupps; beim bislang blutigsten Vorfall wurden mindestens 74 Menschen getötet, als im Fußballstadion von Port Said die für ihre Sympathie mit der Revolution bekannten Fans des Kairoer Clubs al-Ahly angegriffen wurden.
Doch die Armee besteht überwiegend aus Wehrpflichtigen, und die Generäle können nicht sicher sein, dass die jungen Männer auf Protestierende schießen, von denen sie nur die Uniform unterscheidet. Sogar Offiziere haben sich öffentlich mit der demokratischen Revolution solidarisiert. 22 Offiziere verbüßen zwei- bis dreijährige Haftstrafen, weil sie auf dem Tahrir-Platz in Kairo demonstrierten.
Streikende als „Feinde Gottes“
Obwohl die Revolutionär­Innen nur zur Selbstverteidigung Gewalt anwenden, dürften auch die Ägypter­Innen zu den Waffen greifen, wenn es zu Massakern wie in Syrien käme. Selbst die wohlwollenden Freunde des Militärs im Westen müssten sich dann distanzieren, und die Wirtschaft würde zusammenbrechen. Derzeit haben die Generäle also keine andere Wahl, als sich zurückzuhalten. Nicht zuletzt deshalb entschieden sie sich für das Bündnis mit der zweiten großen konterrevolutionären Strömung: den Islamisten.

Die Islamisten, in Ägypten vor allem repräsentiert durch die Muslimbruderschaft, wollen zwar nicht zurück zur alten Ordnung, unter der ihre Organisationen verboten waren. Doch sie wollen die gesellschaftliche Demokratisierung, vor allem die Gleichberechtigung der Frauen, die Selbstorganisation der Lohnabhängigen, unbeschränkte Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die freie Wahl der Art des Zusammenlebens verhindern. In ökonomischer Hinsicht sind sie Wirtschaftsliberale, die den „freien Markt“ mit von ihnen kontrollierter Almosenverteilung kombinieren wollen, und Feinde der Gewerkschaften. Streikende seien „Feinde Gottes“, sagte im Januar der tunesische Islamist Sadok Chourou, ein Mitglied der regierenden Partei al-Nahda. Er schlug vor, sie zu kreuzigen oder ihnen Hand und Fuß abzuhacken.
An den Revolten haben die Islamisten sich erst beteiligt, als absehbar war, dass sie sich andernfalls isolieren würden. Nun scheinen vor allem sie die Früchte zu ernten, sie führen die Regierungen in Ägypten und Tunesien. Doch in Ägypten haben sie ihre Mandate nicht zuletzt Wahlmanipulationen des Militärs zu verdanken. Frei waren bislang nur die Wahlen in Tunesien, wo das Militär den Übergang zur bürgerlichen Demokratie ermöglichte. Dort wurde al-Nahda mit 40 Prozent der Stimmen zwar die mit Abstand stärkste Partei, doch 60 Prozent der Tunesier­Innen entschieden sich für explizit säkulare, überwiegend linke und linksliberale Parteien.
Revolution in jedem Haus
Ihre Wahlerfolge verdanken islamistische Parteien vor allem der Tatsache, dass sie sich als religiöse Konservative darstellen. Das findet großen Zuspruch, denn die Folgen jahrzehntelanger autoritärer Sozialisation verschwinden nicht über Nacht. In den ersten Wochen und Monaten wurden auf der Straße die Klassenschranken und konfessionellen Grenzen überwunden, die Geschlechter- und Altershierarchie wurde geschwächt. So kämpften Frauen gegen die Polizei, und auf dem Tahrir-Platz fand ein von Muslimen geschützter Gottesdienst statt.
„Die Revolution findet nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt, sie ist in jedem ägyptischen Haus“, schrieb die ägyptische Bloggerin Fatma Emam. Nicht jeder Familienvater, der den Sturz Mubaraks guthieß, will seiner Tochter die Teilnahme an Protesten gestatten. Auch Konservative wollen ihre Regierung wählen, aber sie wollen nicht, dass ihre Töchter den Ehepartner selbst wählen. So kam es nach dem Abflauen der Massenproteste zu einem reaktionären Backlash. Den Frauen wird wieder das Recht abgesprochen, in der Öffentlichkeit zu agieren, von der Militärregierung verbreitete Verschwörungstheorien werden gerne geglaubt, weil sie die Säkularist­Innen diskreditieren. Auch die ökonomischen Verhältnisse begünstigen den Konservatismus. Ein Tagelöhner im Transportgewerbe, der wegen einer Blockade nicht arbeiten kann, muss seine Kinder abends hungrig ins Bett schicken.

Von dem weit verbreiteten Wunsch, dass wieder geordnete Verhältnisse einkehren sollen, profitieren derzeit die „moderaten“ Islamisten. Sie betonen ihre Treue zu demokratischen Regeln. Extremisten wie Chourou müssen auch mit Widerspruch aus den eigenen Reihen rechnen, doch dass es sie gibt, ist nicht der einzige Anlass für Misstrauen. So hat die Muslimbruderschaft entgegen ihren Versprechen die verfassunggebende Versammlung mit ihren Anhängern majorisiert und einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt.
Verglichen mit dem westlichen Parteienspektrum stellen sich Muslimbruderschaft und al-Nahda dar wie CSU oder US-Republikaner, ähneln aber eher der FPÖ Jörg Haiders. Unabhängig von der Konfession ist die national-religiöse Rechte insbesondere in Krisenzeiten immer eine Gefahr für die Demokratie. Es gibt jedoch Faktoren, die die Islamisten zur Respektierung der parlamentarischen Demokratie drängen. Sie sind gute Geschäftsleute, und die Schaffung eines „Gottesstaates“ würde Ägypten und Tunesien das Tourismusgeschäft kosten, von dem in beiden Ländern Millionen Menschen leben.

In der Türkei war der Übergang vom Islamismus zum national-religiösen Konservatismus Erdogans nicht zuletzt dem Interesse der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums geschuldet, besser mit Europa ins Geschäft kommen zu können. Doch greift auch Erdogans AKP immer wieder zu autokratischen Maßnahmen und bemüht sich um die „Islamisierung“ der Alltagskultur, allerdings ohne die Grundlagen des parlamentarischen Systems in Frage zu stellen. Den arabischen Islamisten dürfte zudem klar sein, dass ein großer Teil der Gesellschaft, einschließlich vieler ihrer Wähler, die Schaffung einer neuen Diktatur nicht kampflos hinnehmen würde. Ähnlich wie das ägyptische Militär müssen sie daher lavieren.
Anders verhält es sich mit den Salafisten. Als Salaf (Vorfahren) werden die angeblich frömmeren Muslime der Frühzeit verehrt. Faktisch orientieren sich die Salafisten am Wahhabismus, der extrem puritanischen und intoleranten saudi-arabischen Staatsideologie. Es handelt sich um eine eindeutig rechtsextreme Strömung, die mit Provokationen und Gewalttaten gegen Andersdenkende vorgeht. Dazu gehören koptische Christ­Innen in Ägypten und die jüdische Minderheit Tunesiens, meist aber werden andere Muslim­Innen angegriffen. Säkularist­Innen gelten als Hauptfeinde, doch zerstörten Salafisten im März in Tunesien die Grabstätten von verehrten Geistlichen der konservativen Sufi-Bruderschaften.
Eine Chance, die Macht zu übernehmen, haben die Salafisten derzeit nicht. Dank der Unterstützung aus den Golfmonarchien dürften sie jedoch die finanzkräftigste Fraktion sein, und oft werden ihre Gewalttaten von der Polizei geduldet. Sie spielen ihre Rolle im Rahmen der Strategie der Spannung, die eine autoritäre Herrschaft als wünschenswerte Alternative zu Gewalt und Chaos erscheinen lassen soll.
Prügel statt Jobs
Der Machtkampf der drei Blöcke – Anhänger der alten Ordnung, Islamisten und Salafisten, Demokratie- und Gewerkschaftsbewegung – prägt auch die Entwicklung in den anderen arabischen Ländern. Doch während sich in Ägypten und Tunesien wegen der politischen Öffnung nach dem Sturz des Diktators das politische Kräfteverhältnis abschätzen lässt, ist dies weitaus schwieriger in den Ländern, in denen der Konflikt militarisiert wurde, wie in Libyen, Syrien und auch im Jemen, oder in denen die Proteste vorläufig erfolgreich unterdrückt wurden wie in den Golfmonarchien.

Obwohl erfolgreiche Aufstände immer eine Inspiration für die Menschen in anderen Ländern sind, ist die Revolution in der Regel eine auf spezifischen nationalen Gegebenheiten beruhende Angelegenheit. Nicht so im „arabischen Frühling“, in den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres schien es so, als hätten alle darauf gewartet, dass endlich, endlich jemand anfängt. Auslöser der Revolte war die Selbstverbrennung Mohammed Bouazizis in Tunesien. Bereits als Jugendlicher war er für die Versorgung seiner Familie verantwortlich, er ermöglichte als mobiler Gemüsehändler sich und seinen Geschwist­ern den Schulbesuch. Doch immer wieder wurden seine Waren von Polizisten gestohlen und sein Stand beschlagnahmt. Als er sich beschweren wollte, wurde er geschlagen.

Nicht im Detail, aber im Prinzip war dies das Schicksal der meisten Araber­Innen, auch etwa im vermeintlich reichen Saudi-Arabien, wo in Wahrheit ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt: Für Jobs sorgt die Regierung nicht, und wer sich selbst hilft, wird schikaniert und geschlagen. Hinzu kam der wachsende Widerwille gegen den durch die Zensur erzwungenen Stumpfsinn und die Brutalität des Polizeistaates, der von heute auf morgen jeden verschwinden lassen kann. Doch die gesellschaftlichen Bedingungen und die Herrschaftssysteme unterscheiden sich, und so nehmen auch die Revolten einen unterschiedlichen Verlauf.

In Libyen etwa hat das extrem personalisierte Herrschaftssystem Muammar al-Gaddafis eine weitgehend atomisierte Gesellschaft hinterlassen. Jenseits des Repressionsapparats gab es fast keine staatlichen Institutionen, anders als in Tunesien und Ägypten konnte sich vor der Revolte keine illegale oder halblegale Gewerkschafts- und Menschenrechtsbewegung entwickeln. Die Politik bestand vielmehr in der Politisierung von Verwandtschaftsbeziehungen, Geschäftsleute sowie hohe Offiziere und Bürokraten konkurrierten im Namen „ihrer“ Bevölkerungsgruppe um die Gunst des „Revolutionsführers“. Diese „Stammeskonflikte“ dauern unter den neuen Machtverhältnissen an, und obwohl es heftige Proteste etwa der Frauen gegen die „Islamisierung“ des Familienrechts gibt, ist derzeit der Einfluss der Milizenführer entscheidend.

Im Jemen scheint die gewaltige Kluft zwischen Stadt und
Land eine wichtige Rolle zu spielen. Monatelang trotzte die Demokratiebewegung prügelnden Polizisten, Heckenschützen und sogar Granatenbeschuss, blieb jedoch in wenigen Städten isoliert. Die Proteste bewirkten einen Zerfall der herrschenden Oligarchie, die Armee ist nunmehr gespalten, und auf dem Land haben bewaffnete Islamisten einige Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Mehr als 1500 Menschen wurden getötet.

Manch einer fragte sich daher, was Außenminister Guido Westerwelle wohl meinte, als er Anfang März den „friedlichen Wandel“ im Jemen lobte und sogar als Modell für die arabische Welt, insbesondere für Syrien, pries. Eine indirekte Antwort gab er beim anschließenden Besuch in Saudi-Arabien, dessen Zweck nach Angaben des Auswärtigen Amtes die „enge Abstimmung mit einem Schlüsselakteur“ war. Saudi-Arabien spielt eine wichtige Rolle beim Krisenmanagement im Jemen. Fast genau ein Jahr zuvor hatten Truppen des von Saudi-Arabien dominierten Golfkooperationsrats (GCC) in Bahrain interveniert, um den König bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung zu helfen. Beim Besuch im Hauptquartier des GCC in Riad lobte Westerwelle dessen „Meinungsführerschaft auch gerade bei der regionalen Konfliktlösung“, „die wir unterstützen und auch ausdrücklich ermutigen“.
Monarchen für den Glaubenskrieg
Die sunnitischen Golfmonarchien wollen die Demokratisierung verhindern, aber die Gelegenheit nutzen, um das schiitische iranische Regime und dessen Verbündete, vor allem Syrien, zu beseitigen oder zu schwächen. Die erzreaktionären Monarchen betreiben, wie der Iran, eine Konfessionalisierung des Konflikts, die vor allem in Syrien katastrophale Folgen haben könnte. Auch der syrische Aufstand begann als friedliche Demokratiebewegung. Dass die Syrer­Innen nach einigen Monaten der Massaker zu den Waffen griffen, war eine wohl unvermeidliche Entscheidung. Doch wenn es keine starke zivile Führungsstruktur gibt, schwächt die Militarisierung die demokratischen Kräfte.
Obwohl mehr als 9000 Menschen getötet wurden, gibt es auch weiterhin friedliche Kundgebungen. Doch die Opposition ist zerstritten, und es ist unklar, wie das Kräfteverhältnis innerhalb der Opposition ist. Die Golfmonarchien bemühen sich derzeit, den Aufstand zu einem Kampf gegen die schiitische Minderheit der Alawiten zu machen, die das Regime dominiert. Die Waffen, die sie nun an ihre islamistischen Verbündeten in Syrien liefern, werden früher oder später auch dem Kampf gegen die Demokratiebewegung dienen. Diese Politik ist es, die Westerwelle und andere westliche Politiker „unterstützen und auch ausdrücklich ermutigen“.

Doch aus einer Position der Stärke handeln die Golfmonarchen nicht. Bislang waren die Protestaktionen mit Ausnahme der Revolte in Bahrain klein, wie besorgt die Herrscher sind, beweist jedoch die Tatsache, dass sie nun sogar den islamistischen Republikanismus der Muslimbruderschaft fürchtet. Die Organisation soll garantieren, dass sie nicht in den oder gegen die Golfmonarchien agitiert, bevor Kredite für Ägypten freigegeben werden.

Die Kredite werden dringend benötigt, denn das Land steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Es hat somit auch seine Vorteile, dass nun die regierenden Islamisten sich blamieren werden, denn ihre Parole „Der Islam ist die Lösung“ wird keine Arbeitsplätze schaffen. Bereits jetzt macht sich Enttäuschung bemerkbar. „Die Abgeordneten der Muslimbruderschaft und der Salafisten, die wir in Port Said gewählt haben, ignorieren unsere Forderungen“, beklagte etwa einer der streikenden Fahrer der Delta Bus Company. Der während der Revolution gegründete unabhängige Gewerkschaftsverband hat nun 1,6 Millionen Mitglieder.

Seine Forderungen weisen über unmittelbare betriebliche Belange hinaus, die Gewerkschaften treten auch für die Schaffung einer Sozialversicherung und ein kosten­loses Bildungssystem ein. Bei vielen Streiks geht es nicht allein um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Streikenden der Delta Bus Company etwa forderten auch eine ausreichende Versorgung mit Ersatzteilen, um das chronisch unzuverlässige öffentliche Transportsystem zu verbessern. Die Gewerkschaftsbewegung ist auch das notwendige Bindeglied zwischen den intellektuellen Mittelschichten, die den Kern der säkularen Demokratiebewegung stellen, und der bäuerlichen Bevölkerung sowie den im informellen Sektor Beschäftigten. Die Zukunft der Revolution wird vor allem davon abhängen, ob es gelingt, die bislang noch passiven Teile der Armutsbevölkerung durch soziale Forderungen zu integrieren.

Es sollte nicht vergessen werden, dass zwischen der Französischen Revolution und der Einführung des Frauenwahlrechts mehr als 150 Jahre vergingen. Ungeachtet der derzeit verbreiteten Enttäuschung kann daher konstatiert werden, dass die arabischen Revolutionär­Innen schon sehr viel erreicht haben. Die vielleicht wichtigste Veränderung ist ein nicht messbarer, aber überall spürbarer massenpsychologischer Effekt: Die bleierne Zeit ist vorbei. Millionen Menschen haben begonnen, eigenständig zu denken und zu handeln, und daran kann auch der Beschuss mit schwerer Artillerie nichts mehr ändern.

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