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Zum Wahlergebnis vom 6. Mai: Der Schatten Weimars über Griechenland

Von Andreas Kloke | 07.06.2012

Die griechischen Parlamentswahlen haben zu einer erdbebenähnlichen Veränderung der Parteienlandschaft geführt und das Ende der „Zwei-Parteien-Herrschaft“ der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND) und der sozialdemokratischen PASOK mit sich gebracht.

Die griechischen Parlamentswahlen haben zu einer erdbebenähnlichen Veränderung der Parteienlandschaft geführt und das Ende der „Zwei-Parteien-Herrschaft“ der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND) und der sozialdemokratischen PASOK mit sich gebracht.

Im Vergleich zu den Wahlen von 2009 stürzte die regierende PASOK von 43,9 auf 13,2 % ab, ND brachte es als nunmehr stärkste Partei auf 18,9 % (2009: 33,5 %). Dagegen stieg SYRIZA („Bündnis der radikalen Linken“) von 4,6 auf 16,8 % und wurde damit zweitstärkste Partei. Auf Platz 4 (mit 10,6 %) liegen die „Unabhängigen Griechen“ von P. Kammenos, eine rechtsnationalistische Abspaltung von ND. Sie wurde erst im Februar 2012 gegründet und lehnt die Unterstützung der Memoranden-Politik ab. Platz 5 belegt die bisher stärkste Linkspartei KPG (KKE) mit 8,5 % (2009: 7,5 %). Danach folgt Chrysi Avgi („Goldene Morgenröte“), eine Messerstecherbande neonazistischer Hitler-Nostalgiker mit 7,0 % (441 000 Stimmen; 2009: 0,3 %), was sicher den eigentlichen „Knüller“ dieser Wahlen darstellt.

Auf Platz 7 landete die „Demokratische Linke“ (DIMAR) mit 6,1 %. DIMAR wurde 2010 gegründet und ist eine Rechtsabspaltung des Synaspismos (SYN), der linksreformistischen, aus dem Eurokommunismus hervorgegangenen Partei, die den Hauptbestandteil von SYRIZA bildet. Der rechtsextreme LAOS scheiterte mit 2,9 % (2009: 5,6 %) diesmal an der 3 %-Hürde, ebenso die „Grünen Ökologen“ mit 2,9 % (2009: 2,5 %) sowie drei rechts-neoliberalen Formationen, nämlich „Demokratisches Bündnis“ (DISI) mit 2,6 %, „Dimourgia xana“ mit 2,2 % und „Aktion“ (Drasi) mit 1,8 %.

ANTARSYA („Antikapitalistische Linksallianz für den Umsturz“), im Wesentlichen ein Zusammenschluss von rund 10 antikapitalistisch-revolutionären Organisationen, erhielt 1,2 % (über 75 000 Stimmen; 2009: 0,36 %), das Bündnis zweier ML-Organisationen 0,3 %, die sich auf den Trotzkismus berufende EEK 0,1 %.

Der Anteil der abgegebenen gültigen Stimmen lag mit 62,7 % (2009: 68,9 % und 2007: 72,1 %) wieder deutlich niedriger als je zuvor, was auch als ein Indiz für die fallende Akzeptanz der seit dem Sturz der Militärjunta von 1974 etablierten parlamentarischen Demokratie in der griechischen Bevölkerung zu bewerten ist.

Es steht außer Frage, dass das Wahlergebnis die völlige Ablehnung der Memoranden-Politik durch die klare Mehrheit der Wählerschaft zum Ausdruck bringt. Einerseits ist der Anteil der Linken im weiteren Sinn auf 34 % gestiegen (wenn man die Ökologen dazurechnet, auf 37 %), andererseits bringt es das „Anti-Memorandum“-Lager insgesamt auf rund 60 %. Das sehr gute Ergebnis der Linken ist sicher auf die Generalstreiks der beiden letzten Jahre und besonders die großen Mobilisierungen und Platzbesetzungen, besonders des Syntagma-Platzes, von Mai 2010 bis Juli letzten Jahres zurückzuführen. Hinzu kamen die großen Generalstreiks vom 12. und 13. Oktober und der Massenprotest von weit über einer halben Million Demonstrierenden vom 12.2. d. J. allein in Athen. Mit anderen Worten: Es war die machtvolle gegen die Memoranden-Politik gerichtete Bewegung vor allem von Mai 2010 bis Februar 2012.
Die „Unregierbarkeit“ des Landes
Ein entscheidendes Problem, das mit dem Wahlergebnis verbunden ist, ist die sogenannte „Unregierbarkeit“ des Landes, d. h. die großen Schwierigkeiten, die Memoranden-Politik unter dem Deckmäntelchen „demokratischer“ Regierungskoalitionen fortzuführen. Die führenden Politiker, aber auch die systemkonformen Medien Griechenlands und Europas (wie üblich, vor allem Deutschlands) haben eine wüste Propagandaschlacht gestartet, um Griechenland auf Kurs zu halten und die Memoranden-Knechtschaft, die die Ruinierung und Ausplünderung der griechischen Gesellschaft zugunsten der ungehemmten Vorherrschaft des in- und ausländischen Kapitals bedeutet, abzusichern. Die Rufe nach dem Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone werden immer lauter.

Eine Schlüsselrolle kommt wegen ihres guten Wahlergebnisses der SYRIZA-Führung unter A. Tsipras zu. Nachdem die Vorstellungen der linken Parteien insgesamt im Wahlkampf als „unrealistisch“, „brandgefährlich“, „katastrophal“ etc. abgetan worden waren, wurde der Spieß nach den Wahlen umgedreht und SYRIZA aufgefordert, die „Verantwortung zu übernehmen“, mit ND, PASOK und DIMAR eine „Regierung der nationalen Einheit“ zu bilden. Besonders übel war dabei auch die Rolle dar DIMAR-Führung, die gern an einer Regierung teilnehmen würde, sich aber angesichts des Wahlergebnisses ohne Einwilligung von SYRIZA nicht dazu traute. Ein tagelanges Hickhack um die Bildung einer neuen Regierung setzte ein, endete aber ohne Ergebnis. Daher gehen die Wahlen am 17. Juni in die zweite Runde. Aktuellen Umfragewerten zufolge hat SYRIZA bes­te Aussichten, mit weit über 20 % stärkste Partei zu werden und damit auch den „Bonus“ von 50 (der 300) Parlamentssitzen zu ergattern. Diese total undemokratische Regelung war eigens ins Wahlgesetz aufgenommen worden, um wenigstens einer Koalition aus ND und PASOK eine Mehrheit zu ermöglichen, wozu es dann aber doch nicht reichte, da beide zusammen nur 149 Sitze erhielten.

Es ist nicht zu bestreiten, dass SYRIZA nicht zufällig zur ersten Kraft auf der Linken geworden ist. Gerade weil SYRIZA im Wahlkampf von einer „Linksregierung“ gesprochen hat, um z. B. KKE unter Druck zu setzen, aber auch, weil sie gleichzeitig trotz einer Ablehnung der Memoranden-Politik keinen Austritt aus der Eurozone befürwortet, ist sie massenhaft gewählt worden. Dies reflektiert teilweise die seit Februar eingetretene Stagnation bzw. Schwäche der Widerstandsbewegung und das nun sichtbar gewordene Aufflackern der – sehr vagen – Hoffnung, eine grundsätzliche Änderung der Regierungspolitik sei im Rahmen wechselnder Parlamentsmehrheiten erreichbar.

Die SYRIZA-Führung gerät nun aufgrund der Zweideutigkeiten ihrer Wahlversprechen von zwei Seiten unter Beschuss: Einerseits können die Kräfte des Establishments SYRIZA bedrängen, alles dafür zu tun, dass Griechenland in der Eurozone verbleibt, oder SYRIZA auch für ein eventuelles Scheitern dieser Absicht verantwortlich machen und bloßstellen. Andererseits gibt es auf der Linken Kritiker, die nicht zu Unrecht darauf hinweisen, dass die diversen Versprechen der SYRIZA-Führung inkonsistent und widersprüchlich sind. Es ist praktisch nicht vorstellbar, dass eine griechische Linksregierung – falls sie jemals zustande kommen sollte – eine Aufkündigung der Memoranden-Politik und damit auch der mit der Troika vereinbarten Kreditverträge, die eine Erdrosselung der griechischen Gesellschaft bedeuten, b
ewerkstelligen könnte, ohne dass Griechenland aus der Eurozone austritt oder hinausgeworfen wird.
SYRIZA, KKE und ANTARSYA
Anders gesagt: Eine konsequente „Reformpolitik“ im Sinn der arbeitenden Bevölkerung und aller Memoranden-Opfer, die nicht in direkten Konflikt mit den Interessen des Finanz- und Großkapitals Griechenlands, der EU-Länder und der USA gerät, wird es aller Voraussicht nach nicht geben können. Die SYRIZA-Führung ist alles andere als darauf vorbereitet, diesen unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen den unvereinbaren Interessen der Täter und Opfer, der Ausbeuter und Ausgebeuteten, politisch zu leiten. Allerdings wird sie in der einen oder anderen Weise Farbe bekennen müssen.

SYRIZA ist eine Allianz, an der zwar auch einige „halb-stalinistische“ und „halb-trotzkistische“ Organisationen aus dem Milieu der (bislang) außerparlamentarischen Linken teilnehmen, wird aber von der SYN-Führung dominiert. Diese geht davon aus, dass die Probleme der weltweiten kapitalis­tischen Krise, aber auch der Krise der griechischen Gesellschaft mit „keynesianischen“ Mitteln, also im Rahmen der kapitalistischen Ausbeuterordnung zu lösen sind. Der „Sozialismus“ ist in dieser Perspektive bestenfalls ein fernes Endziel und nur „gesamteuropäisch“ etc. zu verwirklichen.

Trotz ihres „radikalen“ Namens ist SYRIZA eine auf begrenzte Reformen ausgerichtete Allianz, wenn auch in Nuancen etwas linker als „Die Linke“ in Deutschland. Dass Tsipras sich mit dem französischen Präsidenten F. Hollande verständigen möchte, um über eine Beendigung der  Memoranden-Politik zu beraten, ist sicher kein gutes Zeichen. Die Explosivität der entstandenen sozialen und politischen Konstellation wird allerdings eine Klärung der Widersprüche, die in der Politik der SYRIZA-Führung angelegt sind, unausweichlich machen. Zu stark ist das Bedürfnis der großen Bevölkerungsmehrheit, der fortgesetzten Verelendungspolitik ein Ende zu bereiten, zu schwach der bisherige Wille und die Fähigkeit der SYRIZA-Führung, dieses Bedürfnis in reale antikapitalistische (letztlich: revolutionäre) Politik umzusetzen.

Die KKE-Führung hat sich aufgrund des für sie nicht sehr günstigen Wahlresultats dazu entschlossen, sich noch stärker von SYRIZA und der übrigen Linken abzuschotten. Der Nachteil dieser Haltung besteht darin, dass es immer schwieriger wird, die eigene Basis mit dieser Strategie und Taktik von irgendeiner Erfolgsperspektive zu überzeugen. Die KKE-Führung hält den Sturz der betriebenen Memoranden-Politik durch Massenmobilisierungen von unten und die Bewegung selbst mehr oder weniger offen für aussichtslos und verweist auf eine künftige „Volksökonomie“ und „Volksdemokratie“. Sie ist aber nicht in der Lage zu erklären, wie ihre Ziele anders zu erreichen sein sollen als durch ein plötzliches massenhaftes Ansteigen der KKE-Wähler­Innenschaft, das offenbar nicht in Sicht ist. Wie dadurch alle verbal verkündeten Zielsetzungen, besonders die Überwindung des Imperialismus und Kapitalismus, durchsetzbar sein sollen, bleibt das Geheimnis der Parteiführung. Absehbar ist, dass die Partei selbst in eine Krise gerät, die bald zu größeren Reibungsverlusten führen kann.

ANTARSYA hat mit 1,2 % zwar kein sensationell gutes, aber solides Wahlresultat erreicht. Sie war die wesentliche Kraft auf der Linken, die die Bedeutung der sozialen Widerstandsbewegung durch Streiks, Besetzungen und Massenproteste, der Selbstorganisierung aller von der Memoranden-Politik Betroffenen, der Arbeitenden, jungen Menschen und Rentner/innen, der teilweise „illegalen“ Immigrantinnen und Immigranten in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne gestellt hat. ANTARSYA hat durch die Propagierung eines Programms tatsächlicher Übergangslosungen, die an den realen Bedürfnissen der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit orientiert sind und auf die Selbstorganisierung der Betroffenen abzielen, und durch das Festhalten an der Perspektive des antikapitalistisch-revolutionären Umsturzes des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems den Weg aufgezeigt, auf dem der soziale Widerstand siegreich sein kann.

ANTARSYA hätte durch ein konsequenteres politisches Auftreten in den vergangenen beiden Jahren, durch größere Geschlossenheit, bessere Aktivitäten der lokalen Komitees u. a. ein besseres Ergebnis erzielen können. Gegen die vorherrschende Stimmung für einen parlamentarischen Wechsel hauptsächlich in der letzten Woche vor den Wahlen war allerdings kaum ein Kraut gewachsen. Da die Losung der „Linksregierung“ vor den Wahlen nebulös war und auch jetzt weiter bleibt, war es im Wesentlichen richtig, derartigen Hoffnungen keinen Vorschub zu leisten. Allerdings könnte man sich in ANTARSYA eventuell darauf verständigen, eine Erklärung herauszubringen, eine Linksregierung unter bestimmten Bedingungen kritisch zu unterstützen. Das ist bisher aber nicht geschehen. Die grundsätzliche politische und programmatische Orientierung von ANTARSYA bleibt trotz allem richtig.

Für die Ausbreitung der braunen Pest in Griechenland, die nur noch einen Schritt davon entfernt ist, sich in eine faschistische Massenbewegung nach dem Vorbild der NSDAP vor 1933 zu verwandeln, sind vor allem die seit Jahrzehnten vorherrschende rassistische Hetze und der Chauvinismus in den Massenmedien und durch die offizielle Politik sowie der üble staatliche Rassismus verantwortlich. Aber auch die Apathie und Gleichgültigkeit der Parteien und Organisationen der Linken und der Arbeiter­Innenbewegung haben stark zum Vormarsch der Nazibande beigetragen und diese Verantwortung ist sehr ernst. Es ist höchste Zeit, diesen verhängnisvollen Trend umzukehren. Es mag sein, dass in Griechenland derzeit das Gespenst einer Linksregierung umgeht, schwerwiegender ist aber das Abdriften der sozialen und politischen Zustände in Richtung Weimarer Verhältnisse. Der griechische Kapitalismus und seine bürgerliche Demokratie haben diese Geisterstunde selbst heraufbeschworen. n

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