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Russland: „Wir haben genug von alledem“

Von Interview: Aykut Kiliç | 14.06.2012

Ilya Boudraitskis gab Yeni Yol, der türkischen Sektion der IV. Internationale, das hier abgedruckte Interview. Ilya ist führendes Mitglied von Vperiod, russische Sektion der IV. Internationale, und gleichzeitig Führungsmitglied der Sozialistischen Bewegung Russlands (SBR). Die SBR ging vor einem Jahr aus einer Fusion von Vperjod und Sozialistischer Widerstand (SW) hervor. Zuvor war SW aus dem Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI, in Deutschland: SAV) ausgeschlossen worden. Die Fragen stellte Aykut Kiliç (Yeni Yol).

Ilya Boudraitskis gab Yeni Yol, der türkischen Sektion der IV. Internationale, das hier abgedruckte Interview. Ilya ist führendes Mitglied von Vperiod, russische Sektion der IV. Internationale, und gleichzeitig Führungsmitglied der Sozialistischen Bewegung Russlands (SBR). Die SBR ging vor einem Jahr aus einer Fusion von Vperjod und Sozialistischer Widerstand (SW) hervor. Zuvor war SW aus dem Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI, in Deutschland: SAV) ausgeschlossen worden. Die Fragen stellte Aykut Kiliç (Yeni Yol).


Aykut Kiliç: Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 4. März brachte das allseits erwartete Ergebnis: Wladimir Putin hat sich wieder die Macht angeeignet, die er 2008 vorübergehend Medwedjew übertragen hatte. Es sieht aber so aus, als würden die massiven Proteste, die im Dezember unmittelbar nach der Duma-Wahl ausbrachen, weitergehen. Wer sind die Protestierenden? Was fordern sie? Welche politischen Kräfte sind in dieser Bewegung aktiv?

Ilya Boudraitskis: Nachdem Wladimir Putin beim ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt worden war, fand sich die massive Bewegung, die im Dezember ihre größte Mobilisierungsstufe erreicht hatte, in einer komplizierten Lage. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf das Wahlthema. Die Parole: „Für ehrliche Wahlen“ war ein Aufruf, der sich an die unterschiedlichsten Kräfte richtete, von der extremen Rechten bis zur radikalen Linken, mit dem Ziel, sich für gemeinsame Aktionen zusammenzutun. Diese Parole führte letztlich dazu, dass die Forderungen auf eine einzige reduziert wurden: freie und ungefälschte Wahlen. Ihre Wortführer waren überzeugt, dass „ehrliche“ Wah­len zwangsläufig zur Niederlage Putins führen würden, der jegliche Wahlunterstützung, auch die passive, verloren habe und nur dank der Machenschaften des bürokratischen Apparates die Macht behalten könne.

Die Wahlfrage hat Hunderttausende zusammengebracht, weil sie direkt mit der Zukunft des politischen Regimes verbunden ist. Wenn mensch die Demonstrierenden über die Gründe für ihre Beteiligung an den Protesten vom 10. und 24. Dezember fragte, dann kam am häufigsten die Antwort: „Wir haben genug von alledem.“ Und: „Uns reicht es mit Putin.“ Dieser „Übergangszustand“, in dem sich die Gesellschaft befand, erforderte eine Klärung der programmatischen Forderungen der Bewegung. Dies hätte ihre soziale Basis verbreitern können und sie hätte sich dann in den Augen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als wirkliche Alternative präsentieren können. Die Mehrheit der Bevölkerung ist schließlich in politischen Fragen immer noch sehr passiv.

Aber die Führer der Opposition haben die Sache ganz anders gesehen. Diese liberalen Politiker und Koordinatoren des Komitees „Für ehrliche Wahlen“, die diese Versammlungen organisiert und den frei gewordenen politischen Raum monopolisiert haben, haben sich auf die Frage der Wahlen konzentriert und damit auf die „politische Reform“, nämlich auf die Änderung des antidemokratischen Gesetzes „Über die politischen Parteien“. Sie haben bewusst jegliche soziale Forderung von der Tagesordnung der Treffen ferngehalten.

So war es nicht verwunderlich, dass sich die Bewegung, die am 10. Dezember nicht nur die Hauptstadt, sondern fast alle großen Städte des Landes erschüttert hatte, anschließend nur noch in Moskau und in geringerem Maße in St. Petersburg hielt und damit die Provinzstädte den Putin’schen Agitatoren überließ. Am 24. Dezember trat völlig unerwartet Alexej Kudrin auf der Kundgebung auf. Dieser Politiker war 11 Jahre lang Finanzminister und ist erst vor ein paar Monaten – im Zusammenhang mit einem Skandal – zurückgetreten. Er wird als einer der wichtigsten neoliberalen Strategen der russischen Elite angesehen, und seine Solidarisierung hat alle überrascht. Er bot sich als Unterhändler an, um mit Putin über politische Reformen zu verhandeln.

Der Rechtspopulist Mikhail Prokorow, einer der reichsten Männer des Landes und mit seinem Privatvermögen von 18,5 Mrd. $ auf Rang 40 der internationalen Forbes-Liste, hat ebenfalls versucht, sich als Kandidat der Bewegung für diese Wahl zu präsentieren, nicht ohne Erfolg. Obwohl die soziale Zusammensetzung der Kundgebungsteilnehmer_innen in Moskau sehr breit war – von mehr oder weniger wohlhabenden Mittelständler_innen bis zu armen Arbeiter_innen des Öffentlichen Sektors –, gelang des den regierungsnahen Medien, ihn als den „Superhelden“ der reichen Moskauer_innen darzustellen, denen das traurige Schicksal der großen Mehrheit der Bevölkerung im Land völlig schnuppe ist.

Die Versammlungen, die zur Unterstützung Putins organisiert wurden (diese „Meetings“ werden heute als die „Putings“ bezeichnet), haben ebenfalls sehr stark zu dieser Polarisierung beigetragen. Unter dem Eindruck von Tausenden Beschäftigter des staatlichen Sektors – auf dem Meeting vom 23. Februar waren es 180 000 – sprachen sich nicht wenige Fabrikchefs und Manager im Namen der „Arbeitswelt“ für „die Stabilität“ und das „würdige Leben“ aus und riefen zur Wahl Putins auf. Die Medien und liberalen Politiker bezeichneten die Teilnehmenden an diesen Versammlungen als die „Verlierer“ in der Gesellschaft und die Teilnehmer­Innen an den Aktionen der Opposition als die „besser gestellten Personen im Land“.

Im Verlauf der Februar-Aktivitäten waren die Anti-Putin-Gefühle sehr verbreitet. Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Februar und Dezember, als sich die Proteste gegen die Korruption und die repressive Politik des Regimes richtete und einen „Wandel“ forderten, auch wenn dies auf zwiespältig Weise geschah?

Ilya: Im Februar fanden die Protestaktionen fast ausschließlich in den gros­sen Städten statt und konzentrierten sich auf die Wahlkampagne. Ihre Führer verzeichneten selbstverständlich zahlreiche Wahlfälschungen durch Putins Wahlkampfteam, das damit den Sieg schon beim ersten Wahlgang sicherstellte. Die Oppositionsführer wollten mit dem Bekanntmachen der Wahlfälschungen der Bewegung neuen Schwung verleihen und erreichen, dass die Präsidentschaftswahl als illegitim angesehen wird. Deshalb hat die Bewegung keine umfassenderen politischen Forderungen entwickelt und sie hat sich auf die Losung beschränkt: „Für ehrliche Wahlen“, was mensch ja schon im Dezember hören konnte. Innerhalb der Opposition traten eher technische Fragen an die Stelle der politischen, während auf d
er anderen Seite Putin sich als ein Führer präsentierte, der auf alle wichtigen Fragen eine konkrete Antwort hatte, von der Rentenreform bis zur Außenpolitik.
Im Februar hatten sich Zehntausende, die die Wahlfälschungen voraussahen, als freiwillige Wahlbeobachter der Wahlen vom 4. März eingeschrieben. Sie betrachteten ihre Anwesenheit in den Wahlbüros als ihren wichtigsten Beitrag für den Kampf und die Wahlen als eine Art „Entscheidungstag“, der einen Umbruch markieren sollte. Es gab jeweils fünf bis sechs Wahlbeobachter in jedem der mehreren tausend Moskauer Wahlbüros. Selbst nach den Schätzungen der unabhängigen Beobachter, die zum Beobachternetz gehörten, gab es wenige Wahlfälschungen und Wladimir Putin erzielte 45 % der Stimmen. Auch wenn es außerhalb Moskaus, auf das Gesamtterritorium bezogen, mehr Wahlfälschungen gegeben hat, so steht doch eindeutig fest, dass Putin mehr Stimmen als jeder andere Kandidat bekommen hat. Am 5. März, dem Tag nach der Wahl, kamen 20 000 Menschen in Moskau zur Protestaktion zusammen, was ein starker Rückgang gegenüber Dezember ist und sogar gegenüber Februar stark abfiel. Die Ausführungen der Redner­Innen, die zu einer Nichtanerkennung der Wahl aufriefen und dazu, Putin nicht als legitimen Präsidenten anzuerkennen, waren noch enttäuschender.

Die anderen politischen Kräfte, die vor den Wahlen auf die Straße gingen, waren die Anhänger Putins und die Nationalisten. Wenn wir von der Bourgeoisie und dem, was die russischen Sozialist­Innen als „parasitäre Bürokratie“ bezeichnen, absehen: Aus welchen Sektoren erhält Putin Unterstützung? Mit welchen Aspekten seiner Politik gelingt es ihm, die­se Unterstützung zu gewinnen?

Ilya: Wir können ohne den geringsten Zweifel feststellen, dass die massive Stimmabgabe für Putin zu einem ­großen Teil eine Konsequenz des politischen Scheiterns der Opposition ist, d. h. des völligen Fehlens sozialer Forderungen, des bewussten Unter-den-Teppich-Kehrens der wirklichen Unterschiede in den politischen Anschauungen der Mitglieder im Organisationskomitee der Opposition und schließlich des Fehlens eines wirklichen Programms für einen politischen und sozialen Wandel, der es ermöglichen würde, mit dem System Putin Schluss zu machen. Für den größten Teil der Bevölkerung bedeutete die Wahl zwischen Putin und seinen Gegnern die Wahl zwischen Stabilität auf der einen Seite und einer ungewissen Zukunft, die sicher schlechter ist als die Gegenwart, auf der anderen Seite. Das Staatsfernsehen hat sehr viel zu diesem Empfinden beigetragen. Der Regierungskanal hat fast keinen Einfluss in Moskau und St. Petersburg, wo viele Menschen nicht fernsehen, sondern sich über das Internet informieren. Aber dieser Kanal ist draußen im Land sehr einflussreich. Das negative Image einer ganzen Reihe liberaler Führer hat ebenfalls eine große Rolle gespielt. Personen wir Boris Nemtsow und Wladimir Ryjkow  werden als „Leute der 1990er Jahre“ angesehen, diese Figuren spielten unter Yeltsin eine große Rolle und waren aktiv an den Reformen des Typs „Schocktherapie“ beteiligt.
Aber auf einer allgemeineren Ebene erklärt sich der Erfolg Putins bei den ärmsten und unterdrücktesten Schichten vor dem Hintergrund der Verarmung und auch Desintegration der Gesellschaft nach der Restauration des Kapitalismus. Das Fehlen jeglicher Praxis von Selbstorganisation, die Angst vor den Chefs, die ständige Angst vor dem nächsten Tag und das fehlende Selbstvertrauen in jegliche Beteiligung an politischen Aktivitäten sind wesentliche Charakteristika der postsowjetischen Gesellschaft, die in der Wahlmobilisierung für Putin genutzt werden konnten. Die Hauptlosung seiner Kampagne war: „Ich oder das Chaos.“ Dies hat ganz zweifellos zu seinen Gunsten gewirkt.

Es gibt in Russland verschiedene nationalistische Gruppen, von den gemäßigten bis zur extremen Rechten. Einige von ihnen haben sich an den Mobilisierungen beteiligt. In Russland pflegen alle bürgerlichen Parteien, angefangen bei „Einiges Russland“, der Partei Putins, einen nationalistischen Populismus und machen Anleihen bei anti-migrantischer Hass-Ideologie. Was unterscheidet diese natio­nalistischen Gruppen? Warum nehmen sie an den Protesten teil? Wie weit kann ihr Einfluss auf die Bewegung gehen?

Ilya: Seit Anfang der Bewegung im Dezember war die nationalistische Rechte in zwei Lager gespalten. Das erste ist die „traditionelle“ Strömung; sie ist eher anti-westlich, zaristisch und orthodox-fundamentalistisch und hat beschlossen, nicht an der Bewegung teilzunehmen. Diese Strömung bezeichnet die Oppositionsführer als „Zionisten“ und ausländische Agenten. Die zweite Strömung ist jünger und dynamisch und besteht aus Gruppen wie „Russen“, „Russische Plattform“ usw. Diese Organisationen bezeichnen sich als „national-demokratisch“ und haben die Bewegung unterstützt. In ihrer Sicht definiert sich „Nationaldemokratie“ als ethnisch russischer Staat, ohne Minderheiten, vor allem ohne Moslems oder Menschen aus dem Kaukasus. Einer ihrer Hauptlosungen ist: „Schluss mit der Subventionierung des Kaukasus“. Sie werfen Putin seine Beziehungen zu blutrünstigen kaukasischen Führern vor, denen er staatliche Gelder zukommen lässt, die damit den Regionen mit „einheimischen“ Russen fehlen. Diese Gruppen werden von Alexej Navalny unterstützt, einem der populärsten Führer der Bewegung, der sich selbst als gemäßigten Nationalisten bezeichnet.
Diese Gruppen sind sehr sichtbar, aber sie stellen eine unbedeutende Minderheit der Bewegung. Jetzt, da sich die Bewegung in der Krise befindet und Veränderungen anstrebt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Nationalisten sich davon entfernen, um ihr eigenes Spiel zu betreiben. Es scheint, dass Dimitry Rogozin, der bekannteste nationalistische Führer in der Regierung, der im Präsidentschaftswahlkampf Putin passiv unterstützt hat, gerade dabei ist, eine neue Partei zu gründen, und zwar mit viel Geld und großer medialer Unterstützung. Und es ist auch bekannt, dass alle „National-Demokraten“ mit ihm verhandeln.

Gibt es auch draußen im Land eine Protestbewegung, im Besonderen in den „Fabrik-Städten“, wo es nach dem Ausbruch der Krise von 2008 bedeutende Arbeiter­Innenkämpfe gegeben hat?

Ilya: Nach der „ersten Welle“ der Wirtschaftskrise – Ende 2008/Anfang 2009 – haben Tausende Arbeiter­Innen der „Fabrik-Städte“ (das sind kleine Städte, wo die große Mehrheit der Einwohner­Innen in demselben Unternehmen arbeitet) sehr lange auf die Lohnzahlung warten müssen. Aber die Protestbewegungen vom Sommer 2009 wurden schnell erstickt, und zwar mittels riesiger Geschenke, die den Großbetrieben zur Verfügung gesellt wurden – finanziert mit öffentlichen Geldern –, um die Löhne zu bezahlen. Obwohl kein einziges dieser Unternehmen, die ihren eigenen Verpflichtungen nicht nachgekommen waren, verstaatlicht wurde, betrachteten die Menschen diese Regierungspolitik als Ausdruck des paternalistischen Interesses, das die Eliten für die „kleinen Leute“ haben.
In der Folge gab es aufgrund verschärfter Bedingungen für die Kreditvergabe und der damit einhergehenden Senkung der Reallöhne einige lokale Explosionen. Die Mobilisierung der Bergleute vo
n Kusbass im Sommer 2010 gehört zu den bedeutendsten. Aber insgesamt betrachtet hatte die Krise einen negativen Einfluss auf die Dynamik gewerkschaftlicher Kämpfe: Die Entwicklung von „neuen Gewerkschaften“, die seit  2009 im Gang war, hat sich deutlich verlangsamt.

Welches ist die Strategie, so sie auszumachen ist, der Sozialisten, der Anarchisten und anderer politischer Bewegungen gegenüber der Protestbewegung? Gibt es Verbindungen zwischen den Gruppen? Nehmen sie an den Mobilisierungen teil?

Ilya: Fast alle organisierten Gruppen der Linken haben an den Mobilisierungen teilgenommen und haben versucht, bei den Kundgebungen und Demos einen „linken Pol“ zu bilden. Ende Januar gab es in Moskau ein linkes Forum, das einen Koordinationsrat gebildet und eine Erklärung verabschiedet hat, mit der die Bildung einer antikapitalistischen Partei eingeleitet werden soll. Vertreten war die Linksfront (eine Formation, die aus der poststalinistischen radikalen Linken hervorging), eine bedeutende Gruppe, die aus einer Spaltung der KP der Russischen Föderation hervorging, und einige andere linke Gruppen. Die Sozialistische Bewegung Russlands (SBR) war ebenfalls vertreten. Einige Anarchisten waren als Beobachter_innen dabei.

Heute, da das Parlament ein neues „Parteiengesetz“ verabschiedet hat, das die Registrierung politischer Parteien deutlich erleichtert, sind wir in Verhandlungen zur Gründung einer Partei, die dann auch offiziell registriert werden kann: Wir streben eine Art „Einheitsfront“ an, die es uns erlauben würde, gemeinsam zu Wahlen anzutreten, was eine Grundlage für eine späteres Zusammengehen bilden wird.

Man weiß, dass die Kommunistische Partei der russischen Föderation nichts anderes ist als eine korrumpierte und bürokratische Struktur, die nicht die Absicht hat, sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter­Innenklasse einzusetzen. Aber sie kann immer noch ca. 20 % der Stimmen einfahren. Welche Rolle spielte die Kommunistische Partei in den Mobilisierungen? Hat sie versucht, der Bewegung eine Perspektive zu weisen?

Ilya.: In Moskau und in Petersburg hat sich die KP offiziell gegen die Bewegung gestellt, die ihr Führer Sjuganow öffentlich als „orange Gift“ bezeichnete. Aber auf lokaler Ebene haben Mitglieder und Wähler­Innen der KP an den Protesten teilgenommen. In bestimmten Gebieten am Rande von Moskau haben sie sogar eine zentrale Rolle in der Organisierung der Dezember-Proteste gespielt. Allgemeiner gesprochen ist die KP ein konstitutives Element der „gelenkten Demokratie“, und ihre Führer fürchten jegliche Destabilisierung. Aber gleichzeitig zieht diese Partei immer noch viele Proteststimmen an. Deshalb muss sie aktiv ihre Opposition zu den gegenwärtigen Verhältnissen zum Ausdruck bringen.

Der ökologische Kampf für den Wald von Khimki im Sommer 2010 hatte eine große Bedeutung, zumindest für die Einwohner Moskaus, und hat die Legitimität der von „Vereintes Russland“ geführten Regierung stark angegriffen. Gibt es organische Verbindungen zwischen dieser Art sozialer Kämpfe und der Oppositionsbewegung?

Ilya: Die Verbindung zwischen den sozialen Bewegungen und den Mobilisierungen ist sehr schwach. Für das Entstehen der Oppositionsbewegung haben die Medien und das Internet eine größere Rolle gespielt als die Erfahrungen auf der Ebene der sozialen Kämpfe. Aber wahrscheinlich hat der Widerhall der „Schlacht um Khimki“ in den Medien bedeutende Teile der Jugend inspiriert, die vor dem Dezember keine Erfahrungen mit Protesten auf der Straße hatten.

Seit Dezember konnte mensch sehen, dass Medwedjew Verhandlungen und sogar Kompromisse mit der Opposition anstrebte, zumindest was die politischen Parteien betrifft. Denkst du, dass Putin diesen Kurs fortsetzen wird, oder wird er gegenüber der Protestbewegung wieder einen härteren Kurs fahren?

Ilya: Gegenwärtig nimmt Medwedjew wieder in klassischer Weise die Rolle der „lahmen Ente“ in der russischen Politik ein: Seine Versprechungen und seine Ini­tiativen haben keinen großen Wert. Auf zwei der Forderungen hat er partiell reagiert, indem er die im Parlament eingebrachten Gesetzesvorhaben überprüfen lässt, nämlich das Parteiengesetz und die Wiedereinführung der Direktwahl der Provinzgouverneure.

Was das Erste betrifft, so sind wir der Auffassung, dass die Neuregelung zur Parteienregistrierung nur die Parodie einer politischen Reform ist. Vorher war es den Parteien fast unmöglich, sich registrieren zu lassen: Se mussten 50 000 Mitglieder in mehr als der Hälfte der Provinzen haben und eine Unmenge administrativer Formalitäten erfüllen, bei denen die geringste Abweichung dem Justizministerium gute Gründe gab, die Registrierung zu annullieren.  Heute ist es das Gegenteil: Um sich als politische Partei zu registrieren, bedarf es fast nichts. Jede Gruppe, so unbedeutend und einflusslos sie ist, kann eine Partei bilden und am politischen Leben und damit auch an den Wahlen teilnehmen. Aber es ist diesen Parteien verboten, Wahlbündnisse zu bilden. So wird sich die politische Landschaft bald gewaltig verändern mit einem großen Haufen von Phantomstrukturen, was letztlich ein ausgezeichnetes Pflaster für die korruptesten politischen Winkelzüge darstellen wird.
Der zweite Punkt, nämlich die Wiedereinführung der Direktwahl der Provinzgouverneure, die Putin 2004 abgeschafft hat, ist von viel größerer Bedeutung. Diese Entscheidung Medwedjews soll sowohl den Eindruck eines Kompromisses mit der Opposition vermitteln also auch den regionalen Eliten entgegenkommen, die durch die Diktate der Zentralgewalt übergangen wurden. Wir können aber schon einige zentrale Punkte dieser Reform ausmachen, die es dem Präsidenten erlauben werden, sich in die Auswahl der Kandidaten einzumischen, die an den Wahlen in den Provinzen teilnehmen können.

An der Frage der politischen Gefangenen wird sich erweisen, ob die Regierung überhaupt in irgendeiner Weise auf die Forderungen der Protestierenden eingeht. Daran wird auch deutlich werden, ob die Justiz wirklich unabhängig und nicht korrupt ist. Gegenwärtig befinden sich Hunderte in den russischen Gefängnissen, entweder weil sie des „Extremismus“ beschuldigt sind oder weil sie aus politischen Gründen Opfer von manipulierten Prozessen wurden oder weil sie „auf Geheiß“ verurteilt wurden, nämlich auf Wunsch geschäftlicher Konkurrenten, die über gute Beziehungen zu den Machthabern verfügen. Seit Anfang an ist eine der zentralen Forderungen der Oppositionsbewegung die Revision dieser Urteile. Listen mit mehren Dutzend Personen, die willkürlich verurteilt worden waren, wurden Medwedjew übergeben mit der Forderung, diese Urteile zu überprüfen. Bis heute ist kein einziger dieser Menschen freigekommen und kein einziges Revisionsverfahren ist in Gang gesetzt worden. Im Gegenteil, in den letzten Monaten ist eine Verschärfung der Repression gegenüber Aktivist­Innen festzustellen; und es werden weiterhin haufenweise vorfabrizierte Strafverfahren durchgezogen.

Wir haben Grund genug anzunehmen, dass nach Putins offizieller Amtseinführung im Mai die Repression noch mal zunehmen wird und die von Medwedjew versprochenen Reformen in Vergessenheit geraten. Wir
sind fest davon überzeugt, dass das gegenwärtige politische System nicht in der Lage ist, sich selbst zu reformieren. Seine innere Logik und sein Arsenal repressiver Methoden sind seit langem wirksam und ihre Revision steht nicht auf der Tagesordnung. Um substanzielle Veränderungen durchzusetzen, muss eine viel größere und entschlossenere Bewegung entstehen als die, die im Dezember in Moskau auf die Straße ging.

Auf eurem letzten Kongress habt ihr beschlossen, mit der Organisation Sozialistischer Widerstand  zusammenzugehen und die Sozialistische Bewegung Russlands (SBR) zu bilden. Was sind die Perspektiven der Revolutionär_innen in Russland und mit welchen Hindernissen haben sie zu kämpfen, wenn es darum geht, die Linke auf einer antikapitalistischen Basis aufzubauen, die es ermöglicht, auf breitere Kreise der russischen Gesellschaft zuzugehen?

Ilya: Die Vereinigung fand vor einem Jahr statt und in der Zwischenzeit hatten wir zwei Kongresse. Unser Leitgedanke war, in Russland eine offene, aktive und pluralistische antikapitalistische Partei zu bilden, die ihre Vorstellungen in die aktuellen Debatten und Kämpfe einbringen kann. Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, wie absolut notwendig eine solche Kraft ist. Ich hoffe, dass wir in den kommenden Jahren auf diesem Weg bedeutende Fortschritte machen werden. n
Übers. D. B.
 

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