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TTIP: Jenseits von Recht und Gesetz

Von Harry Tuttle | 01.07.2014

Bei den Verhandlungen über das „Freihandelsabkommen“ TTIP stehen die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie zur Disposition.

Bei den Verhandlungen über das „Freihandelsabkommen“ TTIP stehen die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie zur Disposition.

Für Aufregung sorgt derzeit vor allem das „Chlorhähnchen“. Wird die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) von der EU und den USA beschlossen, so die Sorge, könnte mit Chlordioxid desinfiziertes US-Geflügel den europäischen Markt überschwemmen. Umstritten ist unter VerbraucherschützerInnen allerdings, ob die europäischen Methoden der Geflügelzucht tatsächlich unbedenklicher sind. Denn entweder werden die Tiere mit Antibiotika gefüttert oder es besteht eine erhöhte Gefahr der Verkeimung.

Dass in der EU grundsätzlich strengere Regeln im Umwelt- und Verbraucherschutz gelten als in den USA, ist ein Irrglaube. Da in den USA die Gesetzgebung von Bundesstaat zu Bundesstaat variiert, ist ein systematischer Vergleich kaum möglich. Allgemein strengere Gesetze gibt es dort unter anderem bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln und, was überraschen mag, beim Verkauf von Finanzprodukten. Überdies sind in der Regel die Kontrollen strenger. So haben US-AmerikanerInnen gute Gründe, sich darüber Sorgen zu machen, dass bald europäisches Gammelfleisch in ihren Supermarktregalen liegt.
„Handelshemmnisse“
Denn die Vorgaben bei den geheim geführten Verhandlungen sind klar: Schärferer Wettbewerb soll zu einer Produktivitätssteigerung führen. Obwohl das TTIP meist als Freihandelsabkommen bezeichnet wird, geht es um Zölle nur am Rande. Sie sind mit im Durchschnitt drei bis fünf Prozent bereits jetzt sehr niedrig. Auf dem Prüfstand stehen vor allem „nicht tarifäre Handelshemmnisse“, zu denen die Verbraucherschutzbestimmungen gehören. Obwohl die RepräsentantInnen beider Seiten betonen, man wolle sich nicht auf dem niedrigsten Level einigen, sind die Zwänge der kapitalistischen Verwertungslogik klar. Wenn ein in Niedersachsen geschlachtetes Hähnchen nach dem Transport über den halben Planeten auf dem Markt in Kentucky noch konkurrenzfähig sein soll, dürfen die Regeln allzu streng nicht sein.
„Alternativlose“ Politik
Man muss es ja nicht kaufen, argumentieren BefürworterInnen des TTIP. Doch so sicher ist das nicht. Entscheidet etwa die Bildungsbehörde in Kentucky, wegen der laschen Lebensmittelkontrollen in Deutschland kein niedersächsisches Hähnchen für die Schulkantinen zu kaufen, kann der exportierende Mastbetrieb gegen dieses „nicht tarifäre Handelshemmnis“ klagen. Nicht etwa vor einem Gericht in Kentucky oder Niedersachsen, sondern vor einem mit UnternehmensanwältInnen besetzten „Schiedsgericht“, das geheim tagt und gegen dessen Urteil keine Berufung möglich ist.
„Investorenschutz“
Solche Maßnahmen zum „Investorenschutz“ sind bereits Bestandteil vieler anderer „Freihandelsabkommen“. So haben Bergbaukonzerne wegen „entgangener Gewinnchancen“ gegen Umweltschutzgesetze geklagt, Entschädigungen in Milliardenhöhe können fällig werden. In Deutschland klagt derzeit Vattenfall gegen den Atomausstieg. Der Mindestlohn, die Entscheidung von Behörden, Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen zu vergeben, strengere Abgasnormen für Autos – praktisch jedes Gesetz, das die Profite schmälern könnte, kann jenseits des Rechtswegs angefochten werden. Oft wird schon die Klagedrohung genügen, um den Gesetzgeber einzuschüchtern.

Der „Investorenschutz“ reiht sich ein in die Bestrebungen der EU-Regierungen, durch „Stabilitätspakt“, „Schuldenbremse“ und die Verpflichtung zu „Reformen“ – heutzutage ein Synonym für Angriffe auf die Sozialsysteme und die Rechte der Lohnabhängigen – eine auf Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftspolitik durchzusetzen, die der Entscheidung der WählerInnen entzogen werden soll. Nun gilt auch die bürgerliche Justiz, deren Hauptzweck ja der Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse ist, als nicht mehr zuverlässig genug. Die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie werden faktisch zu „nicht tarifären Handelshemmnissen“ erklärt.
Staatliche Profitgarantie
Das aber geht vielen PolitikerInnen dann doch zu weit. Weniger in der EU, wo sich die Kritik bislang weitgehend auf die üblichen Verdächtigen, Linke sowie Umwelt- und VerbraucherschützerInnen, beschränkt, als in den USA, wo Präsident Barack Obama die gewünschten Sondervollmachten für die Verhandlungen (fast track authority) vom Kongress bislang verweigert wurden. Neben linksliberalen Demokraten kritisieren auch rechtslibertäre Republikaner die TTIP, von der Tea Party, deren Basis nicht zuletzt Kleinunternehmer bilden, als „gezielter Angriff auf Wirtschaft, Konsumentenrechte und einheimische Gesetze“ bezeichnet. Tatsächlich begünstigt TTIP Großkonzerne, während Kleinunternehmer schärferer Billigkonkurrenz ausgesetzt wären.

Es ist daher keineswegs sicher, dass alle geplanten Regelungen auch beschlossen werden. In jedem Fall zeigen die Verhandlungen über die TTIP, wie tief die kapitalistische Krise ist. Notdürftig erhalten die westlichen Zentralbanken mit einer Politik der billigen Geldes den Wirtscha
ftskreislauf aufrecht, doch ein neuer Akkumulationszyklus ist nicht in Sicht. Also soll noch rabiater dereguliert und der Druck auf die Lohnabhängigen noch weiter erhöht werden. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist, der den Rahmen schafft, in dem Profit gemacht wird, genügt nicht mehr. Er soll nun einen aus Unternehmersicht angemessen hohen Profit garantieren.

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