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Brief an die Familie des Tausendsten Opfers von Israels genozidalem Gemetzel in Gaza

Von Ilan Pappe / Übers. W. Wiese | 10.08.2014

Ich weiß noch nicht, wer Ihre Angehörige war. Sie mag ein nur wenige Monate altes Baby gewesen sein oder ein kleiner Junge, ein Großvater oder eines Ihrer Kinder oder Eltern. Ich hörte vom Tod Ihres Angehörigen von Chico Menashe, einem politischen Kommentator von Reshat Bet, Israels wichtigstem Radiosender. Er erklärte, dass das Töten Ihres Angehörigen genauso wie das Zertrümmern ganzer Wohnviertel im Gazastreifen und die Vertreibung von 150 000 Menschen aus ihren Häusern Teil einer wohlkalkulierten israelischen Strategie ist.

Dieses Blutbad soll den Ehrgeiz der PalästinenserInnen des Gazastreifen zerstören, Israels Politik zu widerstehen. Ich hörte das, während ich in der Ausgabe vom 25. Juli der als ehrenwert angesehenen Haaretz [isr. Tageszeitung, d. Ü.] die Worte des nicht so geachteten Historikers Benny Morris las, dass das noch nicht genug sei.

Er bezeichnet die bis jetzt erfolgte genozidale Politik als "Refisut" – eine Schwäche des Verstands und des Gemüts. Er fordert für die Zukunft noch viel weitergehende massive Zerstörungen, wohl wissend, wie man sich zu verhalten hat, wenn man seine "Villa im Dschungel" verteidigen will, wie der frühere israelische Premierminister Ehut Barak Israel beschrieb.

Unmenschliche Wildnis

Ja, ich muss leider sagen, dass Israels Medien und AkademikerInnen voll hinter dem Massaker stehen, mit Ausnahme von ein paar kaum hörbaren Stimmen in dieser inhumanen Wildnis. Ich schreibe dieses nicht, um Ihnen zu sagen dass ich mich schäme – es ist lange her, dass ich mich von dieser Staatsideologie getrennt habe und ich als Individuum alles unternehme, um mich mit ihr auseinanderzusetzen und sie zurückzuweisen. Wahrscheinlich war das nicht genug; wir alle sind durch Momente der Feigheit gehemmt, durch Egoismus; und wir sind vielleicht auch einem natürlichen Impuls ausgesetzt, Sorge für unsere Familie und Angehörigen zu tragen.

Und dennoch fühle ich das Verlangen, heute Ihnen gegenüber eine Verpflichtung auszusprechen, die keiner der Deutschen, die mein Vater während der Nazizeit kannte, bereit war, ihm gegenüber einzugehen, als die Mördertrupps ihren Genozid an seiner Familie begingen. Dies ist nicht viel an Zusicherung in dem Moment Ihres Leides, aber es ist das beste, was ich anbieten kann und nichts zu sagen ist keine Option. Und nichts zu tun, ist noch weniger als eine Option.

Wir leben im Jahr 2014 – die Zerstörung von Gaza ist wohl dokumentiert. Es ist nicht 1948, als die PalästinenserInnen hart darum kämpfen mussten, ihre Geschichte des Horrors zu erzählen; so viele Verbrechen, die Zionisten danach begingen, wurden verheimlicht und kamen bis heute nicht ans Licht. Das heißt, meine erste und einfachste Zusage ist, die Wahrheit aufzuschreiben, darüber zu informieren und darauf zu bestehen.

Meine alte Universität, die Universität von Haifa, hat StudentInnen angeworben, Israels Lügen über die ganze Welt mittels Internet zu verbreiten; aber wir haben 2014 und Propaganda dieser Art wird auf nicht Dauer Bestand haben.

Unterstützung des Boykotts

Aber gewiss ist das nicht genug. Ich verpflichte mich zu weiteren Anstrengungen, einen Staat zu boykottieren, der solche Verbrechen begeht. Nur wenn die Union der Europäischen Fußball-Verbände Israel rauswirft, wenn die akademische Gemeinde sich weigert, irgendwelche institutionellen Verbindungen mit Israel zu unterhalten, wenn Airlines zögern, dorthin zu fliegen und wenn jedes Unternehmen versteht, dass es aufgrund einer ethischen Haltung zwar kurzfristig Verluste einfahren mag, dass es aber langfristig moralisch und finanziell dabei gewinnen wird – erst dann werden wir Ihrem eingangs angeführten schmerzhaften Verlust gerecht werden.

Die Bewegung für Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) hat viel erreicht und setzt seine Arbeit unermüdlich fort. Zu den Hindernissen gehören immer noch die Unterstellung von Antisemitismus und der Zynismus von Politikern. So wurde eine ehrbare Initiative britischer Architekten, ihre Kollegen in Israel zu einer moralischen Haltung zu veranlassen statt Komplizen einer kriminellen Kolonisierungspolitik zu sein, im letzten Moment gestoppt.

Ähnliche Initiativen wurden anderswo von rückgratlosen Politikern in Europa und den Vereinigten Staaten sabotiert. Aber mein Versprechen ist es, mich an den Bemühungen zur Überwindung dieser Hürden zu beteiligen. Die Erinnerung an Ihre Angehörigen wird dazu die treibende Kraft sein, zusammen mit der lebendigen Erinnerung an das Leiden der PalästinenserInnen 1948 und danach.

Schlachthaus

Ich mache das alles aus egoistischen Gründen. Ich bete und hoffe wirklich, dass in diesem schlimmsten Moment Ihres Lebens, wenn PalästinenserInnen in Shujaija, Deir al-Balah oder Gaza stehen und mit Schrecken auf das Trümmerfeld schauen, das israelische Kriegsflugzeuge, Panzer und Artillerie angerichtet haben, Sie ihre Hoffnung auf die Menschheit nicht aufgegeben haben.
Diese Menschheit schließt sogar Israelis ein, solche, die nicht den Mut haben, öffentlich zu sprechen, aber die ihren Horror mir gegenüber (privat) in meinem überquellenden E-Mail-Postfach und auf Facebook zum Ausdruck bringen, genauso so wie die Handvoll derjenigen, die öffentlich gegen den unbeschreiblichen Genozid in Gaza demonstrieren.

Dieses schließt auch jene ein, die noch nicht geboren sind, und denen es vielleicht gelingt, der zionistischen Indoktriniermaschine zu entkommen, die ihnen lehrt, von der Wiege bis zum Grab, die PalästinenserInnen auf einem solchen Level zu entmenschlichen, dass sie nicht einmal von dem Verbrennen eines 16 Jahre alten Palästinensers betroffen sind und ohne dass ihr Glauben in ihre Regierung, Armee oder Religion erschüttert wird.

Besiegt

Um deren, meines und Ihres Willen wünsche ich, wir könnten auch von dem „Tag  danach" träumen – wenn der Zionismus als Ideologie geschlagen ist, der unser Leben zwischen Jordan und Mittelmeer beherrscht, und wir ein normales Leben führen, wie wir es uns wünschen und verdienen.

Also verspreche ich heute, mich nicht mehr auch von Freunden und palästinensischen Führern verwirren zu lassen, die sich immer noch närrisch an die Hoffnung auf die längst überwundene „2-Staaten Lösung" klammern. Wenn jemand den Drang verspürt, sich für einen Regimewechsel in Palästina einzusetzen, dann gibt es nur einen Grund dazu, nämlich der Kampf für gleiche Menschen- und Bürgerrechte und volle Wiedergutmachung für all jene, welche Opfer des Zionismus sind und waren, innerhalb und außerhalb des geliebten Palästina.

Möge Ihr Angehöriger in Frieden ruhen, im Wissen, dass sein Tod nicht umsonst war – nicht, weil er gerächt wird. Wir brauchen nicht noch mehr Blutvergießen. Ich glaube immer noch, dass es einen Weg gibt, üble Regimes mit der Macht der Menschlichkeit und der Moral zu beenden.

Gerechtigkeit bedeutet auch, die Mörder, die Ihre Angehörigen und so viele andere getötet haben, vor Gericht zu bringen, und wir müssen dafür sorgen, dass über Israels Kriegsverbrechen ein Internationales Tribunal ein Urteil fällt.

Es braucht einen sehr langen Weg und manchmal fühle ich sogar einen Impuls, Teil einer Kraft zu sein, die Gewalt anwendet, um Unmenschlichkeit zu beenden. Aber ich verpflichte mich, für Gerechtigkeit, wirkliche Gerechtigkeit und starke Gerechtigkeit zu arbeiten.

Das ist es, was ich zusagen kann – daran mitzuwirken, die nächste Steigerung der ethnischen Säuberung Palästinas und des Genozids an PalästinenserInnen in Gaza zu verhindern.

Ilan Pape
Ilan Pappe wurde 1954 in Haifa geboren. Nach Studium und Promotion war er ab 1984 Professor für politische Wissenschaften an der Universität Haifa.

2005 wurde er von der Universität zum Rücktritt veranlasst, da er sich aktiv für den internationalen Warenboykott (BDS) gegen Israel einsetzte. Er wechselte daher 2007 an die Universität Exeter in England, wo er Professor für Geschichte und Direktor des Europäischen Zentrums für Palästinensische Studien ist. Er wird zur Gruppe der Neuen israelischen Historiker gezählt.

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