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Innenpolitik

Hartz IV heute: Verwaltete Massenarmut

Von Walter Weiß | 01.10.2007

Die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen hat Hartz IV nicht erfüllt, aber ein millionenfaches entrechtetes Subproletariat hervorgebracht, das sich mit Mini-, Midi-, 1-Euro-Jobs etc. mühsam durchs Leben hangelt. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat jeder siebte unter 65 Jahren Hartz IV-Leistungen bezogen. Die Verarmung geht in die Fläche und wird das Gesicht des Landes nachhaltig verändern.

Die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen hat Hartz IV nicht erfüllt, aber ein millionenfaches entrechtetes Subproletariat hervorgebracht, das sich mit Mini-, Midi-, 1-Euro-Jobs etc. mühsam durchs Leben hangelt. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat jeder siebte unter 65 Jahren Hartz IV-Leistungen bezogen. Die Verarmung geht in die Fläche und wird das Gesicht des Landes nachhaltig verändern.

7,5 Millionen Menschen, das entspricht der Einwohnerzahl der Schweiz, „leben” vom Arbeitslosengeld II, populär Hartz IV genannt. Insgesamt haben in den letzten beiden Jahren 10,3 Millionen Menschen entsprechende Transferleistungen erhalten. Davon sind 1,93 Millionen Kinder (= 17 %) bis 14 Jahren. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) zählt diejenigen mit, die keine Leistungen erhalten, und kommt auf 2,6 Millionen (ca. 23 %) verarmte Kinder. Allein in den letzten 12 Monaten ist die Kinderarmut bundesweit um 10% gestiegen. In Brandenburg verdoppelte sie sich innerhalb eines Jahrzehnts.
Kinder und Alte als Opfer der Verarmung
Im Bereich der Ernährung ist die Entwicklung besonders prekär. Die politischen Kreuzzüge für gesunde und abwechslungsreiche Ernährung eines Horst Seehofer scheitern an der finanziellen Realität in den Familien. Nach Rainer Roth (Broschüre: Ein Hartz für Kinder) stehen 59 Cent fürs Frühstück und jeweils 1,06 Euro für Mittag- und Abendessen zur Verfügung. Da bleibt die Mahlzeit in der Schulmensa von durchschnittlich 2.30 Euro pures Wunschdenken. Richtigerweise kommt das Dortmunder Institut für Kinderernährung zu dem Schluss, dass Kinder aus Hartz IV-Familien gesundheitlich benachteiligt sind. Allein unter dem Gesichtspunkt einer vollwertigen Ernährung müsste der Regelsatz für Kinder um monatlich 60 Euro erhöht werden. Nicht von ungefähr besuchen täglich über eine halbe Million Menschen so genannte Tafeln („Volksküchen”), um eine warme Mahlzeit in den Bauch zu bekommen. Die mageren monatlichen 4,40 Euro für Kinderschuhe sind angesichts der häufig anfallenden Bedarfs und der Qualität ebenso geeignet gesundheitliche Fehlentwicklungen zu befördern. Solche Handicaps gleichen dann die 76 Cent für Spielzeug im Monat aus, die zu einem wahren Ansturm auf die Spielwarenläden einladen. Insbesondere im Milieu der arbeitslosen Eltern, Alleinerziehenden und der MigrantenInnenfamilien hat sich diese Armut tief greifend etabliert. Schon im Kreißsaal gehört mensch zur No-Future-Generation.
Gesunde Ernährung?
Am Weltkindertag werden die Ursula von der Leyens, Rüttgers und Münteferings das Hohelied ihrer Familienpolitik anstimmen und die Werte der christlich-abendländischen Leitkultur beschwören! Schwarzen Humor sauerländischer Prägung muss Münte umgetrieben haben, als er eine monatliche Erhöhung des Kinderregelsatzes um 10 Euro vorschlug. Das heißt mit 33 Cent am Tag ist das Ernährungsproblem gelöst. Hauptsache die Preise in der noblen Bundestagskantine bleiben stabil. Robin Rüttgers schüttet das Füllhorn von 10 Millionen Euro per anno über den Schulmensen aus, die Centbeträge pro Schüler (2 Millionen in NRW) mag sich der Autor gar nicht ausmalen. Und natürlich ein Kruzifix in jedes Klassenzimmer, um die Leiden des irdischen Jammertals zu lindern.

Bildungspoltisch ist das Szenario noch düsterer. Für Schulsachen ist kein Cent vorgesehen! Und 1,63 Euro für Schreibwaren reichen eben mal für eine Kladde und ein Bleistift bei KODI. Aber vielleicht hat die ARGE einen guten Tag und erkennt Mehraufwand an. Beengte Wohnverhältnisse reduzieren die Bildungschancen zusätzlich. Nachhilfe ist nicht finanzierbar. Sportvereine, Kino- und Zoobesuche sind Traumwelten. Hier wachsen nicht die neuen Eliten heran, die der neoliberale Bundespräsident so vehement fordert.

Gesundheitspoltisch ist Mangelernährung nur ein Faktor, zu dem sich fehlender Impfschutz, zu seltene Vorsorgeuntersuchungen, Infektionen und Depressionen gesellen.

In diesen Wohn- und Lebenslagen als Folge der „Armutsrutsche” (Cristoph Butterwegge) gedeihen dann Drogenprobleme, Gewalt und Kriminalität. Hoffnungslosigkeit wird zum Leitfaden der Heranwachsenden. Die schwierigen Wohnverhältnisse von heute sind die Gettos und eventuell die Riots von morgen. Der hier entstehende Treibsand der menschlichen Gesellschaft, um eine Formulierung von Trotzki sinngemäß zu zitieren, kann der ideale Nährboden für die faschistische Demagogie der NPD sein.
Armut im Alter
Die erwachsenen Hartz IV-EmpfängerInnen sind die armen Alten von übermorgen. Dabei hat sich die ökonomische Situation der RentnerInnen eklatant verschlechtert. Dank dreier Nullrunden, einer 0,54%-”Erhöhung” (auch das eine reale Minusrunde), gestiegener Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung, außerordentlichen Energiepreisen und erhöhten Kosten für Milch- und Backprodukte haben die Renten nach Expertenmeinung in den letzten vier Jahren eine Kaufkraftminderung um 12 % (!) erfahren. Das bedeutet zunehmende Verarmung der Kleinst­rentnerInnen und ein Leben hart an der Grenze für viele BezieherInnen einer Durchschnittsrente. Dieses Thema wird in der Avanti demnächst ausführlicher behandelt. Das soziale Apartheidsregime spricht dann auch in menschenverachtender Weise von „Kostenfaktoren auf zwei Beinen”, „Rentnerschwemme” und „Altenbergen”.
 Zu den Armen in der Hartz IV-Republik müssen wir auch die BezieherInnen des Arbeitslosengeldes I rechnen, die vorher wenig verdienten; die klassischen SozialhilfeempfängerInnen; die Bezieher einer Grundsicherung; die Flüchtlinge und die statistisch nicht erfassbaren Menschen, die keine Papiere haben.

Armut ist also kein Randpro­blem und legt einen Hauch von modernem Manchesterkapitalismus über eines der reichsten Länder der Erde! Hartz IV-EmpfängerInnen und andere Arme haben keine parteipolitische Lobby, weil selbst die neue Partei Die Linke in Regierungskoalitionen eine praktizierende Hartz IV-Partei ist. Nur sich selbst organisierender und -tätiger Widerstand im Rahmen der aufzubauenden außerparlamentarischen Opposition weist einen Weg aus der Misere.

 

TiPP!
Rainer Roth: Ein Hartz für Kinder; (Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne sowie Klartext e.V.), 30 Seiten.

Abzugeben für eine Spende plus gegebenenfalls Versandkosten:

www.rhein-main-buendnis.de

 

 

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