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Betrieb & Gewerkschaft

Gewerkschaften für Zahnzusatzversicherung und Windjacken?

Von B.B. | 01.12.2007

Der Streik der LokführerInnen und der kleinen GDL fördert durch das kämpferische praktische Beispiel eine viel wirksamere Kritik an den eingefahrenen Apparaten der großen Massengewerkschaften als alle Flugschriften und Infos der Gewerkschaftslinken zusammen genommen. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich die GDL auch für andere Berufsgruppen als die der LokführerInnen und ZugbegleiterInnen öffnen und der Gewerkschaft Transnet auf allen Ebenen Konkurrenz machen würde.

Der Streik der LokführerInnen und der kleinen GDL fördert durch das kämpferische praktische Beispiel eine viel wirksamere Kritik an den eingefahrenen Apparaten der großen Massengewerkschaften als alle Flugschriften und Infos der Gewerkschaftslinken zusammen genommen. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich die GDL auch für andere Berufsgruppen als die der LokführerInnen und ZugbegleiterInnen öffnen und der Gewerkschaft Transnet auf allen Ebenen Konkurrenz machen würde.

Marx und Engels beschrieben 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei wie die Arbeiter Assoziationen zur Behauptung ihres Arbeitslohns gründeten. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe sei nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung. Was aber, wenn diese dafür sorgt, dass der Erfolg ausbleibt? Was, wenn die Gewerkschaften so „stark, fest und mächtig“ sind, dass ihre Bürokratie und die Arbeiter­aristokratie in den Betriebsratsspitzen die Interessen der Mitglieder „verkaufen“?
Berufs- und Branchengewerkschaften
Die ersten Gewerkschaften entstanden in Deutschland als Berufsgewerkschaften. 1865 wurde der Zigarrenarbeiterverein gegründet, dann die der Buchdruckergehilfen, der Schneider und der Zimmerleute. Aus dieser Zeit stammt der 1867 gegründete Verein Deutscher Lokomotivführer (VDL), die heutige Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die älteste existierende Gewerkschaft. Die Bergarbeiter gründeten Branchenverbände; die meisten Berufsvereinigungen gingen in Branchengewerkschaften auf. Im Ruhrbergbau existierte sogar eine „nationale“ Gewerkschaft polnischer Bergleute, die selbst von der KPD als Gewerkschaft betrachtet wurde.
Politische Richtungsgewerkschaften
Die deutschen Gewerkschaften entstanden als Berufsgewerkschaften und als politische Richtungsgewerkschaften. Die „freien“ Verbände wurden von SozialdemokratInnen gegründet. Es gab auch christdemokratische und liberale Vereinigungen.
Mit der russischen Revolution von 1905 und der „Massenstreikdebatte“ änderte sich das Verhältnis zwischen „freien“ Gewerkschaften und SPD. Auf dem Mannheimer Gewerkschaftskongress 1906 schüttelte die Gewerkschaftsbürokratie die politische Vormachtstellung der damaligen ArbeiterInnenpartei ab. Die absolute politisch-organisatorische Dominanz der SPD wurde zu einer relativen ideologisch-politischen. Die aufgekommene Gewerkschaftsbürokratie wurde „autonom“. Die Gewerkschaften waren arbeitsteilig für die „wirtschaftlichen“, die SPD für die „politischen“ Fragen zuständig, was auf eine Entpolitisierung der Gewerkschaften hinauslief.

Nach dem 1. Weltkrieg gab es im Ruhrbergbau neben dem „Alten Verband“ (SPD), u.a. eine christliche und eine liberale Gewerkschaft. Der christliche und der polnische Verband standen in enger Verbindung mit der katholischen Zentrumspartei. Vom „Alten Verband“ hatte sich die „Union der Hand- und Kopfarbeiter“ abgespalten, in der die KPD stark war. Auf einzelnen Zechen waren bis zu 15 verschiedene Verbände aktiv. Mitte der 20er Jahre löste sich die „Union der Hand- und Kopfarbeiter“ auf. Ein Teil ihrer Mitglieder kehrte 1925/26 zu den „reformistischen“ Gewerkschaften zurück. 1929 gründete die KPD die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO).
„Einheitsgewerkschaften“ nach 1945
In den nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Einheitsgewerkschaften wurde neben der führenden SPD zunächst eine christliche und eine kommunistische Strömung geduldet. Mit der Schwäche der christlichen ArbeiterInnenbewegung und dem Ausschluss der KommunistInnen im Kalten Krieg wurden die Gewerkschaften allein von der SPD geführt; deren Parteibuch in den 1970er Jahren zur Eintrittskarte in den Apparat. Ihre Vorherrschaft war so vollständig, dass sie sie gar nicht zeigen brauchte. Unter klassenkämpferischen KollegInnen machte sich die Ansicht breit, dass „Einheitsgewerkschaft“ die Abwesenheit jeglicher Parteipolitik in den Gewerkschaften bedeuten würde.

Um das Eindringen revolutionären Gedankenguts zu verhindern und die sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaften zu erhalten, wurden seit 1973 die Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen die maoistischen K-Gruppen eingeführt. Die DKP wurde vom Gewerkschaftsapparat geduldet, aber nicht „offiziell“ als Strömung anerkannt. Die Grünen konnten in den Gewerkschaften nie Fuß fassen.
SPD und Die Linke
Mit Die Linke gibt es nun in den Einheitsgewerkschaften neben der SPD eine zweite anerkannte Partei. Die Gewerkschaftsbürokratie, die den Glauben an sich selbst verloren hat, braucht Die Linke, um auf die SPD parteipolitischen Druck auszuüben. Gleichzeitig soll die Kritik von unten auf parlamentarische Bahnen gelenkt werden, um die Gewerkschaftslinke klein zu halten. Mit der Duldung des Engagements „linker“ gewerkschaftlicher Hauptamtlicher in Die Linke ist deren Stillhalten in den Gewerkschaften verbunden. Eine parteipolitische oder auch nur klassenkämpferische Tendenz will Die Linke dort nicht aufbauen. Immerhin erleichtert das Aufbrechen des Monolithismus das Auftreten revolutionärer SozialistInnen in den Gewerkschaften.
RevolutionärInnen und Gewerkschaften
Die Kommunistische Internationale unter Lenin und Trotzki trat für die fraktionelle Mitarbeit der KommunistInnen in den reformistischen Gewerkschaften ein, wo diese die Mehrheit der ArbeiterInnen organisierten. Dies war z. B. in Deutschland nach 1918 der Fall.

Diese prinzipiell richtige Haltung wurde jedoch für die KPD zu einem Schema, das sie der Realität überzustülpen versuchte. Das zeigte sich vor allem Mitte der 20er Jahre im Ruhrbergbau.

Nach der „Oktoberniederlage“ 1923 war das Kapital auf breiter Front in die Offensive gegen die ArbeiterInnenklasse gegangen. Mit den verlorenen Kämpfen im Ruhrgebiet und am Niederrhein, die im ersten Halbjahr 1924 mit der Verlängerung der 7-Stunden-Schicht auf acht Stunden im Bergbau und der Arbeitszeit im Stahl-, Metall- und Textilbereich auf 10 bzw. 12 Stunden endeten, entstand eine breite Diskussion über die Ursachen der Niederlage. Viele radikalisierte ArbeiterInnen sahen die Niederlagenserie in der Spaltung in verschiedenste politische Richtungsgewerkschaften begründet. Daraus entstand eine breite Bewegung für „Industrieverbände“, die alle Berufszweige und alle politischen Richtungen umfassen sollten. Träger dieses Prinzips war die Union der Hand-
und Kopfarbeiter – selbst ja eine Richtungsgewerkschaft –, die große Erfolge bei den Betriebsrätewahlen erzielte.

Schon die „rechte“ KPD-Führung unter Brandler hatte versucht, die Union der Hand- und Kopfarbeiter zu liquidieren. Den „linken“ und „ultralinken“ Strömungen in der KPD, die dort 1924-1925 eine Mehrheit hatten, wurde dann im September 1925 vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in einem „Offenen Brief“ u.a. vorgeworfen, eine unzureichende Gewerkschaftsarbeit zu leisten. Die Politik des EKKI, die dann von einer neuen KPD-Leitung unter Ernst Thälmann umgesetzt wurde, führte dazu, die Union der Hand- und Kopfarbeiter aufzulösen und in die reformistischen Gewerkschaften zu überführen. Infolgedessen wurde die „Union“ gespalten und die widerspenstige kommunistische Führung dieser Massengewerkschaft aus der KPD ausgeschlossen. Die Reste lösten sich auf. Dabei hätte die „Union“ zumindest als eine große kommunistische Massengewerkschaft der Bergarbeiter erhalten werden können, um eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den reformistischen, katholischen und liberalen Bergarbeitergewerkschaften durchzuführen und das Prinzip der „Industrieverbände“ zu propagieren. Nach dem Ende der „Union“ sprachen sich im Ruhrgebiet und am Niederrhein nur die aus der KPD ausgeschlossenen „(ultra)linken“ Oppositionellen weiterhin für „Industrieverbände“ aus. Sie waren Rufer in der Wüste. Aber nach dem 2. Weltkrieg setzte sich das Prinzip des Industrieverbandes in den Gewerkschaften durch.

Gegenüber der Union der Hand- und Kopfarbeiter, die aus den Kämpfen der Bergarbeiter entstanden war, war die 1929 von der KPD gegründete RGO ein reines Moskauer Kunstprodukt. Sie separierte die ca. 300 000 KommunistInnen von ihren KollegInnen in den reformistischen Gewerkschaften. An der RGO kritisierte Trotzki nicht etwa, dass sie die Einheitsgewerkschaften spalten würde, sondern dass sich die KommunistInnen durch die RGO von den unter reformistischer Kontrolle befindlichen GewerkschafterInnen isolieren und damit die KPD schwächen würden. Im Fall der Linken Opposition in Belgien empfahl Trotzki in den 30er Jahren die Rückkehr der von ihr geführten Bergarbeitergewerkschaft in den reformistischen Verband. Bei der holländischen Partei RSP hielt er sich jedoch mit Kritik an der von ihr geführten „roten“ Kleingewerkschaft NAS zurück. Das Übergangsprogramm von 1938, das Lehren aus einer ganzen Periode revolutionärer Aktivität zog, bekräftigte als Leitlinie die Arbeit zur Eroberung der reformistischen Massengewerkschaften. Es sah aber sowohl die Notwendigkeit, wo möglich, „unabhängige Kampforganisationen“ zu bilden, wie auch im konkreten Notfall „mit dem konservativen Gewerkschaftsapparat offen zu brechen“. Die Gewerkschaftseinheit war für Trotzki kein Fetisch, sondern hing von den konkreten Umständen ab.
Linke und Gewerkschaften
90 % aller organisierten Linken in der BRD huldigen, wenn sie denn überhaupt für die Gewerkschaftsarbeit Interesse zeigen, einem Gewerkschaftslegalismus und -fetischismus. Demnach ist der Aufbau einer organisierten klassenkämpferischen Tendenz „spalterisch“ und wird gern mit der RGO-Politik der Weimarer KPD verglichen. Dass die Gewerkschaften von einer Bürokratie beherrscht werden, ist vollkommen tabu. Aus einem solchen Blickwinkel wird der Kampf der GDL dann gern als „berufsständisch“ diffamiert.

In Frankreich, wo die heutigen Gewerkschaften aus politischen Richtungsgewerkschaften entstanden sind, arbeiten unsere GenossInnen der LCR vor allem in den großen Gewerkschaften CGT und CFDT. Mit den Ausschlüssen kämpferischer GewerkschafterInnen aus der CFDT entstanden jedoch die kleinen Gewerkschaften der SUD, wo Mitglieder der LCR oft eine führende Rolle spielen. Die SUD-Gewerkschaften haben viel Bewegung in die Kämpfe gebracht, auch wenn sie keine Massengewerkschaften sind. Die jetzige Streikwelle wäre ohne die Aktivität der SUD-Rail (EisenbahnerInnen) kaum vorstellbar.

Die Frage der Gewerkschaftseinheit stellt sich eben immer konkret. Wenn eine große Gewerkschaft wie Transnet geringfügig höhere Löhne mit der Zustimmung zur Bahnprivatisierung erkauft und nicht für kürzere Arbeitszeiten kämpft, die GDL aber für mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit streikt, dann werden sich viele KollegInnen bei der Bahn für die GDL entscheiden. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich die GDL auch für andere Berufsgruppen als LokführerInnen und ZugbegleiterInnen öffnen und als zweite Gewerkschaft im Bahnbereich der Transnet auf allen Ebenen Konkurrenz machen würde!

Ein erfolgreicher Streik der LokführerInnen kann sowohl die Gewerkschaftslinke stärken wie Überlegungen über gewerkschaftliche Abspaltungen nach dem Motto „Kämpfen wie die Lokführer!“ fördern. Ob die organisierten Linken das wollen oder nicht, die Verarbeitung des Lokführerstreiks in der ArbeiterInnenklasse und ihrer Vorhut sind eigenständige Bewusstseinsprozesse. Massengewerkschaften, die Zahnzusatzversicherungen anbieten und Windjacken verkaufen, aber selbst in der Hochkonjunktur nicht die Einkommen und Arbeitsbedingungen verbessern sowie die Arbeitszeit senken können, werden von den Mitgliedern nicht nur mit Fragen konfrontiert sondern zunehmend auch in Frage gestellt.

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