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Innenpolitik

Hartz IV im vierten Jahr

Von Walter Weiß | 01.05.2008

Die Folgen von Schröders Sozialputsch im März 2003 – besser bekannt als Agenda 2010 – sind gravierender als viele seiner ApologetInnen es wahr haben wollen. Verarmung ist flächendeckend erreicht und schreitet rasant voran. Das bestätigen nun auch bürgerliche Quellen. Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) überschreibt seinen Wochenbericht 50/07 „Nach Einführung von ALG II – Deutlich mehr Verlierer als Gewinner unter den Hilfeempfängern“.

Die Folgen von Schröders Sozialputsch im März 2003 – besser bekannt als Agenda 2010 – sind gravierender als viele seiner ApologetInnen es wahr haben wollen. Verarmung ist flächendeckend erreicht und schreitet rasant voran. Das bestätigen nun auch bürgerliche Quellen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) überschreibt seinen Wochenbericht 50/07 „Nach Einführung von ALG II – Deutlich mehr Verlierer als Gewinner unter den Hilfeempfängern“. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe führte zu Veränderungen bei den LeistungsbezieherInnen. Mehr als die Hälfte, meist Singles und kinderlose Paare, mussten Kürzungen hinnehmen. Ein Drittel stellte sich besser, ohne in Zukunft von goldenen Tellern zu speisen. Die Zahl der Betroffenen, die nach internationalen Standards als einkommensarm gelten, ist von der Hälfte auf zwei Drittel gestiegen. Die Umstellung der personenbezogenen Arbeitslosenhilfe (ALH) auf das haushaltsbezogene Arbeitslosengeld II (ALG II) verdoppelte die Anzahl der HilfebezieherInnen fast. Ein Fakt, der die neoliberalen Zauberlehrlinge der Agenda 2010 überraschte, strafte er die These von größerer sozialer Gerechtigkeit Lügen. Nicht erwerbsfähige Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (BG) erhalten Sozialgeld. Nicht erwerbsfähige Menschen außerhalb einer BG beziehen die klassische Sozialhilfe.

Dabei wird ungern darüber informiert, dass auch Arbeitslose in Partnerschaften, die keinen Anspruch auf ALG II haben, weil der Partner genug verdient, ALG II beantragen sollten, da dies für die spätere Rentenberechnung relevant ist (WDR 2 – 14.04.08). Wird der Antrag nicht gestellt, rechnet sich das – für die Rentenkasse des bürgerlichen Staates.
Unterschiede bei der Berechnung
Das Zahlenspiel ist mitunter verwirrend u. a. durch unterschiedliche Berechnungsarten. So sind die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA), des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) durchaus unterschiedlich. Es fällt allerdings auf, dass die Zahlen der BA meistens niedriger liegen. Das betrifft sowohl die Zahl der LeistungsbezieherInnen wie auch die Anzahl der Personen in den BGs. Während die BA „nur“ 6,75 Millionen Menschen in den BGs registriert, sind es laut SOEP 8,39 Millionen und beim IAB sogar 8,78 Millionen.
Dabei sitzt statistisch gesehen die Mehrzahl der VerliererInnen im Osten. 5 % der Haushalte in Westen erhalten ALG II, im Osten immerhin 13 %. Dabei wird unterstellt, dass der durchschnittliche Bedarf pro Haushaltsmitglied sinkt und bei Kindern geringer ist als bei Erwachsenen. Diese Einstellung ist gleichermaßen lebensfremd als auch kinderfeindlich. Schröders Agenda hat letztlich die Kinderarmut verdoppelt. Eine von vielen Wahrheiten, die der Mainzer Mindestlohnvorkämpfer Kurt Beck, der die Agenda nachhaltig verteidigt, gerne verdrängt.

Das DIW betont, dass das Haushaltseinkommen der ALG II-Haushalte deutlich unter dem der ALH-Haushalte des Jahres 2004 liegt, und nennt die Zahl von 1.600 Euro. Das entspricht ungefähr dem viereinhalbfachen Regelsatz eines Alleinstehenden! Im Zeichen der Agenda gelten 17 % der Bevölkerung als einkommensarm, 53 % bei den BezieherInnen von ALG II und 54 % bei BezieherInnen von Sozialhilfe. Letztere Zahlen bürgerlicher Statistik verwundern, denn die genannten Gruppen sind per se arm. So „erzielt“ der alleinstehende ALG II Bezieher ein durchschnittliches Einkommen, das ca. 300 € (!) unter der Pfändungsgrenze liegt. Um die LeserInnen nicht mit Zahlen zu erschlagen noch einige Aspekte in allgemeinen Bemerkungen. Die Arbeitslosenhilfe, orientiert am letzten Nettolohn, sollte einen eingeschränkten Lebensstandard sichern. Der Ansprechpartner war das Arbeitsamt, heute die Bundesagentur für Arbeit. Das ALG II „sichert“ das sozio-kulturelle Existenzminimum. Da landet mensch bei der ARGE (Arbeitsgemeinschaft), diesem Sozialamt light mit repressivem Grundton. Dies ist in der Tat eine Begegnung der besonderen Art. So wirbt die ARGE Hagen (Ruhr) auf Bussen für sich. Diese Behörde mit kafkaesken Zügen, bezeichnet sich als unbürokratisch … und arbeitgeberfreundlich! Wenn das mal nicht eine klare Klassenposition ist!

Die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe bedeutet eine beträchtliche Einkommensveränderung. In erfrischender Offenheit bekennt das DIW, dass dies von der Politik so intendiert war. Zu den großen VerliererInnen zählt es die Familien mit minderjährigen Kindern.
Agenda und Mindestlohn
Im DIW Wochenbericht 04/08 heißt es: „Hilfsbedürftig trotz Arbeit? – Kein Massenphänomen in Deutschland“.  Der Bericht ist ein subtiler Angriff auf den Mindestlohn. Richtig ist die Bemerkung, dass nur 3% der Vollzeitbeschäftigen einen Lohn unter 7,50 € erhalten. 300 000 Vollzeitbeschäftigte sind sogenannte „Aufstocker“ durch das ALG II. Grundsätzlich werden 7,50 € als existenzsichernd unterstellt. Würde die Forderung nach 8 € umgesetzt, müssten bereits bei 9 % oder 1,8 Millionen Vollzeitbeschäftigten die Löhne angehoben werden. Bei unserer Forderung von 12 €/h Mindestlohn wären wir wahrscheinlich rasch im zweistelligen Bereich. Vergessen wir nicht, dass circa 29 % aller Beschäftigungsverhältnisse prekärer Natur sind. Pikanterweise siedeln viele VorkämpferInnen des Mindestlohns aus Sozialdemokratie und der Partei Die Linke diesen unterhalb des französischen Modells an. Da werden sie von Sarkorzy links überholt.
Wenn es gegen den Mindestlohn geht, wird das DIW geradezu familienfreundlich. Der Haushaltskontext und die eingehenden Transferleistungen seien zu berücksichtigen. […]

Der sprachliche Zynismus reicht so weit, Haushalte, die früher Wohngeld bezogen und nun zur ALG II-Klientel gehören, als „Gewinner“ zu bezeichnen! Und wenn deren sozio-kulturrelles Existenzminimum das „Marktergebnis“ übersteigt, erscheint Rürups Forderung das ALG II zu senken nur logisch. Dass die neoliberalen StrategInnen noch manchen vergifteten Pfeil im Köcher haben, ist sicher. Köhlers Forderung nach einer Agenda 2020 lässt Böses ahnen.
Einige Fakten
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle verweist auf die Notwendigkeit eines Zweitjobs, um den grundlegenden Lebensstandard abzusichern. Die Zahl der RentnerInnen, die richtig dazuverdienen müssen, ist in den letzten 5 Jahren um 40 % gestiegen. Und die Preislawine entwickelt ein brisantes Tempo. Die höchste Inflationsrate
seit 14 Jahren ist nur der äußerliche Ausdruck. 3,1 % besagen wenig. Folgt mensch einem Bericht des Hessischen Rundfunks vom 31.10.07 dann liegt die Teuerungsrate bei RentnerInnen bei 9,3 % und bei Familien sogar bei 10,6 %. Da sind vermeintlich erfolgreiche Tarifabschlüsse die reinste Makulatur.

Täglich erreichen uns Meldungen von familiären Katastrophen, die Säuglinge und Kleinkinder betreffen. Die Agenda hat das Auflösen und Zerstören zwischenmenschlicher Beziehungen massiv befördert. Wären nicht die Mittel in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten 5 Jahren um 20 % gekürzt worden, wäre uns manche menschliche Tragödie erspart geblieben.
Und das Niveau im ohnehin in jeder Hinsicht defizitären Pflegebereich ist durch den Abbau von 48 000 Stellen (das sind 13 %) innerhalb eines Jahrzehnts bestimmt nicht angehoben worden. Damit die von der Agenda Betroffenen nicht aus dem Ruder laufen, wird ihre Überwachung optimiert. Das Abfragen von Konten durch einschlägige Institutionen wie die ARGE, Sozialamt, Wohngeldstelle wird von 500 täglichen Maßnahmen dieser Art auf 11 000 maximiert. Mit diesen repressiven Praktiken und ihren gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Folgen setzen wir uns demnächst gesondert in der Avanti auseinander. Die kurz geschilderten Fakten sind lediglich auffallende Impressionen aus der Hartz IV-Republik.

Ins sozialpolitische Panorama passt die zunehmende Hetze gegen Arbeitslose. So orakelt Bild Mitte April „Seltsam, seltsam Arbeitslose häufiger krank als Arbeitnehmer“ und suggeriert damit Arbeitsscheue. In rund 100 Studien in den letzten dreißig Jahren im deutschsprachigen Raum wird aber belegt, dass die Rahmenbedingungen der Erwerbslosigkeit wie Arbeitsplatzverlust, Verlust des gewohnten Wohnraums, finanzielle Probleme, Partnerschaftskrisen, mangelnde Partizipation am gesellschaftlichen Leben, Einsamkeit, Isolation und fehlende gesundheitliche Versorgung (z. B. kein Geld für Praxisgebühr und Zuzahlung zu nötigen Medikamenten) Krankheiten massiv befördern. Viele Erwerbstätige vermeiden trotz Krankheit den Weg zum Arzt, weil sie um den Erhalt ihrer Stelle fürchten. Wie sagten wir schon in den Sechzigern: „Bild macht dumm!“
Realität und Statistik
Ausgerechnet eine kleine Anfrage der FDP brachte es an den Tag. Die Arbeitslosenzahlen der BA sagen nichts über die Erwerbslosenwirklichkeit aus. Da musste Staatssekretär Brandner verschämt zugeben, dass 3,2 Millionen Arbeitslose in der Statistik überhaupt nicht mehr vorkommen. In genauen Zahlen waren dies 286 000 BezieherInnen des ALG I und 2,86 Millionen Menschen mit ALG II. Manche fallen unter die 58er-Regelung, sind in Trainingsmaßnahmen, krankgemeldet, in Reha-Maßnahmen etc. Das bestätigt die Zahlen der seriösen Arbeitsmarktforschung, die von ca. 6,7 bis 6,9 Millionen Erwerbslosen spricht. Und die Ausgaben für erwerbsfähige und nichterwerbsfähige Personen in diesem Bereich sind von 35,1 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 31,8 Milliarden im Jahr 2007 zurückgegangen. Bekanntlich verarmt der Staat und die Sozialausgaben explodieren. Die offiziellen Zahlen beweisen das Gegenteil. Aber die 3,2 Millionen nicht registrierten Arbeitslosen sollten in unsere tägliche Öffentlichkeitsarbeit eingehen.
Agenda 2010 und außer­parlamentarische Opposition
Unser Votum für den Aufbau einer außerparlamentarischen Opposition muss das gesellschaftliche Potential eines solchen Projektes ausloten. Nach fast dreieinhalb Jahren von Hartz IV in der Praxis fällt eine solche Analyse ernüchternd aus. Verarmung, Angst und Repression haben die Betroffenen tief gezeichnet. Mobilisierungen wie im November 2003 in Berlin und wie bei den Montagsdemonstrationen sind z. Z. kaum zu erwarten. Der Sozialprotest steht auf äußerst schwachen Beinen. Mobilisierungsaufrufe mit vielen Unterschriften und wenigen TeilnehmerInnen sind demoralisierend. Das gesellschaftliche große Segment der Erwerbslosen ist ein schwaches Reservoir der notwendigen außerparlamentarischen Opposition. Die 13 Vorschläge des RSB für eine soziale und demokratische Wende sind wichtig und eine Orientierungshilfe. Die Fragestellung, wie eine solche Opposition aus der Defensive in einer Zeit der relativen Offensive des Kapitals oder sagen wir besser in einer Zeit der nicht mehr absoluten Defensive aufgebaut werden kann, ist ein noch zu „knackendes Klassenkampfrätsel“ (Rudi Dutschke). Mit Neu- und Umgruppierungsprozessen ist es da nicht getan. Auch nebulöse Spekulationen über einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts sind deplaziert, gerade wenn das davor liegende Jahrhundert noch nicht einmal seriös historisch aufgearbeitet ist. Der Kampf gegen die Agenda 2010 ist nur ein Abschnitt im Prozess der Selbstemanzipation von der kapitalistischen Lohnsklaverei.

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