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Innenpolitik

Hartz IV aktuell: Zwischen Denunziation und Ignoranz

Von Walter Weiß | 01.11.2008

Mit einer bislang beispiellosen Hetzkampagne hat das rechtslastige Boulevardblatt BILD im Gleichklang mit gleichgesinnten Medien Anfang September einen Angriff auf den vermeintlich massenhaften Sozialbetrug bei den BezieherInnen des Arbeitslosengeldes II gestartet. Die offizielle Politik – insbesondere der ehemaligen sozialdemokratischen Partei – orientiert etwas schamhaft auf die Ära nach Hartz IV.

Mit einer bislang beispiellosen Hetzkampagne hat das rechtslastige Boulevardblatt BILD im Gleichklang mit gleichgesinnten Medien Anfang September einen Angriff auf den vermeintlich massenhaften Sozialbetrug bei den BezieherInnen des Arbeitslosengeldes II gestartet. Die offizielle Politik – insbesondere der ehemaligen sozialdemokratischen Partei – orientiert etwas schamhaft auf die Ära nach Hartz IV.

„So wird bei Hartz IV abgezockt“, titelte BILD am 1. September 2008 und ergänzte „126 600 Fälle in nur einem Jahr“. BILD beschwor die „miesen Tricks der Abzocker“. Angeblich wird da getrickst, gemauschelt, betrogen.
Mediale Hetzjagd
Nein, wir reden nicht vom Kasinokapitalismus der Banken, Versicherungen und anderer Finanzgruppen. Die Rede ist von Menschen, die mit 351 Euro über den Monat kommen müssen. Eine Summe, die beim Jahresgehalt von 56 Millionen Euro einem PORSCHE-Chef alle paar Minuten aufs Konto gespült wird! Nach BILD vom 1.9.08 erhalten 6,1 Millionen Menschen Leistungen nach Hartz IV und der Leistungsbetrug soll bei 15% liegen. Bezogen auf die LeistungsbezieherInnen wären das dann gut 900 000 LeistungsbetrügerInnen, die „unseren“ Staat um Hunderte Millionen Euro hintergehen würden. Wenn aber nach diesen Zahlen fast 36 Milliarden Euro für Hartz IV aufgewendet werden, müsste ein Milliardenbetrug vorliegen. Soweit geht auch das rechte Schmuddelblatt nicht. Nur wenige Tage später präsentierte BILD am SONNTAG neue Zahlen. In nur sechs Tagen hatte sich die Zahl der AntragstellerInnen um 700 000 auf 6,8 Millionen Menschen erhöht und die Leistungen lagen bei 44,2 Milliarden Euro. Also theoretisch ein Sozialbetrug in der Höhe von fast 6,7 Milliarden Euro. Doch nun „schummeln“ laut Experten nur noch fünf Prozent.
Sich widersprechende Berechnungen
Legt mensch Erhebungen freier „Wohlfahrts“verbände und staatlicher Sozialträger zugrunde, dann liegen die Zahlen beim ungerechtfertigten Bezug von Leistungen nach Hartz IV zwischen 2,3 und 3 %. Die Zahlen der LeistungsbezieherInnen in den Bedarfsgemeinschaften bei BILD orientieren sich an denen der Bundesagentur für Arbeit. Wir erachten die Aussagen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) und des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) von 8,39 bzw. 8,78 Millionen Betroffenen jedoch für seriöser. Die Bundesagentur für Arbeit fabuliert auch vom Unterschreiten der Arbeitslosenzahlen unter die 3-Millionengrenze, während Staatssekretär Brandner verschämt die Tatsache zugab, dass 3,2 Millionen Menschen überhaupt nicht mehr erfasst werden.

BILD und verwandten Medien gelingt es immer wieder, sozial schwache Menschen vorzuführen, die offenherzig gestehen, zu  Arbeitsangeboten ein rein platonisches Verhältnis zu haben und auch mal Nebeneinkünfte an den Behörden vorbei zu kassieren. Eine Klientel, die so alt ist wie die Transferleistungen, und deren Verhalten durch Ein-Euro-Jobs und Dumpinglöhne befördert wird. Parallel zu BILD startete SAT1 seine Serie „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“. Abgesehen davon, dass die Agenda 2010 menschenverachtend und gnadenlos ungerecht ist – Recht und Gerechtigkeit sind nicht identisch –, wird die staatliche Schnüffelpraxis salonfähig gemacht. Warum werden dann nicht Tausende BetriebsprüferInnen eingestellt, die Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug in mindestens mehrfacher zweistelliger Milliardenhöhe einschränken könnten? Konsequentes Handeln in diesem Bereich hätte den finanziellen Sozialabbau der neoliberalen Agenda 2010 vollkommen überflüssig gemacht.

Die Ausgrenzung der Langzeiterwerbslosen, die potenziell alle „Abzocker“ sind, kennt keine Grenzen. Da lesen wir von neun Jahren und sechs Monaten Haft wegen Sozialbetrug. Der Täter ist kein Banker oder Finanzjongleur sondern ein Hochstapler, der wirklich Sozialleistungen in beträchtlicher Höhe „erschlichen“ hat. Und die Höhe der Strafe? In das Strafmaß gehen sieben Jahre wegen Vergewaltigung ein. Eine Tatsache, die niemand registriert. Hauptsache, die Nähe zum Sozialbetrug wird verinnerlicht, und findet ihren Platz im vorurteilsbeladenen Gehirn.
Nationalistische Untertöne
„Wie arbeitslose Polen deutsche Hartz-IV-Empfänger werden“, legte BILD am 2. September nach. Nun sind Ressentiments gegen PolInnen leider ziemlich verbreitet, wenngleich sie als preiswerte und häufig sehr qualifizierte Arbeitskräfte höchst willkommen sind. Die vermeintliche Abzocke erweist sich als durchaus legitim. Ein früherer Rechtsanwalt macht sich die sogenannte Abstammung durchs Blut – unseres Wissens stammt diese Regelung noch aus kaiserlichen Zeiten – zunutze. Er forscht in amtlichen, kirchlichen und familiären Dokumenten, ob deutsche Vorfahren vorhanden sind. Damit besteht die Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben inklusive eines deutschen Passes und des Rechtsanspruches auf Leistungen nach Hartz IV. Alles in allem ein Eigentor als Folge einer national­istischen Einbürgerungspraxis. Da mag es die Gralshüter der deutschen Leitkultur beruhigen, dass wenigstens der Stuhl Petri wieder fest „in deutscher Hand“ ist.
Einige Fakten
Einige Tatsachen sollten noch einmal in Erinnerung gebracht werden. Das ALG II liegt unter dem bisherigen Sozialhilfeniveau. Die Aufstockungsleistungen entfallen weitgehend und werden durch den nominell erhöhten Finanzaufwand nicht gedeckt. Der gleichzeitige Ausfall von Kühlschrank und Waschmaschine kommen haushaltsbezogenen einer kleinen Katastrophe gleich. „Das vorrangige Ziel ist einfach einzusparen“ kommentierte Rudolf Hickel frühzeitig (Tagesschau, 2.7.2004).

Diese Aussage wird aktuell durch eine Studie der Bundesagentur für Arbeit untermauert. Hartz-IV-Leistungen reichen nur für das materielle Überleben der Empfänger. „Eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben bleibt den meisten verwehrt“, so der Leiter der Untersuchung, Bernhard Christoph. BILD am SONNTAG unterstellt, dass Hartz-IV-EmpfängerInnen 32,22 Euro pro Monat für Kino, Theater oder Zoo ausgeben können. Schon bei der klassischen Sozialhilfe lebten die BezieherInnen ab dem 19. des Monats hart am Limit. Da sind Kino- und Theaterbesuche so realistisch wie die Kreuzfahrt im Mittelmeer. Die Sätze aus der Zeit der außerparlamentarischen Opposition der sechziger Jahre „BILD lügt!“ und „BILD macht dumm!“ sind nach wie vor aktuell.
Kampf gegen die Erwerbslosen
Mit hanseatischer Offenheit verkündet Arbeitsminister Scholz, der Mindestlohn von 7,50 Euro, der bekanntlich ein Armuts
lohn ist, erspare 1,5 Milliarden Euro bei den Hartz-IV-Leistungen. Dabei liegt er in den BENELUX-Staaten, Frankreich und Irland zwischen 8,33 bis 9,30 Euro. Wir reden vom Bruttolohn bei zum Beispiel erheblich gestiegenen Kosten in der Krankenversicherung, trotz jahrelanger gegenteiliger Versprechen.

Allein in NRW müssen 260000 erwerbstätige Menschen ihre Einkommen mit dem ALG II aufstocken, obwohl sie acht bis zwölf (!) Stunden täglich arbeiten. Ministerpräsident Rüttgers, selbsternannter Arbeiterführer an Rhein und Ruhr, streicht die bescheidenen 4,6 Millionen Euro für die Arbeitslosenzentren und Beratungsstellen. Davon sind rund 60% betroffen. Manche/r BeraterIn macht sich auf den Weg in Richtung Hartz-IV-Gemeinde. Die christdemokratische Nächstenliebe wird durch Streichung von 1,5 Millionen Euro für Obdachlose noch getoppt. Gleichzeitig liegen Ende September 100 Millionen EURO an Fördermitteln ungenutzt in NRW in den entsprechenden Finanztöpfen. Und dass zwei Wirtschaftswissenschaftler aus Chemnitz einen Regelsatz von 132 EURO monatlich für ausreichend halten und überhaupt in die Diskussion bringen können, macht klar, wo die Langzeiterwerbslosen sozial angesiedelt sind. Allein die erste Finanzspritze für die Hypo-Real-Estate hätte ausgereicht, den Regelsatz für 5 Jahre auf 420 EURO anzuheben (Aktuelle Stunde, WDR 3 Fernsehen, 2.10. 2008). Die ARGE Hagen (Ruhr) wirbt auf Bussen für ihre Arbeit, die „schnell – unbürokratisch – direkt“ sei. Zu wessen Gunsten geht aus dem Hinweis auf eine „arbeitgeberorientierte Vermittlung“ hervor. Wenn das keine lupenreine klassenpolitische Orientierung ist!
Bewusste Ignoranz
Nach dem Motto „Wir sind zu weiteren Schandtaten bereit!“ bekennen sich Müntefering und Steinmeier weiterhin zur Agenda 2010. Diese Botschaft an die Adresse der Bourgeoisie wird registriert. Andererseits muss sich die SPD gegen­über der Linkspartei sozialpolitisch profilieren. Also spricht mensch feinsinnig von den neuen Aufgaben nach der Agenda. Die über acht Millionen Menschen in den Bedarfsgemeinschaften sind kein Thema mehr. Immerhin will der SPD-Umweltminister die ALG II-BezieherInnen beim Ankauf eines energiefreundlichen Kühlschranks unterstützen – selbst wenn der in der zweiten Monatshälfte leer ist – was bekanntlich besonders energiesparend ist!  Und in dem Maße, wie Die Linke sich in atemberaubendem Tempo in Richtung Regierungsbeteiligung entwickelt (siehe Hessen), wird sie in Zukunft sozialpolitisch bei der Arbeitslosenproblematik ganz kleine Brötchen backen. Im Parlament geht die Interessenvertretung der Erwerbslosen gegen null.

Dabei geht die tendenzielle Verarmung bei den (Langzeit-)Erwerbslosen durch die Preislawine rasant voran. Von 80 Kindern, die täglich in Berlin das Licht der Welt erblicken, sind 30 bei ihrer Geburt arm. Aber für diese gewiss gänzlich Unschuldigen an ihrer Misere wird BILD demnächst auch ein negatives Etikett finden.

Die neoliberale Ideologie ist tief beschädigt und die Agenda 2010 wird im Wesentlichen negativ beurteilt, aber beide werden in der Praxis forciert durchgesetzt. Interessanterweise wird im Zusammenhang mit der sogenannten Finanzkrise das Handeln des „starken Staates“ gefordert. Armut wird zum Tabuthema, die Opfer zu Tätern und die deutsch-völkische Fun-Gesellschaft zur Leitkultur – Motto: „Ich will Spaß!“ Die WELT bringt es am 16.10.08 treffend auf den Punkt:  „Man könnte diese Tage die Gemeinsamkeit nutzen, um das neue Deutschlandgefühl auszutesten.“
Einschätzung
Kampagnen gegen Schwache und gesellschaftliche Minderheiten gehören zum Repertoire von Klassengesellschaften. In den letzten 150 Jahren der deutschen Geschichte waren es SozialdemokratInnen, jüdische Menschen, AnhängerInnen der KPD, linke StudentInnen, „die Ausländer“ (MigrantInnen), „Asylanten“ (Flüchtlinge) und heute vermehrt die Erwerbslosen. Sie werden stigmatisiert und erfühlen eine die Klassenwidersprüche vernebelnde Funktion. „Divide et impera!“ (Teile und herrsche!) nannten das die alten Römer. So wird eine quasi soziale Apartheidslogik installiert, die die Langzeiterwerbslosen rechtlich zu BürgerInnen zweiter Klasse macht. Die Folge sind Resignation und Apathie und ein „Gefühl der Ohnmacht“ (Erich Fromm) erstickt Protest und Widerstand im Keim.

Die gegenwärtige „Finanzkrise“ hat das Thema Hartz IV auf einen hinteren Listenplatz verbannt. Aber angesichts einer Weltwirtschaftskrise, der Energie- und Ernährungskrise (täglich 923 Millionen Hungernde) und der spätestens seit dem Tsunami herannahenden ökologischen Katastrophe ist es nicht unangebracht, von einer historischen Krise des Kapitalismus zu sprechen. Sie wird die Erwerbslosen politisch nicht unberührt lassen.

 

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