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Catherine Samary:

Europa auf einen gerechten Frieden vorbereiten ‒ einen dekolonialen Frieden

Von Catherine Samary | 03.05.2024

Die Ukraine-Frage war ‒ laut La France Insoumise (LFI) ‒ im Zusammenhang mit der Kampagne zu den Europawahlen die größte Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und der NPA. In Wahrheit geht es um das Profil der europäischen Linken gegenüber der EU, über das diskutiert werden und entschlossen angepackt werden sollte. Die erneute Erweiterung der EU, die durch die russische Invasion in der Ukraine beschleunigt bzw. ausgelöst worden ist, wird weit über die EU hinausgehen[i] und ihre Funktionsweise umkrempeln. Das kann als Chance genutzt werden, um auf ein „anderes Europa“ hinzuarbeiten, die zugleich solidarisch mit allen Völkern ist, die sich ihr anschließen wollen, und Frieden bringt, wenn es einer gerechter Frieden gerecht ist ‒ es geht also um eine dekoloniale und gegen alle Imperialismen gerichtete Neuordnung.

Das Herangehen von La France Insoumise an die Europäische Union interessiert uns, wenn sie das Ziel verfolgt, „konkrete Kämpfe zu führen ‒ nicht um ihr System am Laufen zu halten“, und wenn sie sich „Kriegsverbrechen ohne Ausnahme widersetzen“ will [Vorspann].[ii] Wir unterstützen sie, wenn sie sich gegen die „Mitverwaltung der Europäischen Kommission durch die Rechte, die Sozialisten und die Macronisten“ wendet und betont, dass die Europäische Kommission und ihre Präsidentin für die „bedingungslose Unterstützung von Netanjahus krimineller Politik gegen die Palästinenser, für Freihandelsverträge, Sparpolitik und einen Energiemarkt, der die Beträge auf unseren Rechnungen in die Höhe schießen lässt“, verantwortlich sind (Punkt 15).

Mit den betroffenen Völkern innerhalb/außerhalb gegen die EU kämpfen

Andererseits können wir die Haltung, die mit den Punkten 12 und 14 eingenommen wird („den EU-Beitritt der Ukraine ablehnen“ und „das Friedenslager verkörpern“)[iii] nicht unterstützen. Diese Haltung ist in der Ukraine nicht zu vernehmen: Wenn ärmere Länder nicht reingelassen werden sollen, erinnert das an die Ablehnung des [sprichwörtlichen] polnischen Klempners[iv] angesichts der 2004 bis 2007 erfolgten Beitritte der mittel- und osteuropäischen Länder. Und es wird versäumt, einen „dekolonialen Frieden“ ohne Herrschafts- und Besatzungsverhältnisse zu fordern.

Doch zunächst soll das allgemeine Herangehen einer gegenüber der EU, ihrer vorherrschenden Politik und ihren Verträgen kritischen Linken explizit benannt werden. In Frankreich haben wir uns 2005 aktiv für ein „Nein“ zum Europäischen Verfassungsvertrag eingesetzt. Das bedeutete nicht, dass wir für einen Frexit (für den Austritt Frankreichs aus der EU oder dem Euro) eingetreten wären. Die konkrete Frage war: War (bzw. ist) ein souveränistischer Rückzug auf die nationale Ebene günstiger für den Widerstand? Oder ist es besser, die Kämpfe für soziale und ökologische Gerechtigkeit innerhalb/außerhalb der EU voranzutreiben ‒ mit Ungehorsam gegen unpopuläre und ungerechte Politiken, die von EU-Institutionen[v], so wie sie sich auf verschiedenen Ebenen äußern, auf denen sie umgesetzt werden (der lokalen, nationalen, europaweiten Ebene)? Dann geht es darum, die Verträge auf den Prüfstand zu stellen und ein anderes Europa zu erfinden, um übernational für mehr Rechte einzutreten.

„Große Krisen“ ‒ und nicht irgendein vorher eindeutig festgelegtes Projekt ‒ haben pragmatisch zu Schüben mit großen Umgestaltungen des europäischen Einigungswerks geführt ‒ natürlich allesamt mit Entscheidungen der herrschenden sozialen und politischen Kräften und „von oben“, aber ohne eine vereinheitliche „bürgerliche“ Vision.

Internationale Währungskrisen haben dazu beigetragen, dass 1979 zunächst das Europäische Währungssystem (EWS) mit dem Ecu und nach dem Maastrichter Abkommen von 1992 die Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro eingerichtet wurden. Auf einem anderen Gebiet begünstigte die Jugoslawienkrise der 1990er Jahre zeitgleich mit dem Auseinanderbrechen der UdSSR die Einrichtung eines euro-atlantischen „Management“ des Balkans sowie die Beibehaltung und dann die Neuausrichtung der NATO in Europa nach der Auflösung des Warschauer Pakts, verbunden mit dem Ende der UdSSR 1991 und des Kalten Krieges.

Für ein soziales Europa kämpfen

Die Entscheidung, ob man der EU beitreten ‒ und in ihr bleiben ‒ soll oder nicht, ist keine Frage eines „Prinzips“, sondern der konkreten Analyse: Wir unterlassen es, hierüber anstelle der betroffenen Völker und der fortschrittlichen Kräfte zu urteilen, bringen aber unsere kritische Analyse zur EU zum Ausdruck. So wie wir vor kurzem in einem kollektiv gezeichneten Gastbeitrag geschrieben haben:

„In keinem Fall verteidigen wir eine ,Festung Europaʻ gegen den Beitrittsantrag der von einem imperialistischen Krieg verwüsteten Ukraine; genauso wenig verteidigen wir ein ,Europa der Reichenʻ gegen den Beitritt von Ländern, die durch die neoliberalen Zerstörungen verarmt sind, die seit Jahrzehnten an der Peripherie der EU am Werk sind.“[vi]

Das „Aufopfern“ der Sozialhaushalte ist keineswegs auf die notwendige Hilfe für den bewaffneten und unbewaffneten ukrainischen Widerstand zurückzuführen. Es wird seit langem, auch ohne Krieg, versucht, Sparpolitik durchzusetzen; doch „Kriegsgewinnler“ gibt es zuhauf ‒ die könnten besteuert werden. Die Anprangerung des „Imperialismus im eigenen Land“ muss konkret sein und wir müssen permanent wachsam sein: Natürlich helfen die herrschenden Mächte niemals „umsonst“. Deshalb fordert die Plattform des Europäischen Netzwerks Solidarität mit der Ukraine (RESU/ENSU)[vii], dem die NPA seit seiner Gründung unmittelbar nach der russischen Invasion angehört, gemeinsam mit unseren ukrainischen Genoss:innen die Streichung der ukrainischen Schulden, deshalb lehnen wir jegliche neoliberale Konditionierung der westlichen Hilfen ab.

Dieser Artikel erschien zuerst in L’Anticapitaliste, der Wochenzeitung der NPA, Nr. 705, 25. April 2024. Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried; Zusätze des Übersetzers sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.


[i] Diese Erweiterung bezieht sich auf die Ukraine, aber (mindestens) auch die Republik Moldau und die westlichen Balkanstaaten; diese Staaten sind vor oder während der russischen Invasion als Beitrittskandidaten anerkannt worden; durch ihren Beitritt würde die EU von 27 auf 34 Mitglieder erweitert werden.

[ii] Siehe die Einleitung des in 15 Punkten zusammengefassten Programms der „Union populaire“ (Volksunion).
[Das in ausführliche neun Kapitel gegliederte Programm der Liste von La France insoumise für die Wahl zum Europaparlament ist am 14. April veröffentlicht worden. Eine Kurzfassung mit 15 Punkten wurde als vierseitiges Blatt veröffentlicht.]

[iii] Siehe dazu Daria Saburovas Beitrag vom 15. März: „Guerre ou paix? Un faux dilemme dans la polémique autour de la question ukrainienne“.

[iv] [In Frankreich wurde der Ausdruck „plombier polonais“ (polnischen Klempner) im Frühjahr 2005 während der öffentlichen Debatten über den europäischen Verfassungsvertrag und über den 2004 vorgelegten Entwurf für eine EU-Richtlinie zu Dienstleistungen im Binnenmarkt geprägt, die von Frits Bolkestein ausging, 1999 bis 2004 EU-Kommissar für den Binnenmarkt. Das Schlagwort vom polnischen Klempner, der französische Arbeitsplätze gefährde, weil er seine Dienstleistung zu Löhnen und nach den Sozialschutzregeln in seinem Herkunftsland anbieten darf, war in aller Munde, nachdem der rechtskonservative Politiker Philippe de Villiers im März 2005 in einem Interview mit Le Figaro dieses Beispiel genannt und Frits Bolkestein es im April 2005 in der Tageszeitung Libération ironisch aufgegriffen hatte. In Polen wurde dieses Schlagwort vielfach als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit, negativen Klischees und Vorurteiler über Osteuropäer:innen aufgefasst.]

[v] Siehe den Artikel „Pas de ,LEXITʻ sans ,Une autre Europe Possibleʻ ‒ à partir de luttes dans/hors/contre l’UE“ (23. August 2016), den ich im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise geschrieben habe.
[Auf Englisch: „Europe: No ,LEXITʻ without ,Another Europe Possibleʻ ‒ based on struggles in/outside/against the EU“. Auf Deutsch „Kein ‚Lexit‘ ohne ‚Ein anderes Europa ist möglich‘“ in internationale 6/2016.]

[vi] Siehe das Positionspapier „Européennes: une gauche radicale, unitaire et démocratique pour une véritable alternative“, das am 9. April 2024 als Gastbeitrag auf Mediapart veröffentlicht worden ist.

[vii] Auf Deutsch: https://ukraine-solidarity.eu/manifestomembers/deutsch-1.

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