TEILEN
Innenpolitik

Wo bleibt die Opposition?

Von Guenther Sandleben | 01.01.2009

 {mosimage}

Generalstreiks in Griechenland und Italien, Dauerrevolte in Athen – wo bleibt der Widerstand in Deutschland? Unter dem Druck der Krise haben alle Klassen und Parteien eine merkwürdige Allianz gebildet. Klassenunterschiede und Gegensätze scheinen auf einmal nicht mehr zu existieren. Wo bleibt die Opposition? Alle sitzen am „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“, einer Vernunft, die ganz der kapitalistischen Logik folgt.

Generalstreiks in Griechenland und Italien, Dauerrevolte in Athen – wo bleibt der Widerstand in Deutschland?

Unter dem Druck der Krise haben alle Klassen und Parteien eine merkwürdige Allianz gebildet. Klassenunterschiede und Gegensätze scheinen auf einmal nicht mehr zu existieren. Wo bleibt die Opposition? Alle sitzen am „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“, einer Vernunft, die ganz der kapitalistischen Logik folgt. Subsumiert unter dieser Vernunft sitzen sie dort ähnlich vereint wie einst unter Karl Schiller, der ab Februar 1967 die „konzertierte Aktien“ als Burgfriedenspolitik zur Beseitigung der bis dahin schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit einsetzte. In der heutigen, weitaus schwereren Wirtschaftskrise reicht das gemeinsame Ziel weiter: Wie lassen sich Finanzkrise und Konjunktureinbruch so abfedern, dass ein Zusammenbruch des kapitalistischen Systems verhindert wird. 
Zur Rolle von Finanzkapital und Industrie
Als es um den Banken-Rettungsplan ging, also auch um die Abwehr einer gigantischen Entwertungswelle des „Finanzkapitals“ (Banken, Versicherungen, Fonds, Vermögensverwaltungen), setzten sich deren Vertreter durch und erzwangen genau mit der These vom „systemischen Risiko“ gigantische Rettungspakete. Sie bauten eine Argumentationskette auf, die eine solche Dramatik enthielt, dass Finanzminister Peer Steinbrück glaubte, in einen tiefen Abgrund zu blicken.

Die Vertreter des fungierendes Kapitals, d. h. des nichtfinanziellen Sektors der Wirtschaft, akzeptierten knurrend die Staatsinterventionen, weil sie fürchten mussten, dass eine allgemeine Bankenpleite auch sie und das gesamte kapitalistische System treffen würde. Nur am Rande formulierten sie ihr Sonderinteresse. Sie fürchteten nämlich, Regierung und Notenbank könnten schon bald die Reserven verpulvert haben, so dass zur Bewältigung der eigenen Krise nichts mehr übrig bliebe, die von Tag zu Tag drohendere Züge annahm. Die Unternehmen pochten auf großzügige Konjunkturprogramme. Sie verwiesen auf gigantische fiskalpolitische Maßnahmen im Ausland. Sie setzen Kanzlerin Merkel unter Druck, das zaghafte Konjunkturprogramm massiv aufzustocken.
Gewerkschaften und Linke
Die ArbeiterInnenklasse spielte in diesem Krisendrama bislang keine eigenständige Rolle. Sie staunte nur über die gigantischen Summen, die der Staat mühelos Banken und Unternehmen zur Verfügung stellte, während sie zuvor vom Staat mit dem Argument „knapper Kassen“ sozialpolitisch abgezockt worden war. Beinahe stumm ertrug sie damals, dass der Staat ihre Arbeitszeit durch Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre ohne Lohnausgleich verlängerte, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder die Hartzgesetze einführte, dass er die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld kürzte, den Kündigungsschutz lockerte, Praxisgebühren, Zuzahlungen und Leistungskürzungen in der Krankenversicherung durchpeitschte. Selbst als ein Teil ihrer europäischen Klassengenossen gegen ähnliche Staatsaktionen in den Generalstreik trat, verhielt sie sich überwiegend abwartend.

Sie nahm ohne Protest hin, als vor zwei Monaten der Staat das „Finanzkapital“ mit einem 500-Milliarden-Rettungspaket schütze, ein Betrag, fast so hoch wie die jährlichen Steuereinnahmen. Die statistisch ausgewiesenen fast drei Millionen Arbeitslosen hätten von dieser Summe 10 Jahre lang mit einem Monatseinkommen von rund 1.400 Euro ein einigermaßen bequemes Leben ohne Schikanen führen können.

Die Gewerkschaften unterstützten alle Aktionen, die nur irgendwie zur Stabilisierung des Kapitalismus beitrugen. Zu den Opfern dieser konzertierten Aktion gehörten die Metallarbeiter, denen statt des zuvor versprochenen „Gerechtigkeitsausgleichs“ ein deftiger Solidaritätsabschlag zugunsten des Kapitals aufgebürdet wurde. Auch die linke Öffentlichkeit unternahm im Großen und Ganzen keine ernsthaften Anstrengungen, das Rettungs-Paket zu hinterfragen. Sie alle traten gedankenlos an die Seite von Staat und Unternehmer. Sie halfen, mit ihrem Ansehen und ihrer Krisendeutung den Bankrott des Kapitalismus zu decken, die bürgerliche Klassenherrschaft zu vernebeln.
Sie dachten auch nicht darüber nach, was da eigentlich stabilisiert werden soll. Vergessen waren Agenda 2010, die Massenentlassungen der Jahre 2001 bis 2004, die Lohnkürzungen, die Verlängerung der Arbeitszeit, die prekären Arbeitsverhältnisse, für die Staat und Unternehmer verantwortlich sind. Dass mit den Staatsinterventionen all diese Verhältnisse, die Entbehrung, die Angst, die Unsicherheit, die Unterwerfung und Knechtschaft im Arbeitsleben, die politische Entmündigung stabilisiert werden, empörte sie nicht. Sie ließen die Dinge geschehen.

Sie griffen auch nicht die offizielle Interpretation der Krise an, die ganz darauf gerichtet ist, den Kapitalismus zu entlasten, indem die Krise auf eine bloße Finanzkrise reduziert wird, von der aus eine Bedrohung der angeblich reibungslos funktionierenden „Realökonomie“ ausgehe. Mit den offiziell verordneten Linderungsmitteln erklärten sie sich einverstanden. Der Kapitalismus soll weiter existieren, eben nur unter Begleitung staatlich reglementierter Finanzmärkte. 

Was Gewerkschaften und linke Öffentlichkeit zusätzlich forderten, war eine Ergänzung des Banken-Rettungspakets um ein umfassendes Konjunkturprogramm. Sie forderten also genau das, was jetzt die allgemeine Forderung von Industrie und Handel ist, eine Forderung, die inzwischen eine so große Selbstverständlichkeit besitzt, dass sie nicht nur von fast allen Staaten, sondern selbst von hartnäckigen neoliberalen Instituten, wie dem Großteil deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute oder dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erhoben wird.
Zum Charakter der Krise
Aber die Krise lässt sich nicht einfach politisch beseitigen. Denn es handelt sich um eine Krise, die das kapitalistische System aus seinem Innersten hervorbringt; es ist also keineswegs eine oberflächliche Finanz- und Kreditkrise. Hier setzen jedoch die Notprogramme hauptsächlich an. Dass der Staat Wirkungen, nicht aber die Ursachen selbst bekämpft, ist keineswegs alleiniges Resultat seiner falschen Sicht der Krise, sondern ist Ergebnis seiner kapitalistischen Befangenheit. Er selbst ist nämlich nur die politische Ergänzung kapitalistischen Wirtschaftens, worin er unentrinnbar durch Steuereinnahmen, Kreditaufnahmen und durch notwendige Ausgaben eingebunden ist. Radikale Staatseingriffe sind unmöglich. Wenn er durch Verstaatlichung der Banken oder Kreditgarantien faule Kredite übernimmt, dann bleiben di
e­se im Gesamtsystem. Er hat dann nur die Pleite des Privatkapitals zur eigenen gemacht.
Rückkehr der bürgerlichen Opposition
Dass ein „massiver Konjunktureinbruch droht“, hat der Krisengipfel der Kanzlerin bestätigt. Der Kampf um die Verteilung des nun stärker schrumpfenden Profits muss unter solchen Umständen besonders hart geführt werden. Zudem wird jeder kapitalistische Agent versuchen müssen, in der sich verschärfenden Konkurrenz sein Kapital zu retten, die Verluste abzuwehren. Unternehmer kämpft gegen Unternehmer, Branche gegen Branche, exportorientierte Industrien gegen binnenmarktorientierte Kapitale und es kämpfen die kleinen Unternehmen gegen die großen.

Der Kampf gegen Verluste und um die Aufteilung der gemeinsamen Beute kristallisiert sich auch als Kampf von Finanz- gegen Industriekapital. Was das „Finanzkapital“ an Zins und staatlichen Zuwendungen erobert, fehlt dem fungierenden Kapital. Und der Staat wird seine Finanzen neu ordnen müssen, will er nicht selbst Pleite gehen. Es sind also in fernerer Zukunft keine großzügigen Geschenke mehr für das Kapital zu erwarten. Der Streit wird sich weiter zuspitzen, wenn es um die Verteilung der Staatslasten geht. Auch hier stehen wieder Branche gegen Branche, Finanzkapital gegen Industriekapital etc.

Es sind also die absehbaren Notwendigkeiten des Krisenverlaufs selbst, die zu den Zerwürfnissen der verschiedenen Kapitalfraktionen führen werden, ein Kampf, der schon bald als Streit politischer Parteien ausgetragen werden wird. Die Voraussetzungen für eine sich offen zeigende bürgerliche Opposition reifen heran. In dieser Auseinandersetzung wird jede Partei versuchen, das von ihr vertretene  Sonderinteresse als allgemeines Volksinteresse darzustellen, vielleicht als Kampf gegen den Zins- und Finanzwucher, als Kampf für die Erhaltung des deutschen Mittelstands als das Rückgrat der Wirtschaft, als Kampf gegen die Multis und in jedem Fall als Kampf für die Erhaltung von Arbeitsplätzen, was natürlich Schutz des Kapitals bedeutet.
Rückkehr der sozialistischen Opposition
Jedoch tritt das einheitliche Kapitalinteresse hervor, sobald Interessen berührt sind, die gemeinsam gegenüber der Arbeiterklasse zur Geltung gebracht werden müssen. Dem Kern nach geht es dann nicht mehr um die Verteilung der Beute, sondern um die Vergrößerung dieser Beute selbst. Und gerade hier muss sich der Kampf außerordentlich zuspitzen. Denn Wirtschaft und Staat werden zur Rettung der Profite und zur Sanierung des Staatshaushalts versuchen, alle Krisenlasten auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Eine neue „Agenda 2010“ werden schon bald ökonomische Sachverständige ins Spiel bringen. Die Kampf-Richtung wird die Gleiche sein wie damals. Aber der Druck ist heute bedeutend größer, so dass auch die Verelendung schneller wachsen wird.

Zudem werden die direkten Angriffe des Kapitals auf die Arbeitsbedingungen schärfer ausfallen. Dazu zählen Massenentlassungen, Herabsetzung der Löhne, Erhöhung der Intensität der Arbeit, Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse.

Unter solchen Bedingungen werden selbst die Gewerkschaften kaum am „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“ ruhig sitzen bleiben. Zu groß sind die Eingriffe, zu groß die sich abzeichnende Not, zu groß wird der Druck von unten sein, die „konzertierte Aktion“ zu beenden. Die Not wird gewendet werden müssen. Der notwendige, objektive Verlauf der Krise zwingt die Arbeiterklasse, ihre eigenständige Rolle zu finden, sich selbst als Klasse mit eigenständigen Interessen und Zielen zu begreifen. Um auf der Bühne der Geschichte selbständig politisch agieren zu können, wird sie ihre eigenen Kampf- und Machtorgane entwickeln müssen. Sie wird nicht um den Versuch umhin kommen, das Krisendrama in eine Tragödie für das Kapital umzuwandeln. Erst durch tief greifende ordnungspolitische Änderungen kann sie die Krise auf Dauer lösen. Eine radikale Opposition in Gestalt einer wirklich sozialistischen Massenbewegung zeichnet sich ab.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite